Köln, den 23. Januar 2010

 

Lieber Herr Bauer,

dass zwischen dem Ungeschriebenen und dem Ungesagten – vom Ungedachten einmal zu schweigen – ein enger Zusammenhang besteht, liegt nahe, vor allem, weil beide den Gegenstand eines ähnlichen Bedauerns bilden. Was ungeschrieben und folglich ›im Text‹ ungesagt bleibt, erregt ein Interesse, das dem am Verbotenen nur wenig nachsteht: Warum, so kann ein Leser sich fragen, wurde es denn nun verschwiegen? Darf man Gründe wissen oder sind sie geheim oder aus wieder anderen Gründen nicht mitzuteilen? Wie verschwiegen ist das absichtsvoll Verschwiegene? Muss man es sich zum Gesagten hinzudenken oder liegt hier der sichere Weg zur Paranoia? Reden und Schweigen bilden eine kommunikative Einheit, die oft beschrieben wurde. Das Ungeschriebene, wie ich es aufgefasst habe, zielt auf den Mechanismus der Wahl, der im Hervorbringen tätig ist – sicherlich in jeder Rede, doch nicht in gleicher Intensität: wer so gespannt artikulieren wollte wie jemand, der um einen Vers, um einen Gedanken oder um sein Leben schreibt, der geriete rasch ins Taumeln, er käme mit seiner Rede zu keinem Fortgang und müsste, wäre es ihm mit seinem Unterfangen ernst, an jeder beliebigen Stelle abbrechen. Um diese Intensität war es mir zu tun, um ihr Innenleben, wenn Sie so wollen, und kaum um mehr. Dagegen wäre das Ungesagte etwas, das sich leicht formulieren ließe, hätte der Redende nur die Absicht, es mitzuteilen (und fiele es ihm an der entsprechenden Stelle ein), oder aber es kann auf keine Weise gesagt werden, weil sich an der Stelle die Sprache der Mitteilung verweigert.

Diese Rede ist mehrdeutig, sie schiebt der Sprache die Verantwortung für die Lücken zu, die sich in jeder Rede auftun, als sei sie eine selbsttätig wirkende Instanz, was sie in mancher Hinsicht wohl auch ist. Und sicher ist es ein großer Unterschied, ob sie sich einer bestimmten Person oder Personengruppe in einer konkreten Situation oder Konstellation verweigert oder ob sich etwas ›in Sprache‹ nicht ausdrücken lässt – man fragt sich, in welchem ›Ausdrucksmittel‹ denn dann, aber die Ausdruckskünstler sind da in der Regel nicht wählerisch. Der Unterschied kollabiert aber, wenn man ihn praktisch betrachtet, da die Situation der Rede es nicht erlaubt, die Möglichkeiten der Sprache auszuloten. Wer redet, schweigt nicht, sondern verschweigt. Er balanciert auch nicht auf dem Grat zwischen dem, was sich in Sprache mitteilen lässt, und dem, was immer ungesagt bleibt, sondern bewegt sich inmitten der sprachlichen Möglichkeiten, die ihm und seinen Zuhörern zu Gebote stehen. Wenn er etwas nicht mitteilen kann, dann deshalb, weil er es nicht weiß oder weil er es nicht mitteilen darf.

Das mag im Einzelfall viele Gründe haben. Gemeinsam ist ihnen allen der soziale Faktor: was immer es an Gründen geben mag, die mir gebieten, zu bestimmten Punkten zu schweigen, sie sind eingebettet in die soziale Motivation der Rede, sie sind Teil ihrer sozialen Funktion. In diesem Sinn kann man sagen, dass jede Rede aus dem Verschweigen hervortritt und mit ihm verbunden bleibt. Das gilt auch dann, wenn jemand hin und wieder ›das Schweigen bricht‹ – ein etwas mafiöser Ausdruck, der, abgesehen von persönlichen Schuldbekenntnissen, gewöhnlich dem Tabubruch vorbehalten bleibt. Ein solcher Tabubruch liegt dann vor, wenn einer die Regeln, die innerhalb einer Gruppe oder Gemeinschaft von ›Sprechern‹ herrschen, verletzt und etwas ›zur Sprache bringt‹, das gemäß diesen Regeln dort nicht hingehört. Es liegt auf der Hand, dass auch der Tabubruch sozial motiviert ist. Es muss schon einen Sinn ergeben, wenn ich mich darauf einlasse, den Schutz der Gruppe aufzukündigen, indem ich mich außerhalb ihrer Kommunikationsgepflogenheiten bewege. Der Zweck, wie immer, kann nur darin liegen, dass ich mir Gefolgschaft zu verschaffen versuche: Mitstreiter, denen die Information oder auch ihre bloße Artikulation Handlungsspielräume eröffnet, die sie vorher nicht besaßen. Eine Gesellschaft lebt nicht vom Tabubruch, aber sie bedarf seiner von Zeit zu Zeit, um sich zu erneuern.

