Renate Solbach: Sonnenaufgang

Als die Gründer der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 über die Refiguration eines staatlichen Systems debattierten, entschieden sie sich für den Aufbau einer freiheitlich demokratischen Grundordnung. Als Referenz für die Staatsgründung (als positive wie negative Folie) stand die Weimarer Republik mit ihren Stärken und Schwächen als »erste parlamentarische Demokratie auf deutschem Boden« (Kost 2008: 20) als Vorbild sowie als Vorläufer des Nationalsozialismus zur Abgrenzung. So basierte die staatliche Ordnung zwar weitgehend auf den Prinzipien der Weimarer Verfassung, enthielt aber gleichzeitig bedeutsame Änderungen in dem Bestreben, dessen Schwachstellen und damit eine erneute Entwicklung zu vermeiden, die seinerzeit zur Außerkraftsetzung der rechtstaatlichen Demokratie geführt hatten. (Fraenkel; Bracher 1959: 316) Mit dem Grundgesetz entstand im Westen Deutschlands eine repräsentative Demokratie.

Im heutigen Europa gelten demokratische Rechtsstaaten als bevorzugte Form der staatlichen Organisation und stehen gleichzeitig vor der Frage, wie man im Zeitalter des Neoliberalismus demokratische Prinzipien aufrechterhalten kann. In mehreren Ländern lässt sich eine nachlassende Akzeptanz parlamentarisch-demokratischer Ordnungen beobachten. Zwar wuchsen die meisten Angehörigen der westeuropäischen Nachkriegsgeneration in einer Gesellschaft auf, die auf Werten wie Aufstieg, Fortschritt, Bildung, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie baute (Welzer H 2013), doch gleichzeitig hat seit den 1970er Jahren die innerstaatliche soziale Ungleichheit zunächst im angelsächsischen Raum, dann auch in Westeuropa zugenommen (Schäfer 2010; 2015: 73). Die Sozialforschung spricht hier von einem »great U-Turn«, einer »großen Kehrtwende« (Alderson; Nielsen 2002) der Einkommensverteilung. Im folgenden Beitrag wird die These ausgeführt, dass sich soziale Gerechtigkeit auf die Stabilität einer Demokratie auswirken kann. Zunächst wird das Verständnis von Demokratie in Grundzügen dargestellt, um sie dann im Zeichen sozialer Gerechtigkeit zu betrachten.

Die Frage nach Demokratie

Wenn wir von Demokratie sprechen, ist nicht automatisch davon auszugehen, dass alle dasselbe darunter verstehen. Auch werden nicht alle Positionen hinsichtlich der Aufgaben übereinstimmen, die demokratische Verhältnisse erfüllen sollen. Das Konzept ›Demokratie‹ gehört zu einem der zentralen vieldiskutierten Konzepte der Politikwissenschaft. Ein einheitliches Verständnis wird allein schon durch die Frage erschwert, ob es sich um ein graduelles oder ein klassifikatorisches Konzept handelt. (Sartori 2006: 184)

Zahlreiche Begründungen und Erklärungen verweisen auf die philosophischen Ansätze von Platon bis Locke und Montesquieu wie auch auf Verfassungstexte. Der Duden versteht Demokratie als »politisches Prinzip, nach dem das Volk durch freie Wahlen an der Machtausübung im Staat teilhat.« (Duden 1976: 507) Als Funktionen demokratischer Regierungssysteme führt die Bundeszentrale für politische Bildung Effizienz und Legitimität an: So solle ein demokratischer Staat zum einen Probleme lösen und allgemein verbindliche Entscheidungen fällen können und zum anderen den Willen des Volkes berücksichtigen und die Beteiligung der Staatsangehörigen gewährleisten. (BpB 2017:332)

Auch im medialen Diskurs wird auf wesentliche Aufgaben der demokratischen Grundordnung eingegangen: So verweist die Publizistin Daniela Dahn in diesem Zusammenhang auf die Machtbeschränkung, die durch die Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive, Judikative) Missbrauch verhindern soll ((Dahn 2013: 8) ); der Ökonom Max Otte insbesondere auf den Schutz des Individuums und den Schutz öffentlicher Räume für Meinung und Journalismus (Otte 2014).

