Renate Solbach: Der Bogen

I

»Die Wege zum Kommunismus können wir nur finden, wenn wir uns auf den Weg machen und sie ausprobieren, ob in der Opposition oder in der Regierung.« Mit diesen Sätzen hat Gesine Lötzsch, Parteivorsitzende der Linken, erstmals richtig von sich reden gemacht, allerdings zu ihrem und ihrer Partei großem Schaden. Denn sie hat weder erklärt, was sie unter Kommunismus verstehen möchte, noch die Toten und den Terror im Namen des Kommunismus erwähnt. Klügere aus ihrer Partei, nämlich Gregor Gysi und Oskar Lafontaine, sind ihr beigesprungen. Was taugen ihre Argumente?

Hier nehme ich mir nur Gregor Gysi vor. »Unter Kommunismus kann man Verschiedenes verstehen. Stalin, Marx, die Mauer etwa. Oder, was Marx meinte: eine Gesellschaft ohne Klassenunterschiede, in der Eigentum sozial gerecht verteilt ist und alle weniger arbeiten müssen, die Vision einer in jeder Hinsicht gerechten Gesellschaft« (TSP). »Karl Marx und Friedrich Engels stellten sich unter Kommunismus die gerechteste Gesellschaft vor« (DLF). Da sitzt er aber einem verbreiteten Irrtum auf. Nirgends haben sie den Kommunismus als gerechte Gesellschaftsordnung bezeichnet. Es gehört zu den Paradoxien des Marxismus, dass er für viele sensible Menschen aus moralischen Gründen attraktiv war, weil er die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus anprangere, aber Marx und Engels waren stolz darauf, eine Gesellschaftskritik zu vertreten, die Recht und Gerechtigkeit nicht, wie bis zu Proudhon üblich, zum Maßstab nimmt. Es gibt keine marxistische Gerechtigkeitstheorie.

Auch über sozial gerechte Eigentumsverteilung wird man bei Marx und Engels nichts finden. Hohn und Spott gießt Marx in der »Kritik des Gothaer Programms« über die Forderung nach »gerechter Verteilung des Arbeitsertrags« aus. Nur in einer ersten Phase des Kommunismus werde nach gleichem Recht verteilt. Das sei aber ein Missstand, weil die Menschen verschieden begabt und leistungsfähig sind. Ergo: »Es ist daher ein Recht der Ungleichheit seinem Inhalt nach, wie alles Recht.« Und was ist die Lösung dieses tatsächlich vertrackten Problems? Der Überfluss. Dieser soll durch Aufhebung der Arbeitsteilung und durch die Entfesselung der Produktivkräfte den Grundsatz ermöglichen: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.« Tatsächlich stellen sich Gerechtigkeitsfragen nur bei knappen Gütern. Es gibt aber leider unaufhebbar knappe Güter. Engels: »In einer Gesellschaft, wo die Motive zum Stehlen beseitigt sind, … wie würde da der Moralprediger ausgelacht werden, der feierlich die ewige Wahrheit proklamieren wollte: Du sollst nicht stehlen.« Lächerlich macht sich wohl eher derjenigen, der eine Gesellschaft ohne Motive zum Stehlen für möglich hält. Marx und Engels waren stark in der Kritik des Kapitalismus, aber schwach und manchmal erschreckend weltfremd in ihren wenigen Andeutungen zur Alternative, dem Kommunismus.

Der Kommunismus war für sie auch keine ›Vision‹, wie Gysi behauptet.

Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufheben wird...
(Deutsche Ideologie)

Die wachsende Verelendung des Proletariats und der wachsende Konzentrationsprozess des Kapitals werden dazu führen, dass die Produktivkräfte die Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sprengen und den gesellschaftlichen Reichtum entfesseln, nämlich in den führenden Industriestaaten.

Der Kommunismus ist empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker auf einmal und gleichzeitig möglich.