Man denkt dabei unwillkürlich an Chruschtschows Geheimrede von 1956, die, statt die Stalinsche Perversion des Sozialismus zu beenden, Grundlagen für ein erneuertes autokratisches Regime schuf. Ein anderes Beispiel wären Huntingtons Ausführungen über den Clash of Civilizations von 1996, die innerhalb der Medienkultur die Funktion öffentlicher Rede erfüllten. Der ›differenzierte Widerspruch‹, den sie entfachten, markiert im Nachhinein den westlichen Weg in eine Verfassung, die von der anderen Seite wohl nicht ohne Grund mit dem Begriff des Kreuzzugs verbunden wird. Bedeutsam ist also, wie der Tabubruch aufgenommen wird. Die Gesellschaft unterscheidet hier strikt: so sehr sie den kalkulierten Tabubruch (im nachhinein) schätzt, so entschieden sanktioniert sie im unkalkulierten sein hässliches Gegenstück. Der Wohlgeruch, den der erfolgreiche Tabubruch in der Gesellschaft verströmt, ist ohnegleichen. Nur so kann man verstehen, dass erfolgversessene Gesellschaftsexperten jahrzehntelang Zeit und Geld (inklusive Forschungsaufträge) auf der Suche nach dem nächsten brechbaren Tabu konsumieren. Kuhns Lehre vom Paradigmenwechsel, Foucaults Lehre von den Diskursformationen waren zu ihrer Zeit wirkmächtige Anspitzungen des Problems, das der erfolgreiche Tabubruch für seine Interpreten und Adepten bereit hält, bevor die konzeptionalistische Rede der Projektanträge jede weitere Denktätigkeit an dieser Stelle überflüssig erscheinen ließ. Man nenne mir etwas, das bisher ungesagt blieb, und ich werde die Welt der verstatteten Rede aus den Angeln heben.

Diese ›Kultur‹, lieber Herr Bauer, hat Ihre und meine Jahrgänge vielleicht tiefer geprägt als alles andere, jedenfalls in intellektueller Hinsicht. Unwillkürlich suchen sie nach dem Tabu, sobald ihre Nachforschungen oder die Lebensverhältnisse, wie sie sie sehen, ins Stocken geraten. Sie nennen es nicht mehr Tabu, so wie sie insgesamt nicht mehr die Sprache der frühen Jahre verwenden, sie haben gelernt, sie zu maskieren, manchmal blitzt etwas davon wieder auf und mancher denkt, es könnte einmal wieder an der Zeit sein, darauf zurück zu kommen. Und wirklich haben sie eine Reihe neuer Tabus in das gesellschaftliche Leben eingeführt, von dem das akademische nur ein kleiner Teil ist. Einiges davon nennt man in beschönigender Rede ›Sprachregelung‹, wenn man es nicht vorzieht, der ›political correctness‹ den Schwarzen Peter für alles Inkorrekte zuzuschieben. Undenkbar, so etwas auszusprechen: das ist die Formel für das Tabu, das ununterbrochen beredet, das ununterbrochen besprochen sein will, das sich aus dem von vornherein konzedierten Tabubruch nährt. Vieles lässt sich im Modus der Verneinung aussprechen, was im Medium offener Rede verpönt ist und den Übeltäter den einschlägigen Sanktionen unterwirft. Man kann darüber prächtig kommunizieren. Einiges an dieser Art der Verständigung erinnert an das aus virilen Kneipennächten bekannte Diktum: Wir Männer sind schon Schweine. Sind wirs? Sind wirs nicht? Wer will das wissen? Wer kann das wissen? Die armen Schweine dauern einen, doch das ist bekanntlich ein anderes Feld. Vielleicht sollte man dieses Tabu mit einem anderen Ausdruck bezeichnen. Aber damit würde man ihm etwas nehmen: den Anspielungsraum, den die Vokabel eröffnet, und damit die kulturelle Dimension, in der diese Vorgänge spielen. Eine aufgeklärte Gesellschaft kennt keine Tabus, sie praktiziert sie. Sie praktiziert sie durch Aufklärung und kann das sogar erklären – durch Aufklärung. Die moderne Gesellschaft baut auf das Tabu. Unsäglich ist ihr der vormoderne Rest, den sie mit sich herumschleppt und auf keine Weise los wird. Das Tabu selbst ist ein solcher Rest. Die Einsicht in diesen Sachverhalt ist nicht umsonst zu haben, sie zerstört über kurz oder lang die Moderne, jede Moderne, und zwar unerbittlich. Aber sie erzeugt keine zweite oder dritte oder vierte Moderne, es wäre ›eher sinnlos‹, so zu denken, so wie es sinnlos wäre, die eingetretene Ernüchterung als zweiten Rausch zu deklarieren. Stattdessen ruft sie jene Empfindung auf den Plan, die nie allein daherkommt – es sei denn, man besitzt das Gemüt eines Selbstmörders –: ›Nichts geht mehr‹.

