Renate Solbach: Der Bogen

Rousseau, der ›Grüne Prophet‹ (wie ihn Jürgen Stackelberg – und nicht er allein – nennt): Was bedeutet für ihn die Gleichheit, die er sein Lebtag so hochgehalten hat? Er wollte, was dann die radikalen Demokraten der Französischen Revolution, die ›Jakobiner‹, wollten, was auch Kant in das System seiner Moralphilosophie aufgenommen hat: die Gleichheit an die erste Stelle des Programms einer einschneidenden Revolution der Praxis setzen. Nur so, nur durch Wahrung oder vielmehr durch Wiedererringung der Gleichheit hätte die Menschheit in einen erträglichen Gesellschaftszustand (vom Urzustand war ohnehin nicht mehr zu reden) gelangen können.

Was aber ist seine ›égalité‹? Durch welche Praxis hätte sie sich beglaubigen lassen? Ein Ei gleicht angeblich dem anderen, vollkommen. Das aber hält schon einer genauen Messung nicht stand, und sowie man die Kontrolle der äußeren Gestalt verlässt und dazu untersucht, was an Triebkräften, an Entwicklungspotential in solchen zwei angeblich übereinstimmenden Eiern liegt, man denke nur an ›eineiige‹ Zwillinge, so kann man nur staunen, wie weit sich zwei angeblich ›gleiche‹ Menschenkinder auseinanderentwickeln können, selbst bei noch so großer Ähnlichkeit im Äußeren. Unter den Myriaden von Schneeflocken finden sich keine zwei, die miteinander identisch wären. Wie sollten dann erst die Ungleichheiten der menschlichen Entwicklung: Ungleichheiten an Begabung, an ›Startchancen‹, an Ernährung, Milieu, Wohnviertel, Taschengeld und Aussicht auf künftige Vermögen, jemals ausgeglichen werden? Wenn wirklich einmal Gleichheit z. B. der Waffen (für ein Duell o. ä.) hergestellt wird, dann macht die Ungleichheit der Hände (also der Personen), die diese Waffen führen, die mühsam zugeteilte Gleichheit alsbald zunichte. Gleiche Brüder, gleiche Kappen sagt man so; gemeint sind Spitzbuben. Aber die haben doch die unterschiedlichsten Strategien des Betrugs, des Schwindels und Raubs, da ist nichts Gleiches daran als höchstens der Abscheu der Redlichen (oder die sich dafür halten) vor ihnen. Mit gleicher Münze heimzahlen ist auch ein beliebter Sport, wenigstens in der Vorstellung. In Wirklichkeit dürfte es schwer halten, in den Wechselstuben unserer sozialen Lebens just die ›Münze‹ zu finden, die uns da fälschlich angedreht oder anderswie zugesteckt wurde.

Wenn man die Gesellschaft soziologisch untersucht, zeichnet sich ›unten‹ eine triste, graue, lähmende Einförmigkeit ab, so wie in China zur Zeit der Kulturrevolution. So als ob Maos Hundert Blumen alle aus der gleichen einfallslosen Gärtnerei hergestammt wären – dabei wollte Mao doch gerade zur Vielfalt in der künstlerischen/literarischen Produktion ermutigen. ›Oben‹ dagegen herrscht die bunteste, fröhlichste, übermütigste Vielfalt, da ist auch Huttens Lust zu leben zu Hause. Er zog sie allerdings weniger aus der Üppigkeit der verschiedensten Lebensmittel (die zu seiner Zeit noch längst nicht so weit entwickelt waren wie heute, und die ihm auch nicht so viel bedeutet hätten) als aus dem Vergnügen an seinem Jahrhundert, wie es war, und am Stand der Wissenschaften, wie sie sich damals mit Riesenschritten weiterentwickelten.