Doch ist unter Demokratie nur die Form staatlicher Organisation zu verstehen? Albert Einstein äußerte 1940, dass er unter Demokratie nicht nur eine Regierungsform verstehe, die auf einer soliden Verfassung basiere, sondern vielmehr einen Lebensstil, der in einer großen Tradition der moralischen Strenge verankert sei (Einstein in: Pais 1998: 260). In diesem Zusammenhang betonte er, dass nicht der Mensch als Werkzeug für den Staat existiere, sondern vielmehr der Staat als ein Mittel zum geordneten Dasein von Menschen. Damit verstehe er die freie Entfaltung des einzelnen Menschen und seiner Fähigkeiten als das einzig berechtigte Ziel politischen Strebens (Einstein 1975: 331). Nach seiner Sicht sei Demokratie als ›Herrschaft des Volkes‹ nur möglich, wenn der einzelne nach zwei Prinzipien handele: Zum einen im Glauben an das gesunde Urteil und den gesunden Willen des Volkes und zum anderen in der Akzeptanz des durch Abstimmung und Wahl bekundeten Volkswillens, auch wenn dieser zur eigenen persönlichen Ansicht im Widerspruch stehe (Einstein 1975: 44f.).

Das Leitprinzip von Demokratie zielt auf die Souveränität des Volkes; dies bedeutet die Unterwerfung staatlicher Organe unter das demokratische Gesetz wie auch die Ermöglichung von Teilhabe der Bevölkerung im politischen Prozess. Die aktive Partizipation als Basis einer demokratischen Konsensentwicklung über sämtliche für die Gesellschaft relevanten Fragestellungen ist dabei ein zentrales Element (Mausfeld 2016). Trotz dieses gesellschaftsnahen Ansatzes befindet sich das demokratische Prinzip unter Druck, wird von verschiedenen Bewegungen fundamental kritisiert und in seiner Funktionsfähigkeit in Frage gestellt (BpB 2017).

Soziale Gerechtigkeit und demokratisches Interesse

Unter den gegenwärtigen neoliberalen Verhältnissen mehren sich die Stimmen, die vor einem Abbau sozialer Gerechtigkeit und damit von Demokratie warnen (Lange; Himmelmann, 2017: 81). Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Etablierung marktlicher Elemente im Sozialstaat in Form von Rationalisierung, Privatisierung und Ökonomisierung bemerkt eine kritische Öffentlichkeit die Demontage sozialer Sicherheiten (Butterwegge 2013: 387; Dobner 2007: 141), in der gesellschaftliche Risiken individualisiert, solidarische Leistungen in den privaten Vorsorgebereich überführt werden (Hengsbach 2012). Seit 1980 verfolgt das Gros der reichen westlichen Demokratien einen Kurs wirtschaftlicher Liberalisierung in dessen Zuge staatsnahe Sektoren und öffentliche Unternehmen privatisiert, Subventionen abgebaut und Banken- und Finanzwesen dereguliert wurden (Schäfer 2015: 62). In demselben Zeitraum ist die Einkommensverteilung in diesen Staaten ungleicher geworden (Burmester; Scherg 2013:194). In Deutschland lässt sich eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich feststellen: Während der Staat sich mittlerweile mit 1.986 Milliarden Euro (03/2017 – Statistisches Bundesamt 2017) verschuldet hat, beläuft sich das Privatvermögen auf 5.586 Milliarden Euro (04/2017 – Manager Magazin 2017). Der Politikwissenschaftler Armin Schäfer bemerkt zwischen der Liberalisierungspolitik und der Einkommenspolarisierung einen systematischen Zusammenhang (Schäfer 2015).

Gleichzeitig kann schwindende soziale Gerechtigkeit starkes Konfliktpotential generieren. Bereits in den 1920er Jahren hat der Jurist und Staatstheoretiker Hermann Heller darauf hingewiesen, dass Demokratie nur funktionieren könne, wenn ein gewisses Maß an sozialer Homogenität existiere (Heller 1992: 425). Seiner Ansicht nach müsse Demokratie scheitern, »wo sich alle politisch relevanten Volksteile in der politischen Einheit in keiner Weise mehr wiedererkennen, wo sie sich mit den staatlichen Symbolen und Repräsentanten in keiner Weise mehr zu identifizieren vermögen. Ohne einen Grundkonsens der ›politischen‹ Nation verlieren die Spielregeln der Demokratie, wie die Mehrheitsentscheidung, ihre integrierende und legitimierende Wirkung. « (Heller 1992: 425)

Schäfer, der im Auftrag der Bundesregierung den Armutsbericht verfasst hat, kommt zu dem Schluss: Wer über ein höheres Einkommen verfüge, sei stärker an Politik interessiert und zufriedener mit der Funktionsweise der Demokratie (Schäfer 2015: 87). Gleichzeitig wirke sich soziale Ungleichheit negativ auf die Zufriedenheit und das Vertrauen in demokratische Strukturen aus (Schäfer 2015:149). Seine Analysen erhärten den Verdacht, dass die Interessen derjenigen, die über mehr Geld verfügen, bei politischen Entscheidungen stärker berücksichtigt werden. Die damit einhergehende Auseinanderentwicklung sozialer Milieus können das Ansehen der Demokratie und das Vertrauen in die Politik beschädigen.

