Die Bücher, sagte sie unvermittelt, sind der Menschen
leid geworden : sie sind heimgekehrt,
müde vom Zwang zu erfinden. Ihre Selbsttäuschung hat die Seiten
gebleicht, die geisterhafte Harmonie ihrer Rücken,
sagte sie, macht mich wahnsinnig, ihre Ruhe,
die getrocknete Lava aus Schweiß und Gedächtnis,
und dazwischen ein weißes Geheimnis :
ein schmerzend weißes Geheimnis, sagte sie,
das Dir die Augen ausbrennt.

Die Rede ist von einer weiblichen Person, die sich mit Vehemenz vom schriftlichen Wort abwendet. Die Ruhe, die davon ausgeht, mache sie «wahnsinnig«, es ist von «Zwang« und «Selbsttäuschung« die Rede und schließlich von einem «weißen Geheimnis«, das dazwischen liegt und «Dir die Augen ausbrennt«. Es liegt nahe anzunehmen – als eine Möglichkeit –, dass im «weißen Geheimnis« die Schneemetapher enthalten ist, Schnee, in dem etwas erfrieren und umkommen kann. [Anm.: Sofern eine Forschung zu dem Gedicht besteht, sie ist mir nicht bekannt.] Wie sehr die Person von diesem «Geheimnis« affiziert ist, kommt etwas später zum vollen Ausdruck:

Ganz langsam wolle sie, sagte sie, über die Seiten rutschen,
über den Text zurück in die Rede,
und dann wolle sie über den Rand kippen mit einer
ungeheuerlichen Explosion :
auf diese Weise wolle sie die Sprachlosigkeit zum Reden
bringen, zum Kreischen

Es handelt sich um Aufbegehren nicht nur, wie eingangs ersichtlich, gegen das verschriftlichte Wort, sondern wohl allem gegenüber, das eine starre oder feste Form angenommen hat und nicht mehr zum Zustand der Person, zu ihrer jüngsten Entwicklung passt. Das Aufbegehren ist so gewaltig, dass es mit einer «ungeheuerlichen Explosion« zusammengebracht wird, auf diese Weise soll die «Sprachlosigkeit zum Reden […] zum Kreischen« gebracht werden. Worüber, wird im Text verschiedentlich angedeutet (und findet sich zusammengefasst im «weißen Geheimnis«), und zugleich wird es so sein, dass es die im Gedicht Sprechende ins Leben, in ihr Leben drängt. Und zwar nach einer langen Leidensstrecke, die also ihren Siedepunkt erreichte und nun weiter darüber hinaus schießt. Dies gipfelt in den resümierenden Zeilen:

Die ständigen Verletzungen haben unser Gehirn
paralysiert, sagte sie, die Verletzung der Hirnlappen usw.
ist geradezu genetisch fixiert, deshalb der Verlust
von Zukunft, deshalb die Unfähigkeit, Utopien auszudenken.

Mit dem «Verlust von Zukunft« dürfte zunächst einmal gemeint sein, selbst auf Gegenwart quasi reduziert zu sein und im Grunde keine Hoffnung darüber hinaus mehr zu haben. In diesem Zustand kann sich «nichts mehr« ausgedacht oder ausgemalt werden, kein Horizont mehr wahrgenommen werden. Das ist der Punkt. Die sprechende Person möchte ihr zurückliegendes Leben – vorläufig oder ganz – zu einem gewissen Abschluss bringen und etwas möglichst grundlegend Neues beginnen. So heißt es dann:

Sie müsse augenblicklich das Zimmer verlassen, sie müsse
sofort unter Menschen, sie müsse raus aus diesen Geschichten.

Das Ich kommt aber offensichtlich zu der Einsicht, obgleich sie nicht benannt wird, dass das so dringend benötigte Heilvolle nicht in einer weitläufigen Außenwelt mit «irgendwelchen Menschen«, die dort einhergehen, zu suchen sei, nicht in einer Reise, sondern zuerst durch radikale Wandlung im Innern erreicht werden kann. So kommt es zu der Äußerung:

Die Reise sei für sie zu Ende,
es lohne sich nicht, die Reise fortzusetzen.

Mit noch einigen beschreibenden Worten, die sich darin einfügen, klingt der Text aus. Gesagt wird nicht mehr, was naheliegt: Die Person sehnt sich im Zuge von Erneuerung nach einer Welt, und im engeren Sinne kann dies natürlicherweise ein Mensch sein, der etwas grundlegend Heilvolles in einer auf sie bezogenen Weise bereithält. Und zwar ausgehend von der eignen, auf eine Spitze getriebenen Entwicklung! Das zuhörende und zuweilen kommunizierende zweite Ich im Text scheint dies nicht hinreichend zu erfüllen. Zu problematisieren wäre dabei, inwieweit eine solche Einlösung mit einem Menschen beziehungsweise überhaupt begehbar ist.

 

 

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