Wenn Gleichheit ein positives Gut ist, wenn um dieses wie um andere weltliche Güter ein Wettkampf im Gange ist: Kann der eine einem anderen ›gleicher‹ sein als einem Dritten? als allen anderen? Was müsste er dazu aufbieten, wie sich beglaubigen? Könnte/müsste er von dieser so begehrten Qualität anderen etwas abgeben oder sie gerade für sich behalten? Verschiedenheit immerhin lässt sich steigern: Mücken und Elefanten sind ›ungleicher‹ als indische und afrikanische Elefanten. Daraus lässt sich aber nur bedingt auf das Gegenstück schließen. Elefanten müssen untereinander relativ (komparativ) ›eher‹ gleich sein als weit entfernt stehende Lebewesen. Nur wirklich und echt gleiche hat die Natur bisher nicht hingekriegt. Aufs Klonen hat sie sich noch nicht eingelassen, auch als die Menschen (als Täter, bis jetzt noch nicht als Betroffene) sich darum bemüht haben (mit unterschiedlichen Erfolgen). Müssen wir uns an Gleichheitszeichen gewöhnen, die in der Luft schweben? Die leer und untätig bleiben bis zum Jüngsten Tag? Denn an jenem Tat wird sich alles auflösen: Vor Gott sind bekanntlich alle Menschen gleich, warum dann nicht alle Pflanzen und Tiere, alle Dinge? Rousseau allerdings sah diesen Ausblick über die bekannte Geschichte hinaus weit defätistischer: Alle werden wieder gleich, weil sie (alle) nichts sind.

Rousseau hat ein gewaltiges philosophisches Pensum absolviert, aber wieder und wieder kam er auf sein Hauptanliegen zurück. Er forderte eine radikale Gleichheit, also auch den Umsturz der Gesellschaftsordnung. (Laut Badiou ist die »Gleichheit« bei Rousseau »die Signatur des Politischen schlechthin«. S. Dirk Wiemann, Gleichheit (égalité), in: Rousseau und die Moderne. Eine kleine Enzyklopädie, 2013, S. 124.) Wenn der heutige Bürger »unablässig schwitzt, hetzt und sich quält«, um mit den Großen seiner Zeit auch nur annähernd mithalten zu können, dann verdient die ganze Gesellschaftsordnung, umgestülpt zu werden. Eine durchgehende Gleichheit, wie der radikale Philosoph sie dem Naturzustand zuschrieb, soll an ihre Stelle treten. In Hobbes’ munterer Parole, jeder habe das gleiche Recht, seine egoistische Natur unbegrenzt durchzusetzen, konnte Rousseau nur ein fatales, auf den Urheber zurückfallendes Spiel mit Worten sehen. Er setzte dagegen: Wenn aus dem ewigen Fortschreiten des menschlichen Geistes lauter Ungleichheit (»Ungerechtigkeit«) entstanden ist, dann ist bewiesen, dass auch die Reflexion selbst, die Philosophie, schädlich ist, weg mit ihr! Am modernen Menschen zeigt sich wie an seinen Haustieren: Zähmung (Domestikation) macht schwach, ängstlich, kriecherisch, sie verführt zu einer »weichlichen und weibischen« Lebensweise – wie können sie die wieder loswerden, wieder »wild« werden? Denn im Zustand der Wildheit galt noch der Grundsatz, der allen Privatbesitz beiseiteschiebt: »Alles gehört allen!« Diesen Zustand der Wildheit zeichnet Rousseau in vieler Hinsicht als höchst unkomfortabel, kaum würde er es selbst darin aushalten. Aber gerade gegen das Denken an die vielerlei Komforts der Zivilisation (und ihren Einfluss auf unser Begehrungsvermögen) zieht er zu Felde. Erweist sich der Pflock, den einstmals einer in die Erde gerammt hat, um zu untermauern: »Das ist mein!« (das Zitat aus Rousseaus schroffer und eindringlicher Auseinandersetzung mit John Locke, dem Apologeten der bürgerlichen Eigentumsordnung, findet sich gleich zu Beginn des 2. Buches seines zweiten DiskursesDiscours sur les origines de l’inégalité [ ... ] parmi les hommes von 1754), nun auch als Hütepflock, an dem wir festgebunden sind? Auch noch als Pflock in unseren Gedanken, die eigentlich ins Ungebundene streben, aber faktisch nicht mehr in die Wirklichkeit einer gesellschaftsverändernden Praxis auszubrechen verstehen? »Gute Zäune garantieren gerechte Gesellschaften«, dekretiert ein heutiger Jünger des anscheinend unsterblichen John Locke (M. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit – mit ›und‹ verbunden, als ob sich das so leicht vertrüge –, 1992, S. 449).

