Renate Solbach: Der Bogen

Karl Marx selbst hat seine Mehrwerttheorie als das Fundament seiner Kapitalismusanalyse verstanden. Sie besagt, der Wert einer Ware bestehe in der in ihr vergegenständlichten (jeweils gesellschaftlich notwendigen) Arbeitskraft. Dadurch wird der (wahre) ökonomische Wert sozusagen objektiv und messbar. Der Arbeiter wird für seine Arbeit entlohnt. Aber sein Produkt ist mehr wert als sein Lohn (plus die ›Unkosten‹ des Produktionsprozesses: Produktionsmittel, Material, Verschleiß usw.). Der verbleibende Mehrwert ist der Gewinn des Kapitalisten, den er beim Verkauf der Ware erzielt. Aus dem Mehrwert, den der Arbeiter erzeugt hat, bildet sich das Kapital, das dann als eine fremde Macht den Arbeiter ausbeutet und den Kapitalisten als ›Charaktermaske‹ zu seinem Agenten macht.

Es ist nicht leicht, diese Theorie einzuordnen. Sie gibt sich als eine ökonomische Theorie, aber es gibt bis heute keine auf dieser Mehrwerttheorie basierende Ökonomie, die sich als Orientierung für wirtschaftliches Handeln bewährt hätte. Die entscheidende Schwachstelle dürfte der Wertbegriff selbst sein. Der Wert einer Sache oder eines Produkts beruht nämlich in Wahrheit auf Schätzung, die sich ihrerseits aus der Nachfrage ergibt, die wiederum von vielen Faktoren, dem Gebrauchswert etwa, aber gegebenenfalls auch Moden, abhängt, jedenfalls aber nicht auf einer quasimessbaren Vergegenständlichung von Arbeitskraft beruht. Das ist besonders deutlich in Umbruchszeiten. Obwohl der Trabant 1990 genauso viel vergegenständlichte Arbeitskraft brauchte als 1989, war er plötzlich unverkäuflich. Durch die Verbreitung von Taschenrechnern wurden in den 70er Jahren mechanische Rechenmaschinen plötzlich unverkäuflich. Das Knowhow, Erfindungen und Patente, Innovationsschübe, das ist alles mittels der Mehrwerttheorie schwer darstellbar. Aus solchen und anderen Gründen ist der Wertbegriff von Marx nicht operationabel.

Aber auch die anthropologischen Voraussetzungen dieses Wertbegriffs sind hochproblematisch. Arbeit soll nämlich die Äußerung der Wesenskräfte des Menschen sein, so dass der Mensch sich selbst in einer von ihm geschaffenen Welt anschauen könnte, wenn ihm sein Produkt nicht entfremdet würde, wie es in den sog. Pariser Manuskripten heißt. In Wahrheit wird es dabei bleiben, dass wir uns durch unsere Worte und nicht unsere Produkte am deutlichsten mitteilen oder offenbaren. Das Produkt als menschliche Wesensäußerung, das passt am ehesten noch für das Selbstverständnis des neuzeitlichen Künstlers, der sich im Unterschied zum mittelalterlichen als Schöpfer und Genie versteht. Es passt einigermaßen auch für den Handwerker, der zwar nicht sein Wesen, aber doch sein Können in seinem Produkt anschauen kann, das er freilich jedesmal weggeben muss, und zwar nicht nur weil der böse Kapitalismus ihm seine Wesensäußerung raubt, sondern weil er etwas sehr gut und anderes gar nicht kann und aufgrund der Arbeitsteilung aufs Tauschen angewiesen ist, definitiv, solange es Arbeitsteilung gibt. Spitzenqualität gibt es aber nur bei Arbeitsteilung. Wenn jeder alles kann, kann jeder alles nur ein bisschen. Das war in der DDR, der Not gehorchend, weit verbreitet und ein Erlebnis sui generis, das auch ich genossen habe, aber leider sehr unproduktiv.

