Renate Solbach: Sonnenaufgang

 

(7) Unser Prorektor

Wenn in der Fakultät bei wichtigen Sachen die Rede auf den »Oberst« kam, dann wusste man, dass der Prorektor unserer ehrwürdigen Leningrader Universität – die älteste Russlands, sie wurde im Geburtsjahr Immanuel Kants 1724 gegründet – gemeint war. Der »Oberst«, das war Sergej Iwanowitsch Tulpanow (1901-1984). Er war seit Ende der Zwanziger Berufssoldat. Im Oktober 1945 wurde er in die Sowjetische Militäradministration in Deutschland [SMAD] berufen; hier übernahm er die Abteilung für Kultur und Information. – Nach vier Jahren, kurz vor Gründung der DDR, wurde er entlassen. Beim Chef der Staatssicherheit, Abakumow (1908-1954) ging eine Denunziation ein, die ihn als zu ›germanophil‹ auswies. Es hätte ein Glücksfall für den unglücklichen neuen Staat ›DDR‹ sein können, wäre Tulpanow weiter an der Umwandlung der ›Sowjetischen Besatzungszone‹ in so etwas wie einen ›Staat‹ beteiligt gewesen. Seine Weisungen an die deutschen Genossen (zusammengewürfelt aus KZ-Überlebenden, aus Exilanten und politischen Schwärmern) zur Vorbereitung einer eigenständigeren ostdeutschen Politik zeichneten sich aus durch Maßhalten, Konkretheit und Machbarkeit. Es war bekannt, dass, wenn Walter Ulbricht ein Sowjetpapier bekam, er immer die Frage stellte, aus welchem Sowjetbüro das herkommt: Kommt es von Tulpanow, oder von wem? Er war erst beruhigt, nachdem er gehört hatte, Tulpanow sei der Absender. Beide standen, nicht zuletzt deswegen, in diesen Jahren in einem sehr guten, fast freundschaftlichen Einvernehmen. Unter der Federführung Tulpanows wurden in der SMAD die Linien für eine antifaschistisch-demokratische Lebensordnung im Osten Deutschlands skizziert. Leit- und Vorbild für das neue Deutschland sollten die außerordentlichen Leistungen der deutschen Nation auf den Gebieten von Wissenschaft und Philosophie, Literatur und Kunst in ihrer bisherigen Geschichte sein. Der Oberst trug den Namen eines Kulturoffiziers mit größter Berechtigung. Er war als Mann von Kultur bis hinein in seine Sprache erkennbar. Wobei den Leningrader Russen überhaupt nachgesagt wurde, das beste Russisch im Lande zu sprechen.

Er wurde im September 1949 von zwei Bütteln Stalins, von Malenkow (1902-1988), seit kurzem Mitglied des Politbüros, und von Suslow (1902-1982), Chefredakteur der ›Prawda‹, nach Moskau zurückgerufen. – Als oberste Regierungsgewalt in Deutschland unterstand die SMAD formell Stalin direkt. Im Alltag aber versuchte jede Moskauer Behörde, die sich irgendwie für Politik, Ideologie und Geschichte zuständig fühlte, in der Politikgestaltung in Ostberlin, an dem, was sie »Sowjetisierung« nannten, mitzumischen. So entstand eine Situation von Konfusion, Willkür, Nischenwirtschaft und Intrige. Über allem wachte das KGB… Tulpanow wurde von diesem Organ regelrecht und systematisch verfolgt. Er stand unter ständiger scharfer Beobachtung. Nicht nur er, auch sein Vater Iwan (1938) und Mutter Elsa (1940) wurden schon von den Organen Berijas (1899-1953) terrorisiert. – Die Auseinandersetzungen, die Tulpanow in den 40er Jahren zu bestehen hatte, vor allem mit seinem Kollegen Wladimir Semjonow (1911-1992), Politkommissar der SMAD, einer Kreatur des Generalstaatsanwalts des Großen Terrors, Andrej Wyschinski (1883-1954), waren lebensgefährlich. Semjonow war ein Einpeitscher des ›Kalten Krieges‹ auf der sowjetischen Seite; die sog. Berlin-Blockade geht hauptsächlich auf seine Kappe. Und auch das gehört zu den Kapriolen der Geschichte: Wie Semjonow 1948 Josef Stalin in deutschen Fragen beraten hatte, so beriet er vierzig Jahre später nun auf dem gleichen Gebiet Helmut Kohl. Mit der Herstellung der Einheit wurde er sowjetischer Botschafter im vereinigten Deutschland, noch mit dem Sitz in Bonn. Hier starb er auch, an einer Lungenentzündung, sagt man