Rousseau bekam zwar Recht von der Akademie, die die heikle Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen ausgeschrieben hatte. Vor der Geschichte aber bekam er immer wieder Unrecht. Die Entwicklung führte zu immer schrofferer Ungleichheit unter den Menschen, jetzt nicht mehr nach ihren ›Ständen‹, sondern gemessen an der ›nackten Zahlung‹. Aus den Unterschieden des Einkommens entwickelten sich Klassen, die einander feindlich gegenüberstanden. Von Rousseaus großartiger (und finsterer) Vision einer Menschheit, die sich absichtlich auf eine frühere Kulturstufe zurückentwickelt, blieb nur die Forderung nach ›Mit-Leid‹ übrig, der egalitärste aller Affekte, und auch er mehr postuliert als irgendwo verwirklicht. Die Strategen der französischen Revolution, Marat vor allem, suchten wieder das Menschenrecht auf Gleichheit, ›égalité‹, an die erste Stelle noch vor die Freiheit zu rücken. Aber schon unter der ›radikalen‹ Jakobinerherrschaft, erst recht unter dem Direktorium und dann unter Napoleon fuhren die Begüterten, die Besitzer der Produktionsmittel, fort, sich zu bereichern. Büchner bricht das Herz, wenn er es an ›seinem‹ Danton darstellt und dann nicht anders kann, als das Todesurteil gegen diesen fragwürdigen Helden, sei es auch noch so windig motiviert, zu bejahen. Bewunderung für den unerschrockenen (aber nachträglich doch zurückzuckenden) Revolutionär und Zustimmung zu seiner Verurteilung durchdringen sich. Dennoch bietet Dantons Tod viel mehr als eine Abrechnung mit dem Prasser und Hurer (Büchner war Realist genug, diese damals erhobenen Vorwürfe zu zitieren, und er zeichnet einen Danton, der ihnen merkwürdig schutzlos gegenübersteht und sich – deshalb? – in die oberflächliche Pose der Nonchalance zurückzieht), nämlich ein Anrennen gegen die Fatalität, dass der Ausweg in eine Revolution, die an den Grundverhältnissen der Gesellschaftseinrichtung ansetzen würde, versperrt ist (und es schon zu Robespierres Zeiten war).

Bei Marx und Engels spielt die Forderung nach Gleichheit keine herausragende Rolle. Der Vergleich, die Zurechnung von gleich vielen Besitztümern – und gleich viel Verstand, Initiative, Elan usw., da wird es schon schwieriger – soll überhaupt aufhören, wenn erst die Klassenteilung der kapitalistischen Gesellschaft beseitigt ist. Mit schöner amerikanischer Unverfrorenheit malt Edward Bellamy sich aus, wie seine fatale Gegenwart durch einen Akt des puren Volkswillens in einen idealen Zustand der allgemeinen Gleichheit hineingleitet. (Der utopische Rückblick aus einem erträumten Jahr 2000 (Looking Backward 2000 – 1887) ist von 1888 und hatte damals einen weltweiten Erfolg. Die erläuternde weitere Utopie Gleichheit (Equality) hat er 1898 vorgelegt.) In dieser Utopie geht das wie von selbst: Der Privatkapitalismus wird in Volkskapitalismus »verwandelt«; Gefängnisse und Kerker werden nur noch als »Sehenswürdigkeiten« erhalten. Die früheren Verhältnisse, die des (18. und) 19. Jahrhunderts, seien von der sozial aufgeklärten und bereinigten Gegenwart aus gar nicht mehr zu verstehen. Damals hätten die Reichen sozusagen über dem Gesetz gestanden, während der ganze Druck dieses Gesetzes auf den Armen gelastet habe. An allen Stellen zeigt sich, dass die soziale, ja die finanzielle Stellung der Reichen zu den Armen und umgekehrt die ausschlaggebende Kraft der Gesellschaft ist. Sowie die Menschheit das begriffen haben werde, werde sie diese bösartigen Differenzen rasch abschaffen – ein ausgiebiges Studium und langwierige Klassenkämpfe wie bei Marx (und Engels) sind dafür gar nicht mehr nötig.

Diese Entwicklung führte dazu, dass bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht die Kommunisten, sondern die Sozialdemokraten als die ›elenden Gleichmacher‹ beschimpft wurden. Marx spottet eher über die leichtgläubigen Zeitgenossen, die sich an Parolen delektieren, statt für reale Veränderungen zu kämpfen. »Was allein hier herrscht«, in den Produktionsstätten, in denen der Profit erzeugt wird, »ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham«. Die ›Sozis‹ dagegen erliegen einer »freiheitsverstümmelnden Gleichmacherei«, die den Erzliberalen Maihofer zu regelrechten Invektiven verleitet (Frankfurter Rundschau vom 6. 8. 1976). Laut Ihering (vor 100 Jahren) stammt die Forderung nach Gleichheit aus »Missgunst und Neid«. Auch Nestroy war der optimistischen Überzeugung aller Nichtsogutweggekommenen: »Das Schicksal setzt den Hobel an / und hobelt alles gleich«. Naja, das könnte man sich schon gefallen lassen, sofern man nicht unter dieses raue Nivellierungsinstrument gerät. Aber ein Ausgleich nach unten, auf das niedrigste Niveau, gilt mindestens als unklug und möglichst zu vermeiden, darin sind sich die im Folgenden zitierten Philosophen einig.