Die nach dem Hegelschen Entäußerungsmodell verstandene menschliche Arbeit, die dieser Herkunft wegen sich de facto am Produzieren orientiert, ist aber in noch einem weiteren Sinne defizitär. Marx hat von Adam Smith die Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Tätigkeit übernommen. Als unproduktive Tätigkeiten versteht Smith Rechtsanwälte, Pfarrer, Ärzte, Lehrer, Diener. Da sind also die drei klassischen Fakultäten der mittelalterlichen Universität abwertend versammelt. Aber was haben denn diese drei mit den Dienern gemeinsam? Sie bringen keine Produkte (Dinge) hervor, sondern befassen sich mit menschlichen Angelegenheiten, der Gesundheit des Leibes, der Seelen Seligkeit (sich geistig und ethisch orientieren können), den Gütern, dem Haushalt. Man könnte auch sagen: mit Fragen, die sehr gewichtig sind, weil sie das betreffen, was nun mal für Menschen sehr wichtig ist. Es geht jeweils um Pflegen, Gedeihenlassen, und nicht um Produzieren. Hier ließe sich darlegen, welche fragwürdigen Folgen diese wertende Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit in den sozialistischen Ländern hatte. Die Lehrergehälter waren niedrig mit der Begründung, dass das ja unproduktive Arbeit sei. Das erzeugte natürlich Unmut bei Lehrern. Also gab man ihnen eine erhöhte Rente zum Ausgleich, was nun wieder Anerkennungsprobleme im Zuge der deutschen Vereinigung erzeugte.

Interessant ist die Frage, ob denn Wissenschaft und Forschung nach diesem Kriterium als produktive Arbeit verstanden werden sollen und können. In der DDR war viel von der Produktivkraft Wissenschaft die Rede. Für angewandte und besonders für Industrie-Forschung ist das noch einigermaßen plausibel, obwohl es etwas schwierig ist, eine Erfindung als Produkt zu verstehen. Der Ausdruck ›Gesellschaftswissenschaften‹ suggerierte, dass auch hier nach anwendbaren Ergebnissen für die Gesellschaftsingenieure gesucht wird. Wir schweigen darüber, was nach diesem Muster dann zutage gefördert und ›angewandt‹ wurde. Wer sich diesbezüglich quälen möchte, lese einmal ein Heft der damaligen Deutschen Zeitschrift für Philosophie von Anfang bis Ende auf einmal durch. Gar nicht erfasst werden konnte nach diesem Muster, dass für nichttechnologische Wissenschaften der Maßstab die Wahrheit ist. Nicht dass die jeweiligen Resultate etwa der Geschichtswissenschaft für sich beanspruchen könnten, die reine Wahrheit zu sein, wohl aber dass nach dem Maßstab: erkunden, wie es wirklich war, bisherige Positionen kritisiert werden und die neue sich als Verbesserung ausweisen muss – und nicht nach dem Maßstab, dass sie besser ›anwendbar‹ sei.

Wenn jene Wert- und Mehrwerttheorie in ökonomischer Hinsicht so viele Fragen aufwirft, soll das heißen, dass sie als Fehlleistung keine Beachtung verdient? Das wäre wiederum zu einfach. Gewirkt hat diese Theorie ja mit der These: eigentlich steht den Arbeitern als den Wertschöpfern mehr zu als der Hungerlohn, den sie tatsächlich ausgezahlt bekommen, und der kaum zum Überleben reicht. Dieses Urteil ist ja in der Geschichte der Industrialisierung tatsächlich weithin gesellschaftlich akzeptiert worden und hat, durch die Zulassung von Gewerkschaften und des Streikrechts (zuvor wurden Streiks als Aufruhr bestraft), zu Lohnsteigerungen geführt, die es nach der reinen Marxschen Lehre der wachsenden Verelendung gar nicht hätte geben können (und unter Bedingungen der Sklaverei auch nie gab!). De facto hat die Mehrwerttheorie zu mehr Gerechtigkeit geführt. Den Maßstab der Gerechtigkeit haben aber Marx und Engels für ihre Theorie immer abgelehnt.

So werden wir wohl sagen müssen: Die Mehrwerttheorie von Marx ist eine als ökonomische Theorie verkleidete Gerechtigkeitstheorie, weil es eine Gerechtigkeitstheorie nicht geben sollte. Auch deshalb ist sie ökonomisch gesehen unbrauchbar.

 

Anhang: Zwei Fragen.

  1. Kann eine vollautomatische Fertigungsstraße aus Industrierobotern nach marxistischer Auffassung Werte schaffen, wenn dort Menschen nur noch als Kontrolleure vor Bildschirmen anzutreffen sind? Äußern auch Industrieroboter beim Produzieren ihre Wesenskräfte? Die erste Frage hatte seinerzeit schon Sombart gestellt.
     
  2. Eugen Roth:
    »Ein Mensch malt, von Begeist’rung wild, zehn Jahre lang an einem Bild.
    Dann stellt er’s fertig vor sich hin und sagt: da steckt viel Arbeit drin.
    Doch damit war’s auch leider aus.
    Die Arbeit kam nie mehr heraus.«
    Ist das schon eine Widerlegung der Marxschen Mehrwerttheorie?

 

Geschrieben 2018

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