Renate Solbach: Sarkophag

0.

Drei Jahrzehnte nach dem großen Umbruch sollte man meinen, die tragenden Linien, die zu ihm führten und seine Form bestimmten, würden sichtbar werden, ins öffentliche Bewusstsein treten. Das Gegenteil ist der Fall. Die Bundesrepublik spinnt ihr altes Selbstgespräch über Ostdeutschland fort und fort – doch inzwischen hört dort niemand mehr zu.

1.

Wie kamen wir heran? Am Anfang steht ein ganz präzises Datum und sogar eine einzelne Person. Es ist der 10. September 1989, die Person heißt Bärbel Bohley. Ein Jahr lang hatte diese kleine Frau das Treffen von 30 Oppositionellen aus den 15 Bezirken der DDR vorbereitet, auf dem jetzt die Bürgerbewegung ›Neues Forum‹ gegründet wird. (Es war übrigens der Grundgedanke, sie jenseits der Kirche und außerhalb der Opposition zu verankern.) –
Natürlich, ein solcher weltgeschichtlicher Wirbel, wie er sich nun im Herbst 1989 entfaltet, hat 100 Bedingungen und 1000 Randbedingungen – die Form des Handelns aber, in denen die Menschen agieren (werden), die wurde hier gesetzt. Dialog. Generalaussprache aller politischen Strömungen im Lande. Basisdemokratie der eigenen Bewegung. Gewaltlosigkeit von beiden Seiten. Das war der Tanzpunkt der ostdeutschen Demokratie, und das blieb der Grundgestus ihres Handelns bis gegen Ende 1993.

2.

Wo genau im Spektrum der politischen Haltungen in der DDR entstand der Durchbruch zur Demokratisierung? – Man kann diese Einstellungen grundsätzlich in vier Viertel teilen, um sie zu verstehen. Jedes Viertel entwickelte zu verschiedenen Zeiten verschiedene Ausstrahlungs-, Abstoßungs- oder Bindekräfte. Von links nach rechts erzählt, ergibt sich: das erste Viertel unterstützte den sozialistischen Versuch aktiv, das zweite Viertel sympathisierte ihm passiv, das dritte lehnte ihn passiv ab, das vierte Viertel lehnte ihn mehr oder weniger aktiv ab.
Fragt man nach der Akzeptanz des sozialistischen Projekts in dieser Einteilung, dann fällt auf, dass es je eine linke und eine konservative Hälfte der Bevölkerung gab.
Die Demokratiebewegung begann im zweiten Viertel des politischen Spektrums; hier war die Opposition der 80er Jahre zu Hause. Ihr Aufbruch sprang augenblicklich sowohl nach links als auch nach rechts über, also in das erste und zum dritten Viertel, weil auch hier jener Grundgestus den angestauten demokratischen Bedürfnissen entsprach.

3.

Da war sie plötzlich, die große Zeit, das Wunderjahr. Sofort daran zu erkennen, dass die Menschen den Kopf höher trugen, im Betrieb wie auf der Straße, sie sahen einander ins Gesicht und ließen sich ansprechen. Offenheit begann als eigene Handlung. Was da als Neues Forum gegründet worden war, breitete sich innerhalb von 8 Wochen auf 200.000 Teilnehmer aus und diente im ganzen Land als Anfangsposition der realen politischen Differenzierung. Und das war nur die politische Bewegung. Flächendeckend wie in keinem anderen Land Osteuropas breitete sich Selbständigkeit exponentiell aus, ging in allen Lebensbereichen vor, drang in allen Sozialstrukturen durch. Anfangs waren es die Demonstrationen, bald aber schon die Absetzung von Bürgermeistern, die Neuwahl von Werkleitungen durch Belegschaftsversammlungen, die Bildung spontaner Bürgerkomitees, welche eigenmächtig Tore von Kasernen öffnen ließen, oder eben jene Erfurter Frauen, die am 4. Dezember die erste Bezirksverwaltung des MfS schlossen und versigelten. Am 7. Dezember begann der Zentrale Runde Tisch in Berlin als oberste Instanz der Übergangszeit, ihm folgten hunderte kommunale und fachspezifische Runde Tische, an denen reale Verwaltungsentscheidungen getroffen wurden, noch bis weit in das Jahr 90 hinein. Es gab keine Führung, es war Selbstorganisation. Hier handelten Bürger in Selbstbestimmung – landauf und landab!

4.