Einen bisherigen ›Nebenwiderspruch‹ hat in späten Jahren Engels, aber noch entschiedener (vor ihm) Bebel ernstgenommen und als endlich lösbar und lösenswürdig auf die Tagesordnung gesetzt: die Gleichstellung der Frau mit dem Mann: »Es darf keine Privilegien geben, weder politische noch gesellschaftliche noch kulturelle. (August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, 10/1976 [1/1879], S. 407. Dazu, aus einer Morgan-Paraphrase entwickelt: Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, 1884). In drei Zeitschriften, die alle »Gleichheit« hießen, haben Clara Zetkin, eine damalige Mitstreiterin und ihre ›Enkelinnen‹ 60 Jahre später »die Interessen der Arbeiterinnen« – so der Untertitel von Zetkins Blatt – vertreten. Die politische Botschaft setzt sich in einer aufrüttelnd-übertreibenden Sprache durch. Abscheu etwa vor der »Hinschlachtung der Mütter und Kinder für den kapitalistischen Profit« wird laut hinausposaunt. Unter diesen Agitpropvokabeln aber werden die Agenda der Zeitschrift(en) eher nüchtern angesprochen. Auf politische Bildung der damals weit zurückgesetzten Frau zielt die Botschaft. Dazu gehören alltägliche, aber wichtige Fragen: Die Erforschung der Vaterschaft wird nüchtern dargelegt, das Recht auf Scheidung ausdrücklich begrüßt, Zusammenhänge von »Sexualverbrechen« werden aufgedeckt, einzelne gefährliche Berufe charakterisiert wie der schon damals so beliebte Beruf der Schauspielerin: recht- und schutzlos, verbunden mit sozialem Elend, »vogelfrei«, nicht selten in Prostitution mündend. Regelmäßige Beilagen bedienen die Frauen dann eben doch in ihrer »Frauenrolle«: Hausfrauen, die Rezepte, Schnittmusterbögen und dgl. benötigen. – 60 Jahre später spiegelt die »Gleichheit« (»Das Blatt der arbeitenden Frau«) ein etwas gewachsenes politisches Bewusstsein, vor allem durch die Erfolge der Gewerkschaften. Aber nur auf der Seite der Zeitungsmacherinnen; vom politischen Bewusstsein der Leserinnen haben die Redakteurinnen ein geradezu niederschmetterndes Bild: Sie sind passiv, lassen sich alles gefallen, müssen sich ducken im Betrieb. Also müssen die bemühten Mentorinnen sie bei der Hand nehmen und auf den rechten Weg führen. Die praktischen Ratschläge werden noch um Medizin und Tipps zur Pflege eines Zimmergartens (für ›arbeitende Frauen‹??) erweitert.

Zurück zur gesamten Gesellschaft: In der Geschichte der Bundesrepublik, und zwar in deren ersten 30 – 40 Jahren, haben die tonangebenden Parteien darum konkurriert, wer das ›richtigste‹, d. h. das gehörig vorsichtige Umgehen mit der alten Forderung nach Gleichheit bietet. Die CDU hatte in ihrem Ahlener Programm (1947) noch weitgehende Zugeständnisse an die nach wie vor populäre Parole geboten. Zunehmend nahm sie die zurück und setzte auf die Annäherung an eine Art von Gleichheit durch ›Ausgleich‹: Die Menschen als Wirtschaftssubjekte sind eben unvermeidlich verschieden, also muss der Staat drangehen und einen – größeren oder kleineren, jedenfalls nur »überschüssigen« – Teil davon an die Schlechtergestellten abgeben. Im Kern aber gilt eisern: Jedem das Seine. Eine Strecke weit hat Willy Brandt, nachdem er an die Regierung gekommen war, die so geprägten Vorstellungen aufgenommen. Er hat sie aber auf seine Weise modifiziert: mehr als gleiche ›Startchancen‹, mehr als ›Gleichheit vor dem Recht‹ – Gleichheit ist »Anrecht auf ein Leben in Qualität« (Frankfurter Rundschau, 1976). Wolkig allerdings wie die Formulierung bleibt auch die Forderung selbst. Lässt sich ein »Leben in Qualität« auch als Hilfsarbeiter, auch als Hartz IVer führen oder erst von einer bestimmten Reputationsstufe und Gehaltsklasse aufwärts?