Was scheinbar nach der Moderne kommt – die Bezeichnungen dafür wechseln –, ist keine Nachmoderne, sondern ihre Verkehrsform, die anzuerkennen schwer fällt. Genauer: ihre allmähliche Anerkennung füllt, nach den Schlächtereien, die im Namen der Modernisierung durchgeführt wurden, die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts. Das Besondere an diesem Prozess liegt darin, dass er irreversibel ist und zu keinem Ende kommt. Nur als zerstörte lässt sich Moderne leben: ihr Egalitarismus, ihr Hedonismus, ihr Kollektivismus, ihr Singularismus, ihr Materialismus, ihr Utopismus, ihr Soziologismus. Mit all dem haben die Menschen ›umzugehen‹ gelernt, geschwätzig und wortkarg, glaubensbereit und skeptisch, im Kern unbetroffen und von einer Erregung in die nächste überwechselnd. Die Moderne ist jenes Schloss Kafkas, zu dem es den Fremden zieht, während die Dorfbewohner nur verschwiegene und zweideutige Beziehungen dorthin unterhalten. Dorfbewohner, die wir sind, blicken wir mit einer Mischung aus Trotz und Ängstlichkeit auf die Randgebiete des Reichs, in denen die Rechnungen mit offener Gewalt beglichen werden und wo der Aufruhr, der uns naiv und zukunftslos erscheint, aus der Unerträglichkeit der Verhältnisse aufschießt, die jede Okkupation durch eine fremde Macht mit sich bringt. Doch die Erde ist rund und die Randgebiete liegen nicht an den Rändern des bewohnten Erdkreises, sondern sind Enklaven des periodischen Zusammenbruchs der ›zivilen‹ Ordnung, die um den Globus wandern und heute hier, morgen dort erblühen. Nur das materielle Elend scheint zäher, gleichsam ortsfester, aber auch darauf ist kein Verlass.

Der Modernediskurs ist insofern aufschlussreich, als er die Verlegenheit aufdeckt, die etwa in der Rede von den ›entwickelten‹ Nationen, Gesellschaften, Ökonomien kodifiziert ist. Nichts kennzeichnet den gegenwärtigen Weltzustand mehr als der Begriff des Schwellenlandes: in ihm ist die Zukunft, die wir sind, zum Greifen nahe und immer wieder versagt, aufgeschoben, durch die nächste und übernächste Wirtschaftskrise, durch irgendeine politische Unbotmäßigkeit in die Distanz entrückt. Die Schwellenländer führen den Menschen in den entwickelten Zonen anschaulich die Moderne vor Augen, die sie leben. ›Schwellenmenschen‹: so könnte man sie nennen, wenn sie nicht bereits genügend markiert wären. Das moderne Tabu trägt dem Rechnung, es ermöglicht den Menschen, der nicht zurück will und sich lieber ›sein Los verdeckt‹ als sich einzugestehen, dass die Ökonomien, als deren Teil er sich begreift – angefangen beim ›System Erde‹ und noch lange nicht endend bei der Geschlechterökonomie –, ihn in eine barbarische, eine unentwickelte Existenz zurückstoßen, in der es ihn nach Solidarität dürstet, während er ihre Anmutung weit von sich weist. Dieses Gefühl des Zurückbleibens, der ›zu kurzen Arme‹ ist reell und funktional, weil es den Menschen suggeriert, sie bräuchten irgendwie mehr individuelle Kapazitäten, mehr Zeit vielleicht oder mehr verfügbares Kapital oder schlauere Gedanken, um der Weltverhältnisse Herr zu werden, um sie zu meistern, und es spielt dabei kaum eine Rolle, ob sie sich oder die Verhältnisse dabei ins Trockene zu bringen wünschen.