Tulpanow genoß eine außerordentliche Sympathie, ja Zuneigung, bei vielen Kulturschaffenden in Berlin, im Theater, an Hochschulen. Ihn verbanden Freundschaften, beispielsweise mit Otto Grotewohl (1984-1964), erster Premier der DDR, und Jürgen Kuczynski (1904-1997), Mitglied der DDR-Akademie der Wissenschaften, die auch nach seiner Rückkehr in die Heimat, weiter bestanden. In seinen Jahren als Professor an der Leningrader Universität brachte Tulpanow ein Buch heraus, das offenbar von Kuczynski angeregt worden war: »Die Fabriken und Betriebe der Stadt Leningrad«.

Die Untersuchungen, die seit 1949 gegen ihn geführt wurden, zogen sich mehrere Jahre hin. Sie fanden erst im Sommer 1953 ihr Ende, als Chruschtschow die Berija-Gruppe erschießen ließ. – Das Jahr 1954 sieht Tulpanow dann schon als Prorektor der Leningrader Universität, als Professor an der Ökonomischen Fakultät, mit dem Lehrstuhl »Der Kapitalismus der Gegenwart und die Entwicklungsländer«. Er ist bald auf seinem Gebiet auch international bekannt und durch viele Publikationen ausgewiesen.

Von dem Prorektor Tulpanow hörte ich zuerst im Frühjahr 1956. Wir, Studenten aus den sozialistischen Ländern, wurden eingeladen zu einer Veranstaltung, auf der das Referat von Nikita Chruschtschow in der ›geschlossenen‹ Sitzung des XX. Parteitages über Stalins Personenkult vorgelesen werden sollte. Die Einladung war ausgesprochen worden vom Prorektor der Universität, Tulpanow. Wir wussten damals noch nicht, welcher Mut dazu gehörte, hier die Öffentlichkeit zu suchen. Die Leningrader Universität blieb mit diesem Vorstoß in Richtung auf das, was man dreißig Jahre später ›Glasnost‹ nennen wird, allerdings allein. Die Leute in der DDR um Hager missbilligten das Verhalten des Leningrader Prorektors auf das schärfste.

Tulpanow ließ sich davon nicht beeindrucken. Er hielt es für notwendig, die an seiner Universität eingeschriebenen Studenten, ohne Ausnahme, in Fragen der aktuellen Politik einzuweihen. Das schloss die sogenannten »Geheimnisse« ein. Er verfolgte damit ein Prinzip, das für ihn schon in der SMAD galt. Menschen gewinnt man nur, wenn man offen und ehrlich mit ihnen über alle sie interessierenden Fragen spricht. Anders geht es nicht. – Diese Verlesung der Rede Chrustschows wurde in der berühmten Aula der Leningrader Universität gehalten, in der schon Nikolai Bucharin (1888-1938) sehr häufig und gern gesprochen hat. Der allerdings wurde erst in der Ära Gorbatschow rehabilitiert…

Das alles hatte für uns Leningrader Studenten aus der DDR allerdings gravierende Folgen: es kam zu einem Beschluss des ZK der SED, dass alle Studenten, die an der Leningrader Universität studiert hatten, vor ihrem Einsatz an einer deutschen Universität ein Jahr in der materiellen Produktion zu arbeiten hätten, damit eine Umerziehung durch die Arbeiterklasse erfolgen konnte. Das Gift des XX. Parteitages musste wieder raus aus den Köpfen und das ging nur auf diese Weise, dachten sie. So kam es, dass ich 1958/59, statt mit Vorlesungen zu beginnen, nun im Leipziger Betrieb VTA (Verlade- und Transportanlagen) als Hilfsarbeiter tätig war. Die Arbeiter waren mir für meine Erzählungen über den XX. Parteitag dankbar und haben mir eine gute Beurteilung meiner Arbeit im Betrieb geschrieben. Diese Beurteilung ist für mich heute genauso wichtig, wie mein Magna cum laude-Diplom von der Leningrader Universität.

 

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