Ralf Willms
Ihm machen Unterweltfiguren keinen Graus.
Theodor Däubler

Folgende Situation: A traf B nach Jahrzehnten wieder. Beide kannten sich aus der Jugend – so weit, dass Sympathie und Mitgefühl aufgebaut werden konnten, ein tiefes ›Bild‹ sich für den andern einstellte. Beide waren, bei diesem Wiedersehen, über den anderen entsetzt. Grund für das ›Entsetzen‹ war das Gefühl – in dem Sinn, dass der jeweils andere in diesem kaum wiederzuerkennen war. Gefühl meint hier die ›ganze Art‹, die Grundkonsistenz und Grundbewegung eines Menschen. Bei beiden, von denen beispielhaft die Rede ist, ließe sich das so sehen: Dort, wo in der Jugend wesentlich Gefühl wahrnehmbar war – mehr oder weniger geistig unterlegt –, war bei dem Wiedersehen umfänglich das Geistige. Ein Wort, über das große Missverständnisse kursieren. Es kommt, nehmen wir den Zweifelfall, mitunter so zum Ausdruck: schroff, nicht unbedrohlich, konzentriert, hochverdichtet, wortkarg, zuweilen unangenehm. Es weist andere Seiten auf, die, wenn sie erscheinen, auch spürbar werden: Milde, Weisheit, Großräumigkeit, viele mehr.

Was ist nicht gemeint mit «dem Geistigen«?
Gemeint ist nicht das bloße Absolvierthaben eines Studiums; Tätigkeiten in einem funktionalen helfenden Beruf, so sinnvoll sie gegebenenfalls sind; oder etwa die allgemein verbreitete Art, über Technik aufzuklären.

Gemeint ist
ein geistiger Weg – der herauszufinden sucht, was dem Menschen essentiell guttut und was nicht, um es so kategorisch zu sagen.

Doch das Geistige und seine Realisierung und Einlösung in der eingangs erwähnten Begegnung hat Zusatzfaktoren, um die niemand umhinkommt, verschieden ist nur das Ausmaß sowie der Umgang damit: Enttäuschungen; was im Leben zu verkraften ist; Tode; der Zustand der Welt; Andersartigkeit und Rücksichtslosigkeit bzw. Eigenständigkeit der Nachgeborenen; oder etwa: die Gedächtnislosigkeit des Universums. Kurz: All jenes, das ebenso gedanklich wie affektiv zu verarbeiten ist und das Grundgefühl einer Jugend verdrängen kann und verdrängt.

Ist das nun zu bedauern oder gar zu beklagen?
Sicher. Weil Gutes, das im Anfang war, irreversibel verschwindet.
Und zugleich ist dieser Prozess in einem bestimmbaren Sinn nötig, erleichternd, sagen wir: der Fortschritt schlechthin. Warum?

Weil das Geistige, wie es hier verstanden wird, die Erschließung und Erwerbung von Richtigkeit ist – also in dem Sinn, dass etwas wirklich gut für die Existenz ist. Zu der misslichen oder fruchtbaren Debatte, was richtig und gut sei und was nicht, ob nicht doch etwa die Führung eines Krieges dazugehöre, sei an dieser Stelle wenigstens gesagt, dass sich die Dinge weit mehr eingrenzen lassen und bestimmbarer sind als es mancher meinen möge.

Der geistige Weg – also der über einen langen Zeitraum eingeübte Erwerb dessen, was nicht nur subjektiv richtig ist, sondern auch objektiviert standhalten kann oder wenigstens ›transparent‹ gemacht werden kann – beinhaltet ab einem bestimmten Punkt eine Art der Festigkeit, die ein Gegenteil von «starr« ist, an der alles Falsche abblitzen kann und abblitzt. Das zu sich gekommene Geistige lässt sich von allem Falschen kaum mehr, letztlich: nicht mehr beeindrucken.

Ein gewisses Gegenteil stellt das Leben aus dem Gefühl dar. Nun ist Gefühl an sich nicht zu negieren, im Gegenteil! Doch ein Leben primär darauf zu gründen, würde bedeuten, Schwankungen ausgesetzt zu sein, die nicht guttun, Anfälligkeiten aufzuweisen, Abhängigkeiten. Etwa: Den jeweiligen Wunden, die in einem Menschen aufsteigen und zum Leben gehören, unnötig weit die Tore zu öffnen.

Dieses «Geistig-Eiserne«, um es einmal so zu bezeichnen – aber nicht Harte, Starre –, das einer Gefühlsoffenheit an geeigneten Stellen zuspielen sollte, kann, und darum geht es, alles bannen: Konflikte, Stigmatisierung, Zersetzung, Dummheit, Ridikülität, Idiotismus, Texte und Menschenverhalten, Urteile aller Art.

Das Geistige, in dem Sinn, bietet also den nötigen Schutz, wirkt zunächst einmal präventiv gegenüber dem, was nicht oder nicht mehr gewollt wird, nicht erträglich ist; und, vom Geistigen aus betrachtet, sind dies Dinge und Muster, die weite Teile auch dieser Gesellschaft kennzeichnen.

Das so verstandene Geistige kann also den Weg ebnen: für das Gefühl. Soweit es im Leben eines Menschen vorhanden ist. Kann dem Einlass gewähren, womit sich wirklich zu leben lohnt.

  

 

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