Man kann, was hier Moderne heißt, ruhig ›Gesellschaft‹ nennen, natürlich nicht die Gesellschaft irgendwelcher Leute, sondern ›die‹ Gesellschaft: jenes sonderbare Gebilde, das sich auf Kosten ganz realer Lebensordungen mästet und nichts abgibt. Man könnte sie auch die Organisation des Tabus nennen, die Zurichtung der Individuen zu allen Arten von Ökonomien, die keinen bestimmten Mittelpunkt haben und in denen prinzipiell jeder in jede Position verschoben werden kann. Dann wäre das Ungesagte das, was in der Gesellschaft nicht zu Wort kommt: es zu sagen wäre ebenso hässlich wie die Aussage gehässig. Vorbehalten bleibt es daher Bevölkerungsschichten und ›Subjekten‹, deren Rede nicht in Betracht kommt. Natürlich wird es gehört – und nicht nur gehört, es erzeugt einen mächtigen Nachhall in seinen Beschweigern. Aber: man kann ›es‹ so nicht sagen, um keinen Preis, es sei denn den der Selbstannihilierung der eigenen Rede und manchmal der eigenen Person. Wie man es sagen könnte, das ist die Preisfrage, an der sich alle versuchen, die durch das Wort zu leben versuchen, was unendlich einfach oder unendlich schwer ist. Man kann die ganze Fragestellung auch nach Art des robusteren Journalismus verschieben: dann steht der Westen – die ›westliche Gesellschaft‹ – gegen den Rest der Welt und fühlt sich bedroht und unterspült durch eine Woge, die mächtiger zu werden verspricht als das feste Land, als das er selbst sich verspricht. Gegen diesen Westen gehalten sind alle anderen Gesellschaftsformen ›fundamentalistisch‹, also gefährlich, also ein potentielles Zielgebiet für seine Eingreiftruppen. Und wirklich erscheinen sie dem Bewohner des Westens nicht besonders attraktiv, es sei denn, er sympathisiert mit den Privilegierten jener Länder oder er gehört zur Gemeinde der Kulturschwärmer. Man kann ihn also für mancherlei Arten von Kreuzzügen mobilisieren, was auch geschieht. Jedermann weiß um diese teils gezüchtete, teils reaktive Aggressivität, latent oder offen gezeigt, deren eine Spitze nach innen, deren andere auf die da draußen weist. Die da draußen sind aber keineswegs draußen, sie sind ein Teil des Ganzen und die Bedrohung, der sie sich ausgeliefert sehen, ist real und reell.

Ist es legitim, Gesellschaft und Tabu in diesen engen Zusammenhang zu rücken? Wird nicht, wer so redet, Opfer einer historischen Projektion? ›Erlaubt ist, was sich ziemt‹, sagt die Prinzessin in Goethes Tasso, sie könnte es noch heute sagen und würde, das veraltete Vokabular abgezogen, unmittelbar verstanden. Ich rede nicht vom Siegeszug der coolness und der political correctness, die stets hinreichend auffällig bleiben, um Hohn auf sich zu ziehen. Sie sind aber so etwas wie Angstlöcher der Gesellschaft: Schalter, an denen die Tickets ausgegeben werden, mit deren Hilfe sich die Leute ins ›Mitzählen‹ einkaufen. Solcher Angstlöcher gibt es mehr, die meisten davon tragen keine besonderen Namen, das Gros passiert sie kommentarlos und schweigt über den entrichteten Preis. Dabei könnte man ihn ruhig nennen, die Theorie kennt ihn und Therapeuten verdanken ihm ihr täglich Brot: die Fragmentierung der Person. Doch das ist sehr allgemein gesagt. Bezeichnenderweise ist jene Wunschmaschine, die Marx als Fetischcharakter bezeichnete, nicht bei der Ware und ihrer Surrogatfunktion stehengeblieben. Plausibler ließe sich vom Fetischcharakter der Gesellschaft reden, in deren kompakter Konsumform dem Einzelnen alles das erscheint, was er zu sein begehrt. Diese Konsumform ist keine Ware, sondern ›das Medium‹, das zwar auch seinen Preis besitzt, ihn aber in der älteren Form des Tributs einfordert. Angeschlossen zu sein ist die Weise des Dabeiseins derer, die nichts zu sagen haben – sei es, dass sie nicht gehört werden, sei es, dass sie nicht gefragt werden, sei es, dass sie ›keine weiteren Fragen‹ haben, weil ihre ›Karriere‹ ihnen ihr Verhalten diktiert.