In der kein bisschen egalitären, aber wenigstens (größtenteils) saturierten Gesellschaft der letzten Jahrzehnte scheint das Anliegen der Gleichheitsfreunde – warum klingt das so ungewohnt? »Freiheitsfreunde« geht doch leicht von den Lippen! – in die Hände der Philosophen, vor allem von Philosophen des Liberalismus gefallen. Die liberté hat längst wieder die égalité verdrängt (ich arbeite an der FU Berlin, die schon seit ihrer Gründung vor 70 Jahren »veritas, iustitia, libertas« auf ihre Fahnen geschrieben hat. Wer will, kann die égalité unter ›iustitia‹ unterbringen, aber da wird sie nicht recht froh werden. Obgleich etwa Seume seinerzeit noch sicher war: »Die Gleichheit ist das Herzstück der Gerechtigkeit« – das war aber im 18. Jahrhundert – gegen Ende). Auch wenn beide gekoppelt werden zu »égaliberté«, kann man sich schon denken, wer da den Koch und wer den Kellner spielen soll.

Dirk Wiemann (2013) will mit dieser Zusammensetzung die Gleichgewichtigkeit und Untrennbarkeit beider Elemente unterstreichen. Schon für seinen Gewährsmann Rousseau ist das ein gewagtes Postulat. Für die Gegenwart findet er keinen Anhaltspunkt, wo beides zugleich oder gleich stark verwirklicht worden wäre. Auch Stefan Gosepath sucht, mit ähnlich unsicheren Erfolgen, einen »libertären Egalitarismus« zu begründen (Gleiche Gerechtigkeit, 2004). Auch wenn man die Gerechtigkeit als die sanftere Schwester der Gleichheit gelten lassen will, wird sie alsbald doch ganz andere Wege geschleift. Nach einer Meldung vom 29. 6. 2018 hat das Bundes›sozial‹gericht (ausgerechnet!) festgestellt, ungleiche Behandlung von Müttern bei der Rente sei »gerecht«.

Klaus Bärsch untersucht die Gleichheit der Ungleichen (1978). Er findet »gleich werden« so viel schöner als »gleich machen«, aber von allein will sich das nicht entwickeln. In der Realität unserer Gesellschaft braucht man »Übermacht«, um »Machtgleichheit« herzustellen. – Michael Walzer teilt seine Aufgabe ein nach Sphären der Gerechtigkeit und nennt es schon gleich: Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit (1992). Er sucht, wie Bärsch, eine fundamentale Gleichheit der Ungleichheit zu begründen, mit nicht sonderlich überzeugenden Ergebnissen. Wofür er plädiert, ist eine »distributive Gerechtigkeit«, die auch Raum lässt für »kulturelle Diversität« und für politische Alternativen. – Wolfgang Kersting arbeitet auf der Grundlage von Kants ›Kategorischem Imperativ‹ die derzeit herrschenden Theorien der Sozialen Gerechtigkeit aus (2000), wobei er ›Gerechtigkeit‹ definiert als »die moralisch ausgezeichnete Verfassung gesellschaftlicher Kooperation«.