In diesem Zusammenhang unterstreicht der Jurist Andreas Fisahn, dass eine zu ausgeprägte soziale Ungerechtigkeit zu Störungen bei der Umsetzung allgemeiner Gesetze führe (Fisahn 2017b: 47). Reale Ungleichheiten könnten die Bereitschaft von Minderheiten gefährden, Mehrheitsentscheidungen mitzutragen. In Zusammenhang des gesellschaftlichen Strukturwandels konstatiert Fisahn eine »Entfremdung der Politik von den Menschen«, die sich in einer Distanz zwischen politischen Einflussträgern und der breiten Bevölkerung, als »Krise der Repräsentation«, ausdrücke (Fisahn 2017a). Eine erkennbare Folge sei die sinkende Wahlbeteiligung, die statistisch nachverfolgbar ist. Weiter bemerkt Fisahn, dass der prekäre Teil der Gesellschaft versuche, die Angst vor sozialem Abstieg neoliberal, also individualistisch – nicht kollektiv, egoistisch – nicht solidarisch, zu verarbeiten (Fisahn 2017a). Gleichzeitig sei Demokratie auf die Beteiligung von Menschen angewiesen, die neben ihren individuellen Interessen auch ein allgemeines Interesse verfolgen könnten und wollten. Diese Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Ungleichheit und der Einstellung gegenüber der Demokratie lassen den Schluss zu, dass sich soziale Gerechtigkeit auf die Stabilität einer Demokratie auswirken kann.

Zwar benötigt eine funktionierende Demokratie keine umfassende Gleichheit, doch kann eine ausgeprägte gesellschaftliche Ungleichheit diese in ihrem Kern bedrohen (Schäfer 2015:152): Während die oberen Schichten in der Lage sind, ihren politischen Einfluss weiter auszudehnen, werden Mittelschichten intoleranter gegenüber Ungleichheit und verabschieden sich die einkommensarmen Schichten mehr und mehr aus dem politischen Prozess. Unter diesen Bedingungen entgleiten der Demokratie zunehmend ihre Möglichkeiten, die Interessen der Bevölkerung bei ihren Entscheidungen zu vertreten und die Märkte zu regulieren (Mau 2016 ).

Fazit

Soziale Gerechtigkeit lässt sich als konstitutives Element demokratischer Gesellschaftsordnungen verstehen. Die Gegenwartsdiagnosen Schäfers und Fisahns verorten gesellschaftliche Ungleichheit als demokratierelevant. Dem politischen Soziologen Steffen Mau ist zuzustimmen, wenn er resümiert, dass »immer dann, (...) wenn sich Ungleichheiten zeitlich, räumlich und sozial verfestigen – ob in Gated Communities der Privilegierten oder abgehängten Wohnquartieren der Marginalisierten – (...) auch die politische Gleichheit auf dem Spiel (steht), auf die Demokratien zwingend angewiesen sind.« (Mau 2016) Aus diesen Gründen gehört es zu den dringenden Pflichten von Politik und Gesellschaft gegen Entwicklungen zu insistieren, die zentrale Institutionen des gesellschaftlichen Solidarsystems abbauen, das soziale Leben privatisieren und den Regeln eines neoliberalen Wirtschaftsprinzips unterordnen, um damit letztlich der Gefahr der Erosion der Demokratie entgegenzuwirken (Mouffe 2010; Welzer 2013).

Literatur:

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MAU S.: Wieviel Ungleichheit verträgt Demokratie? Heinrich-Böll-Stiftung. Debatte (14.01.2016), https://gutvertreten.boell.de/2015/01/05/beziehungsstress-politische-gleichheit-und-oekonomische-ungleichheit
MAUSFELD R.: Die Angst der Machteliten vor dem Volk. Vortrag IPPNW-Hamburg 02.11.2016
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SCHÄFER A.: Der Verlust politischer Gleichheit. Frankfurt: Campus 2015: 73
STATISTISCHES BUNDESAMT: Öffentliche Schulden zum Ende des 1. Quartals 2017 - Pressemitteilung Nr. 222 vom 29. 06. 2017, https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2017/06/PD17_222_713.html;jsessionid=9F2898E4FCD1D8CB45AB0AE5716417BD.cae3
WELZER H.: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt: Fischer 2013

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