»Wo hatten sie das gelernt?«, fragte spitz und treffend der ostdeutsche Soziologe Wolfgang Engler schon vor 20 Jahren. Offensichtlich konnte dies nur in der DDR geschehen sein. Aber wodurch? Durch die Erfahrung sozialer Gleichstellung der überwiegenden Mehrheit der Bürger dort. Das war für westliche Augen wohl weniger offensichtlich.
Seit den 70er Jahren trat ein Umschwung im innergesellschaftlichen Gleichgewicht der DDR ein. Auf die wie in Stein gemeißelten Verstaatlichungen antwortete ein neues Sozialverhalten. Die Gleichstellung der Menschen bei Stillstellung der Eigentumsverhältnisse hatte reale Folgen. In den Betrieben lösten sich mindestens die untersten 3, 4 Stufen der alten Hierarchie auf, Arbeiter und Angestellte waren auf gleich gestellt, noch der Meister war von der ausführenden Brigade abhängig; Ingenieure, Wissenschaftler, Ärzte galten als Teilarbeiter unter anderen Arbeitern. Die Menschen orientierten sich aneinander statt an Hierarchien und Aufstiegschancen.
Es entstand eine soziale Eigendynamik, die zur Umkehr der Hierarchien tendierte und die politisch gesetzten Rahmen arbeitsalltäglich erweiterte, tatsächlich veränderte und für individuelle Lebensräume ausnutzen konnte. Das Gegenteil von westlicher Sozialisation über Marktchancen. Das war die lange Vorgeschichte und Vorbereitung von 1989. Zuletzt hockte nur noch die Regierung in einer ›Nische‹, keineswegs die Mehrheitsbevölkerung. Und die so oft bemühte ›friedliche Revolution‹ wurde in Wahrheit die kräftige Erbschaft, welche die DDR ihren Bürgern auf den Weg mitgab.

5.

Der Mauerfall änderte allerdings ruckartig die Zusammensetzung und die Perspektiven der Demokratiebewegung. Nun erst trat das vierte, das konservative Viertel des politischen Spektrums aus seinem Wartestand hervor. Mit ihm und seiner Ausstrahlung auf das dritte Viertel (ablehnend, aber passiv hatte ich es charakterisiert) verschob sich das politische Nahziel vom Umbau der DDR zu nationalstaatlicher Wiedervereinigung. Ab Ende Dezember dominierte das Einheitsziel die öffentliche Meinung in Ostdeutschland.
Jetzt aber waren tatsächlich alle vier Viertel unterwegs, sämtliche politischen Einstellungen, sei es, sie hatten die DDR aufgebaut, mitgetragen, ertragen oder erlitten, waren nun in Bewegung geraten und standen einander gegenüber. Die Vollständigkeit dieses Gesamtauftritts der Ostdeutschen kann man noch an der enormen Wahlbeteiligung am 18. März 1990 erkennen; sie betrug 93, 4 Prozent.

6.

Von jenen Wahlergebnissen ist meist nur das politische Resultat bekannt: mit 47 Prozent konnte sich die bürgerrechtlich dünn verzierte, von Helmut Kohl aufgepumpte ostdeutsche CDU zum Sieger erklären. Das entschied zugleich den Weg in die schnellstmögliche staatliche Einheit.
Allerdings zeigen die übrigen Wahlergebnisse noch anderes. 16 Prozent für die PDS, 22 für die SPD (Ost), 5 für die beiden Bürgerbewegungslisten. Da sprechen sich die politischen Haltungen aus den ersten drei Vierteln des politischen Spektrums aus. Diese Stimmen zusammen ergeben 43 Prozent. Sogar jetzt, in diesem Moment der tiefsten Erniedrigung der Reformperspektive, sieht man noch immer die zwei Hälften der DDR-Bevölkerung, die linke und die konservative, mit 43 zu 47 Punkten durchscheinen.
Ich füge hinzu: Nach 30 Jahren staatlich organisierter Einheit hat sich in Thüringen gerade wieder der gleiche Block von 44 Prozent Rot-Rot-Grün gezeigt.

7.

