Tod durch Bewegung – so könnte die Diagnose lauten, blickt man auf die unter dem Druck medialer Verschiebungen aufgewühlte Ideenlandschaft im globalen Kampf der Kulturen, der sich längst als Kampf der Unkulturen ins Bewusstsein der Leute eingeschrieben hat. Der Paralyse der Ideen entspricht das massenhafte Sterben der Menschen in den sich rapide ausbreitenden Problemzonen einer sich großflächig delegitimierenden Politik, die, unabhängig von der kammerkulturellen Begleitmusik, unverrückbar am ökonomischen Wohlergehen einer dünnen Schicht von Besitzenden ausgerichtet ist. Dass die Hoffnung zuletzt stirbt, kann als schöner Traum durch drei Mausklicks erledigt werden: es ist die ›irre‹ Hoffnung, die sich am Sterben mästet und sterbend mit sich reißt, was immer in ihren Streubereich gerät.

Nichts hat, nach ›Stahlgewittern‹ und Bombenkrieg, die kollektive Wahrnehmung des Sterbens so verändert wie die Geschichte des Videoclips und seiner Verfügbarkeit durch das Internet. Dass auch hier Täuschung im Spiel ist, darüber belehrt ein Blick auf die Statistik der Todesursachen: das stille, nur als Zahl in Betracht kommende Sterben überwiegt, wie immer, bei weitem die spektakulären Ereignisfolgen. Wer die Einbildungskraft der Menschen beschäftigt, entscheidet über ihre Zukunft, wer ihnen zeigt, wie auf dem Planeten gestorben wird, gewinnt Zugang zu ihren geheimsten Neigungen und Ängsten. Auf diesem Klavier spielen viele Akteure, seit die Produktionskosten gegen Null tendieren, steigt ihre Springflut von Tag zu Tag. Das gilt für die materielle wie für die ideelle Seite: ein Gedanke, den zu begreifen Mühe bereitet, verträgt sich weder mit der Mühelosigkeit des Dokumentierens noch mit der Massentauglichkeit des Konsumartikels: er ist, im strengen Sinn, outdated.

Gestorben wird immer, ausnahmslos unter allen Umständen, mit allen Mitteln. Dieser anthropologische Basisbefund lässt sich verfeinern. Seit die Ereignisse ihre Botschaften selbst fabrizieren und damit die klassischen Medien zu einem Club von Hochgeschwindigkeits-Sammlern und -Fälschern degradieren, denen jeder Besitzer eines Mobiltelefons, also jeder, eine Nase drehen kann, ist ein Gedanke bereits gestorben, bevor er Gelegenheit bekam, sich zu entfalten und die ihm eigentümliche Kraft des Begreifens öffentlich auszuspielen. Unter den Bedingungen der 360-Grad-Informationsgesellschaft hat sich der Horizont der menschlichen Dinge einmal mehr gewandelt. Das Soziale, zwischen paläographischen und kosmologischen Aufhängern trostlos geschaukelt, tendiert zum Gemetzel. Es ist diese Vorstellung, aus der die Laienschar der medial Wissenden ihre tiefste Befriedigung zieht. Das wäre, als Analyse, nicht neu, jedenfalls nicht so aktuell wie die Einsicht, dass sich jede Analyse erübrigt, wenn ihre denkbaren Resultate als fixe Überzeugungen die Spielfläche bereits im voraus bevölkern, Teilhabende des Gemetzels, im übrigen folgenlos wie alle anderen.

Die Lust am Untergang will sich, bei soviel Angebot, in der Masse der Zeitgenossen nicht recht einstellen. Das gilt gleichermaßen für die Hungernden wie für die Satten, die an Leib und Leben Bedrohten wie die scheinbar Abgesicherten. Eher lässt sich eine verbreitete Unlust am Untergang konstatieren, die den Kopf in den Sand steckt oder der Desinformation der globalen Manipulateure etwas entgegensetzt, das gleichfalls als Desinformation daherkommt, aber in seiner Struktur mehr dem ahnungslosen Gebrauch der klassischen Satire entspricht. Die Dinge durch Übertreibung zur Kenntlichkeit bringen, das Ferment jeder kritischen Theorie, ist, als Strategie, in die Hände der Smartphone-Benutzer übergegangen und zeitigt Resultate, die den geostrategisch angeleiteten Schrecken als Rationale des politischen Geschehens in jede Behausung lenken. Was dort mit ihm geschieht, ist die große Unbekannte. So wahr die wahrhaftigen Mörder und die wahrhaftig Gemordeten durch keine mediale Inszenierung aus der Welt geschafft oder als Ikonen des Symbolgeschäfts entmaterialisiert werden können, so sicher bleibt die in Nahverhältnissen gebundene Sorge ein Element der Beunruhigung für jede symbolgetriebene Politik, ihre Einbläser und Handlanger.

Gestorben wird immer, unter allen Bedingungen. Das klingt entsetzlich, aber es ist wohl nicht aus der Welt zu schaffen. Die Botschaften des Todes sind vielfältig und gelegentlich schwer zu verstehen. Am Ende – ›gegen Ende zu‹ – sind sie das, was zu verstehen sich lohnt. Es gibt kein Verständigtsein unter den Menschen, das diesen Bereich ausspart. Die Menschen leben in der Kultur und sterben in der Religion. Diese Verbindung scheint unauflöslich zu sein und gibt aller Religionskritik, so berechtigt sie in bestimmten Zusammenhängen sein mag, ihre komische Note. Heilig ist das, wofür einer zu sterben bereit ist. Ein solcher Satz macht misstrauisch, weil er ein Verführungs- und Missbrauchspotential anzeigt – nicht ohne Grund, aber auch nicht ohne Einschränkung. Neben dem wofür steht, gleichberechtigt, das wann – die brennende Frage einer Kultur, die den technischen Aufschub ebenso forciert wie die Bereitschaft zur freien Verfügung über Leben, das eigene wie das fremde, das privat im Gewand der Vertrautheit daherkommt, öffentlich als quantité négligeable in den Zielkoordinaten der ›Mächte‹, wer immer das sein mag.

April 2015
Die Herausgeber

 

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