So war es gedacht. Es kam aber anders. Gewerkschaften erkämpften Lohnerhöhungen. Die Arbeiter wurden als Kunden für Massengüterproduktion wirtschaftlich interessant. Der Staat regulierte durch Arbeitsrecht die Arbeitsbedingungen, er schuf Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung. Und das allgemeine Wahlrecht verschaffte den Arbeiterparteien politischen Einfluss. Auf Seiten des Kapitals gab es zwar Konzentrationsprozesse, es entstanden aber auch immer wieder neue kleinere Betriebe. Der Staat schützte die Konkurrenz durch Monopolverbot. Und der wissenschaftlich-technische Fortschritt forcierte Spezialisierung und Arbeitsteilung statt sie aufzuheben.

All dies führte sozialdemokratische Theoretiker in den Industrieländern dazu, die Marx’sche Theorie aufgrund neuer Einsichten zu revidieren. Das veranlasste Lenin, den Ketzernamen ›Revisionismus‹ zu erfinden und eine Marx-Orthodoxie zu installieren, die das Wort Kommunismus, seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts fast in Vergessenheit geraten, wiederbelebte und nach der Oktoberrevolution (in einem Agrarland!) zum Namen von Parteien erhob, die sich vor allem von der Sozialdemokratie abgrenzten. Der wichtigste Unterschied zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten betraf den Weg zu einer besseren Gesellschaft. Die Sozialdemokraten – und der späte Engels – akzeptierten die parlamentarische Demokratie, die Kommunisten dagegen (auch Rosa Luxemburg!) lehnten sie als bürgerliche Scheindemokratie ab und protegierten die »Diktatur des Proletariats«. Gysi lehnt diese zwar ausdrücklich ab. Aber mit dem, was er zugunsten von Marx vorbringt, wandelt er ahnungslos über Abgründen. Marx habe doch die Diktatur der Mehrheit über die Minderheit gemeint, während bisher eine Minderheit über die Mehrheit geherrscht habe (DLF). Das ist zwar richtig, aber Diskriminierung, Ächtung oder gar Lynchjustiz durch die Mehrheit sind schlimmer noch als die Tyrannei einer Minderheit, denn sie machen unendlich einsam. Grundrechte und Menschenrechte sollen auch vor der Mehrheit schützen – und vor dem Staat. Aber das haben weder Marx noch die Kommunisten je begriffen, obwohl doch unter Stalin viele Kommunisten dieses schreckliche Ausgeliefertsein selbst erlebt hatten!

Unter Kommunismus, sagt Gysi, hätten Marx und Engels eine Gesellschaft verstanden, in der »alle weniger arbeiten müssen.« Ob das bei Facharbeitermangel und wachsender Rentnerzahl bei uns heute überhaupt möglich ist, ist die eine Frage. Die andere: ob dergleichen überhaupt wünschenswert ist. Dass mehr Freizeit auch mehr Freiheit bedeutet, ist ein verbreiteter Irrtum von Schlaraffenlandniveau. In Wahrheit leiden Arbeitslose sehr oft unter zu viel Freizeit und freuen sich keineswegs darüber, dass sie endlich Zeit haben für die anspruchsvolleren Tätigkeiten, um Künstler, Dichter und Denker zu werden, wie Marx das für die wachsende Freizeit erwartet hatte. Sie hängen vorm Fernseher. Sie konsumieren statt zu produzieren. Und manche, die sich lebenslang gefreut haben, als Rentner unbegrenzte Zeit für ihr Hobby zu haben, haben nach wenigen Wochen von ihrem Hobby die Nase voll. Der Beliebigkeit der Hobbys eignet ein Hauch von Nichtigkeit. Da erwacht der Wunsch nach echter Arbeit, bei der man weiß, warum und wozu man sie tun muss. Freiheit als Freizeit zu Beliebigem, das ist bloß ein Sklaventraum. Wer wirklich (und auch innerlich) frei ist, möchte etwas tun, das getan werden muss, zum Beispiel den Enkel vom Kindergarten abholen oder bei übergroßer Hitze den Straßenbaum gießen.

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