Inzwischen koppelt sich die Basis immer mehr ab vom Oberbau der Einheit, schlägt sowohl nach links wie auch nach rechts aus. Woher kommt das, warum hat sie das nötig? Es begann nicht von ihrer Seite, es begann mit der Zerstörung der eigenen medialen Öffentlichkeit und wurde zementiert durch die radikale Privatisierungsstrategie der Treuhand.
Kaum zwei Jahre nach 1990 bestand in Ostdeutschland keine einzige TV-Station, keine Rundfunkanstalt, keine größere Zeitung mit gewachsener Leser-Blatt-Bindung mehr, die nicht von einer westdeutschen Chefredaktion geleitet worden wäre. Die Generalaussprache, das politische Bewusstsein, die soziale Erinnerung, alle Selbstverständigung, die sich eine ganze Bevölkerung gerade eben erobert hatte, verwandelte sich in Entmündigung und Belehrung. In den Betrieben gab nicht mehr die Belegschaft den Ton an, sondern unerreichbare Eigentümer den Takt vor. Und statt uns selber auszusprechen, sollten wir jetzt nur noch zuhören. Das war eine scharfe Kehre, die durchaus verstanden wurde und umgehend als Lähmung wirkte. Die politische Debatte war wieder auf die Ebene des Privatgesprächs heruntergedrückt. Das war gerade der Zustand, aus dem wir gekommen waren.
Nun begannen die Rückfälle in jene Mentalitäten, aus denen man aufgebrochen war. Der Ängstliche wurde wieder ängstlich, der Mutige wieder einsam, der Zweifler wieder schüchtern, der Sozialist wieder steif und stur, der ehemalige Oppositionelle entweder Moralist oder Karrierist, der Spießer wieder spießig etc. etc.

8.

Jeder einzelne Rückfall dünnte die ostdeutsche Demokratie aus. Bis 1993, als durch den neunmonatigen grandiosen Arbeitskampf der Kalibergleute von Bischofferode im Harz doch noch eine verzweifelte Hoffnung im Land aufkeimte, hielt die Demokratiebewegung an dem Grundgestus von 89 fest, dann war sie zerstreut und besiegt. Ihre Revolution war beendet.

Wie lässt sich dieser Gang der Ereignisse zusammenfassen? Seit damals quält sich auf unserem Territorium ein Volk, das schon einmal eine Gesellschaft geworden war – das wäre die soziologische Ausdrucksweise für das Phänomen. Man sollte vielleicht zeitgemäßer sagen: Hier quält sich eine Gesellschaft, die 1989/90 schon einmal demokratisch geworden war – das wäre dann eine politologische Beschreibung desselben Sachverhalts.

9.

Kein Ostdeutscher verachtete je die Demokratie, weder vor 1989 und erst recht nicht danach – er erkennt sie nur genauer, er nimmt sie persönlicher. Sie bedeutet ihm handhabbare Lebensumstände. Und die wollte er damals um einen vernünftigen politischen Überbau erweitern. Alle Beteiligten mussten dann schwer dazulernen, die einen gern, die anderen weniger gern. Keiner der vier politischen Haltungen blieben dabei spezifische Enttäuschungen erspart. Wenn aber auch in drei Jahrzehnten kein reales Gespräch zwischen West- und Ostdeutschland entsteht, dann liegen strukturelle Gründe vor. Da die institutionellen Voraussetzungen für einen echten Dialog so gut wie sämtlich in altbundesdeutscher Hand sind, muss die Fehlfunktion auf dieser Seite der Republik gesucht werden.

10.

Die Schlagwörter kennen wir: totalitär, zweite deutsche Diktatur, Unrechtsstaat, Nischengesellschaft, Mitläufertum, durchherrschte Gesellschaft usw. – Damit standen nun die, die allenfalls Zuschauer vom anderen Ufer aus gewesen waren, mitten in unserem Land und bewerteten Fabriken und Fähigkeiten, Leute und Lebensläufe, die sie nicht kannten und so auch nie kennenlernen konnten.
Nehmen wir nur das eine Beispiel, den inflationären Gebrauch von ›totalitär‹ zur Charakterisierung der Natur der DDR-Gesellschaft.
Dagegen steht das Ereignis selbst: Der Herbst 1989 in Ostdeutschland weist in dem größtmöglichen Maßstab eines erfolgreichen politischen Experiments aus, dass die soziale Logik der vormaligen Produktionsverhältnisse eben nicht totalitär gewesen sein kann. Und zwar gilt das für das Verhalten beider beteiligter Seiten. Der Auftritt – das Hervortreten – der ostdeutschen Demokratie und ebenso der Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Machtapparat zeigen das an.
Unter solchen begrifflichen Masken ist die hier entstandene Gesellschaft nicht zu erkennen, sondern nur die Mutmaßungen, die vor 89 und von außen her über uns entstanden, klappern hier weiter. Doch die alten Begriffe begreifen nicht mehr. (Für dieses Niveau der Auseinandersetzung hätte es eigentlich kein 89 gebraucht.) Deshalb nenne ich es das ›Selbstgespräch‹ des Westens über den Osten.

