Renate Solbach: Sonnenaufgang

 

(2) Die allmächtige Lehre

Wie oft hörten wir in deutschen Hörsälen oder lasen auf Losungen diesen Satz: »Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.« Sein Autor, wurde gesagt, sei Lenin. Nur hat er diesen Satz eben nicht in deutscher Sprache geschrieben oder gesprochen. – Die russische Sprache, seine Muttersprache, aber kennt für »Wahrheit« zwei Worte: »Istina« und »Prawda«. Und keines von beiden finden wir in Lenins russischem Satz, sondern er benutzt »Werno«, »Wera« – das aber heißt »Glaube«. Auch finden wir bei Lenin nicht das russische Wort für »allmächtig«, sondern »wsesilno«, das aber bedeutet »sehr stark« oder »Anziehungskraft«.

Kurzum: Eine adäquate, sinnvolle und präzise Übersetzung des Lenin-Satzes »Utschenije Marksa wsesilno, potomuschto ano wern« kann daher nur lauten: »Die Lehre von Marx ist deshalb so stark, weil wir an sie glauben.«

Am 25. März 2017 verstarb in Moskau, 102-jährig, Theodor Iljitsch Oiserman, ein ukrainischer Jude aus Tiraspol in Moldawien. Er war Mitglied der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Einmal durfte ich einen seiner vielen Vorträge in der DDR übersetzen und war tief beeindruckt vom subtilen Umgang mit seiner Muttersprache. Oiserman war der einzige mir bekannte marxistische Philosoph Rußlands, der sich bis ins hohe Alter die Fähigkeit bewahrt hat, in einer großen Anzahl von Büchern und Aufsätzen die Fehler seines politischen und philosophischen Denkens zu reflektieren. Aber bis zuletzt hat er sich wohl am meisten geärgert über jenen Umgang mit Lenins Satz über Allmacht und Wahrheit der Lehre von Marx. Er hat diesen Spruch lediglich als politische Losung, als Kalenderblatt oder bloß »pathetische Sentenz« gelten lassen wollen.

Dabei muss man sich eben auch die Umstände in Erinnerung rufen, als Lenin jenen Satz über den Glauben an Marx’ Lehre formuliert hatte: er stammt aus einem Aufsatz von 1913 in der von Maxim Gorki herausgegebenen Zeitschrift »Aufklärung«. Gorki war in diesen Jahren der Kopf einer Bewegung, die die »Gottsucher« genannt und von Lenin scharf kritisiert wurden. – Es war der Grundgedanke Gorkis, dass die sozialistische Idee, der Marxismus, in Russland nicht die geringste Chance hätte, wenn er nicht die Verbindung mit den sozialen Vorstellungen des russisch- orthodoxen Glaubens sucht und findet. Gesucht war also eine religiöse Form der sozialistischen Idee. Lenin wusste so gut, wie sein streitbarer Freund Maxim Gorki, dass es seit den Tagen von Jeanne d’Arc keine große geschichtliche Bewegung gegeben hat, die nicht das Element des Glaubens in ihrer Programmatik gehabt hätte. Die marxistische Bewegung bildet da keine Ausnahme. Ihre Ziele würden nicht erreichbar sein ohne die große Anteilnahme der Massen, die an diese Ziele glauben. Das und nur das war das Geheimnis von Lenins Satz, dass der Marxismus dann und nur dann stark ist, wenn die Menschen an ihn glauben. Das war mentalitätsgeschichtlich nicht neu, Lenin hat hier nur eine alte Lebenserfahrung aktivieren wollen. Die Menschen sollten bestärkt werden in der Überzeugung, dass, wenn sie gemeinschaftlich an etwas glauben, es auch zu schaffen in der Lage seien.

Nebenbei: natürlich blieben alle philologischen und kontextualen Vorschläge zur Emendation dieser Textstelle, die wir immer mal aus Leipzig an die deutsche (DDR-)Redaktion der Lenin-Werkausgabe gerichtet hatten, unbeantwortet und unberücksichtigt.

 

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