Die Karriere – es ist ein weiter Weg von Ciorans ›Fresse des Arrivierten‹ zur heutigen career, die das Unterste der Gesellschaft mit dem Obersten zusammenschließt und die Menschen nach dem Paulinischen Motto, dass viele berufen, wenige aber auserwählt sind, im olympischen Doping-Geist zum Rennen bringt. Andererseits ist er nicht so weit, wenn man auf die menschlichen Ausfälle blickt. Der Unrat der bürgerlichen Familie hat den Rahmen dieser Institution gesprengt und ist zum Unrat der Gesellschaft geworden. Die Gesellschaft selbst ist eine Art Un-Rat, der bei ihrer täglichen Herstellung anfällt, sehr auffällig in den von ihr offerierten und ökonomisch-psychologisch flankierten Formen der ›Beziehung‹, in denen das Geschlecht die Leute zueinander treibt, aber es gibt andere, ähnlich deprimierende Beispiele. ›Reden wir nicht vom Menschen, reden wir von Systemen‹ – wer aus der methodischen Reduktion nicht das Tabu heraushört, der hat die Funktionalität erfolgreicher Theorien nicht begriffen, der weigert sich anzuerkennen, ›in welcher Gesellschaft‹ er sich befindet. Nun enthält die Rede vom Menschen selbst eine methodische Reduktion, aber eine älteren Datums, einen sentimentalen Merkposten. Die Weigerung, vom Menschen zu reden, ist also in zwei Richtungen obstinat. Überdies ist sie auf merkwürdige Weise durchlässig für andere, weniger heikle, deren Angelpunkt die Sorge ums tägliche Überleben, um die täglich abzurufende Sicherheit ist. Diese Rede wiederum ist so wenig heikel, dass sie beides von Grund auf kennt: die Menschen und die Systeme; das einzige, wonach es sie dürstet, sind Informationen.

Ist es wirklich das einzige? Die Dinge selbst sind durchlässiger als das Denken, das sie klassifiziert. Es fällt schwer, die Freiheitstruppe, die heute hier und morgen woanders den ungehörigen Gesellschaften ›den Weg in die Zukunft öffnet‹, als Okkupationsmacht zu begreifen – man sollte es zulassen, dass dieser Begriff wenigstens hin und wieder ohne Angst und Widerwillen die Bekenntniszonen passiert. Man sollte das Schweigen verstehen, das aus der Besorgnis entsteht, ›die anderen‹ könnten ›unsere‹ Sendung missverstehen. Diese Besorgnis ist das Residuum des westlichen Menschen, den es so nicht gibt, es sei denn im Wunder seiner täglichen medialen Auferstehung. Auf den Streifzügen durch die exotischen Gefilde der Abundanz aus Freiheit ist dieses merkwürdige Wesen gehalten, vieles ›für sich‹ zu behalten, was ihm nicht besonders eigen vorkommt, ganz und gar nicht – es greift hin und wieder in die Luft, als käme es von dort oder wollte sich dorthin verflüchtigen. Es müsste mehr Zeit haben, um sich zu artikulieren, dabei verfügt es über alle Zeit des Planeten und zieht seinen Nutzen daraus. So lebt es unter diesem merkwürdigen Gesetz des Schweigens, aus dem gelegentlich die ›irre‹ Gewalt aufschießt, um gleich wieder erstickt zu werden. Nur der Einzelne, aus dem sie kommt, wird beiseitegezerrt und weggeschlossen, wenn er sich nicht bereits selbst beseitigt hat. Wer schreibt, weiß es nicht besser, er weiß es anders. Dieses Anderswissen ist tentativ, nicht strategisch, es holt das Ungesagte hervor und legt es beiseite, es kommt ihm, ehrlich gesagt, zu vertraut vor und zu wenig ungesagt, es dröhnt ihm gewissermaßen in den Ohren und tut ihm weh. Er kann und will es nicht verleugnen, aber er verschiebt es in die Distanz all dessen, was einer sagen kann, der sich um Kopf und Kragen oder in sie hinein reden will. Dieser Wille ist dem Schreibenden fremd. Nicht zu fremd, um da kein Missverständnis aufkommen zu lassen, er kennt ihn wohl und ist seinen Anmutungen ausgesetzt. Aber er hat sich zu entscheiden oder hätte es, wenn er sich nicht längst entschieden hätte, so dass es ihm vorkommt, als sei über ihn entschieden worden, im Unvordenklichen, wo denn sonst.

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