Ein zweites Beispiel. Zusammen mit der institutionellen Zerstörung der ostdeutschen Öffentlichkeit bildet wohl das Stasi-Thema den inhaltlichen Eckstein, der ein reales Gespräch verhindert. Es ist der Schlagschatten, mit dem eine westdeutsche Vorstellungswelt die konkrete Erinnerung der Ostdeutschen bedrängt, verdrängt und verdunkelt. Man könnte auch von Missbrauch des Themas sprechen.
Woher kommt das? Aus der Prägung der westdeutschen Intelligenz durch die Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Und wodurch entsteht das faktische Übergewicht der falschen Vergleiche? Es entsteht durch die vollständige Abwicklung der akademischen und medialen Intelligenz, die in der DDR entstanden war. Die scheinheilige (und unsaubere) Redeweise von den ›zwei deutschen Diktaturen‹ zeigt es an.
Argumentativ ist es bloß ein Selbstbezug, politisch aber wirkt es als Kolonialisierung.

11.

Das sind nur zwei der Schläge auf die Köpfe der ostdeutschen Demokratie, also auf mindestens die Hälfte der Ostdeutschen. Wir denken noch darüber nach. –
Welche Schläge es für die zwei anderen Viertel, also für die konservative Hälfte waren, das verstehen wir nicht so genau. –

Die AfD ist aber kein ostdeutsches Produkt, sondern eine ganz und gar westdeutsche Konsequenz. Sie verkörpert die Trennung des kleinen vom großen Bürgertum. Diese Spaltung wird daher im politischen System auch bestehen bleiben, sie kann nicht durch argumentative oder kulturelle Überlegenheit zum Verschwinden gebracht werden. Dieser Bruch bedeutet viel für die Bundesrepublik, er reicht tief und verändert sie zur Kenntlichkeit. Ihr Boden wird weiter nachgeben.
Ostdeutschland hat solches Bürgertum nicht. Hier fließen die Wahlerfolge der AfD aus anderen Quellen. Es sind vielleicht 5 Prozent ihrer hiesigen Wählerschaft, die wirklich die Überzeugungen der Parteiführung teilen. Aber die Wunde der öffentlichen Sprachlosigkeit schwärt schon lang, das mag 15 Prozent ergeben. Die aktuellen 25 Prozent sind dagegen ein echtes Lernergebnis der Ostdeutschen aus den schlechten Umgangsformen der Denkzettel-Demokratie.

12.

Diese neue Art Widerstand von rechts hat jedenfalls zwei verschiedene soziale Herkünfte. Die beiden deutschen Gesellschaften, wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen sind, bestehen fort. Die staatliche Vereinheitlichung hat deren Gegensätzlichkeit bislang weder deutlich erkennen noch konstruktiv auflösen können. Es ist keineswegs ausgemacht, von wo die nächsten Schritte der Demokratie ausgehen werden.

13.

Fragen wir abschließend. Wenn die demokratische Kompetenz von 1989 heute eine eigene Stimme, Öffentlichkeit und Handlungsfähigkeit hätte, was würde sie dann, an ihrem 30. Geburtstag in dem neuen Leben, sagen und tun?
Sie würde zunächst stutzig werden über das auffällige und einfältige Gerede von der ›friedlichen Revolution‹. Sie würde sich dann erinnern, dass es nicht ›friedlich‹ war, sondern Monate unbeschreiblicher Angespanntheit waren. Sie würde erkennen, dass zu der Gewaltlosigkeit, die es ja nur war, zwei Seiten gehören.
Sie würde schließlich zu der anderen Seite sagen: Gut, wir sind noch immer anderer Meinung als Ihr – und Ihr seid es umgekehrt wahrscheinlich auch. Aber Ihr habt damals nicht geschossen, habt uns unseren Weg gehen lassen; habt Euch einer unbekannten Zukunft gebeugt. Deshalb soll von jetzt an jede verordnete Ausgrenzung enden. Also: Generalamnestie, Ende der Regelanfrage u. ä. –
Das würde sie, denke ich, eine Generation später sagen. Und das geschähe keineswegs aus irgendwelcher ›Versöhnung‹, sondern einzig und allein aus Selbstachtung – aus Selbstachtung der ostdeutschen Demokratie.

 Rede vor der Akademie der Künste. November 2019

 

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