Einer der philosophierenden Liberalen soll etwas gründlicher vorgestellt werden: Paul Kirchhof, weil für ihn die Quellen der Wikipedia besonders ergiebig sprudeln. Er ist ein wissenschaftlicher Einmannbetrieb: Staatsrechtler, Verfassungsrechtler, Steuerrechtler, ausgezeichnet mit 9 Medaillen und 30 Preisen, darunter das Komturkreuz des päpstlichen Silvesterordens. In drei katholisch-studentischen Verbindungen ist er Mitglied, in einer vierten »Ehrenphilister«. Er ist Vertrauensdozent des Cusanuswerks, nachdem er erst dessen Stipendiat war, er ist Mitglied der Jury des Hanns Martin Schleyer-Preises, den er erst mal selbst bekommen hat. Dem 65. und 66. Juristentag diente er als Präsident. Er ist Mitherausgeber des »Rheinischen Merkur« und Verfasser von dermaßen vielen wissenschaftlichen Werken, dass Wikipedia sich mit einer Auswahl begnügt (und selbst das sind noch 21 Titel). Er ist der Kirchhof, den Merkel 2005 in ihr »Kompetenzteam« geholt hat, der verblüffend einfach, auf dem famosen Bierdeckel, die Steuerprobleme gelöst hat und daraufhin beinahe Finanzminister geworden wäre. Dieser Paul Kirchhof macht sich Gedanken über Das Maß der Gerechtigkeit (2009). Schon sein ungeduldiger Untertitel verrät, worum es ihm geht: Bringt unser Land wieder ins Gleichgewicht! Er ist ein Ästhet, ihm geht es ausdrücklich (auch) um die »Schönheit«, die aus »dem Leben in seiner Gesamtheit« entspringt. Das »Recht auf Gleichheit« findet er eingebettet in eine »Kultur des Maßes«. »Demokratische Gleichheit« ist für ihn eo ipso »gemäßigte Gleichheit«. Bei »zu viel« Umweltschutz sieht er die Gefahr, dass das »Instrument« der Gesetzgebung durch »Zwangselemente unbrauchbar« gemacht werden könnte. Wie vollständig, wie diametral Rousseaus Plädoyer umgekehrt wird, verrät sich, wenn Kirchhof erst in der Kulturgesellschaft Sicherheit, Recht, Währung (!) und Wohlstand garantiert findet.

Auf der Höhe ihrer Zeit, unserer Zeit, dieser tief ungerechten und gleichheitsfernen Epoche sind sie alle, diese philosophischen Fürsprecher des Liberalismus. Auch auf der Höhe ihrer Wissenschaft, soweit ein Nichtjurist und Hobbyphilosoph das beurteilen kann. Sie lösen die Probleme, die die Forderung nach Gleichheit aufgeworfen hat und immer wieder aufwirft, ja sie haben sie längst gelöst. Sie brauchen nur noch nachzusehen in dem, was sie vor Zeiten geschrieben haben, und das tun sie reichlich. Wenn Liebe zur Wissenschaft geboten ist, gerade bei einem so heiklen Thema, dann ist Selbstliebe der verlässlichste Teil dieser Liebe. Sie zitieren anscheinend niemanden so gern wie sich selbst. Gosepath hat ein Literaturverzeichnis von 34 Seiten, darin 15 Titel von ihm selbst. Dass er ein früher geschriebenes Standardwerk (sowie einen Lexikonartikel) laufend zitiert, unterstreicht die Stetigkeit seiner wissenschaftlichen Position. Wozu er aber 13 Aufsätze von früher (aus den vergangenen 11 Jahren) aufführt, nachdem er deren Thesen und oft auch Duktus in seinen neuen Text eingearbeitet hat, wird niemand sagen können außer ihm selbst. Kersting hat 7 Seiten Literaturverzeichnis, darin 16 eigene Werke: 6 selbständige Bücher, 10 Aufsätze aus 22 Jahren. Bärsch begnügt sich, auf 13 Seiten Literaturverzeichnis, mit einem Standardwerk von ihm selbst, aus dem er immer mal wieder zitiert. Rawls kommt in seinem Gerechtigkeit als Fairness (2003) ganz ohne Literaturverzeichnis aus: Wenn er verweisen will, verweist er auf seine eigene Theory of Justice, die über 30 Jahre zurückliegt.

Die Sprache dieser philosophierenden Liberalen ist manchmal elegant, manchmal bepackt mit Informationen und neu aufgeworfenen Problemen. Mitunter so kompliziert, dass man eine ganze Weile darüber grübeln muss. ›Gewöhnungsbedürftig‹ heißt das dann, aber daran möchte ich mich lieber nicht gewöhnen:

 – Kersting: »die subjektivitätstheoretische Grammatik des egalitären Liberalismus«. – Noch schöner klingt: die »sockelegalitaristische Ressourcengleichheit«.

– Kirchhof: »Grundrechtsberechtigte« – es sieht schlau aus, wie hier das Recht mit dem Recht kurzgeschlossen wird. Es macht sich aber auch tief verdächtig: Wenn die Grundrechtsberechtigten als eine Gruppe unserer Gesellschaft hervorgehoben werden, dann muss es welche geben, die dieses Anrecht nicht haben. Kann und darf es solche geben, Herr (mult) Professor?

 

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