Renate Solbach: Sonnenaufgang

Motive

Motiv als Ergebnis psychologischer Rationalisierung

Die Sozialontologie setzt bei der bereits konstituierten Intersubjektivität an, sie arbeitet vor dem Hintergrund der Gesellschaft und betrachtet alle Phänomene, die sich innerhalb von ihr abspielen, als »nachgesellschaftlich.« Der gleiche Sachverhalt wird handlungstheoretisch durch die Auffassung deutlich gemacht, der Handlungskette könne alles zugerechnet werden, sobald es die Reflexivitäts- bzw. Bewusstseinsschwelle überschritten hat, die daher auch als Handlungsschwelle bezeichnet werden kann. Die einseitige Bindung des Motivbegriffes an Triebe und Affekte wurde einerseits durch Triebpsychologien verbreitet, die die »sekundären Prozesse« als Strombetten für den Abfluss der Energie der »primären Prozesse« im Sinne Freuds auffassten und somit Motivation mit Affekt oder elementarem Bedürfnis gleichsetzten; und andererseits durch die neuen Hermeneutiker (s. u.), die aus dem genau entgegengesetzten Grund diese Definition in den eigenen theoretischen Korpus aufnahmen: Die Gleichsetzung von Motiv und Trieb oder Affekt ließ die Rationalität bzw. die Macht der rationalen Gründe in einem günstigeren Licht erscheinen. (SO 458f.) Fasst man hingegen »Motiv« im allgemeinen als »Beweggrund« auf – niemand behauptet, alle Handlungen würden allein durch Triebe und Affekte motiviert – kann man zum »Motiv« nicht nur den rationalisierten Trieb oder Affekt und den gegen diesen sich stemmenden rationalen Grund, sondern auch »einen unvermittelt-elementar (d.h. immer: nur minimal reflektiert, nicht: vollkommen unreflektiert) in eine äußere Handlung übergehenden Trieb oder Affekt nennen.« (SO 459) Das Motiv ist danach imstande, abwechselnd mit allen psychisch-geistigen Vermögen Verbindungen einzugehen. »Das Motiv kann also durch mehrere mögliche Ursachen bedingt werden, die wir konventionell Affekt, Gefühl, Disposition, Kalkül etc. nennen, kein Mensch ist aber imstande, aufgrund einer gesetzmäßig bestehenden Hierarchie dieser Ursachen mit Gewissheit vorherzusagen, wie und wann jede dieser Ursachen wirken wird.« (SO 459f.)

Motiv als Sinnzusammenhang

Der Einfluss der sozialen Beziehung auf die Rationalisierung von Trieben und Affekten wird von Kondylis als psychologische Rationalisierung bezeichnet. Dieser Einfluss ist auf der Ebene der höheren Reflexions- und Denkleistungen einschneidender, denn Motive bilden sich dort oft (nicht immer) aufgrund der Annahme einer grundsätzlichen Zielerreichbarkeit aus. Die Motivbildung gründet hier auf einer Einschätzung der Situation, und dabei zählt die soziale Beziehung am stärksten. Denn sie aktiviert Aktualitäten und Potentialitäten, d.h. eine Beurteilung des Charakters, der Chancen und möglichen Bewegungen der relevanten Akteure im Spektrum der sozialen Beziehung – einschließlich jener Faktoren, von denen ein Akteur annehmen kann, sie würden auf die Gestaltung der sozialen Beziehung so oder so Einfluss nehmen, nämlich Einstellungen und Werte der Mithandelnden, sowie herrschende Verhaltensweisen, Sitten und Institutionen. All diese für die Motivbildung wichtigen Faktoren bilden im Sinne von M. Weber den »Sinnzusammenhang«, der dem Handelnden und dem Beobachter die Begründung für sein Verhalten gibt. (SO 462)

Der Einfluss der sozialen Beziehung macht sich auch (mittelbar) in den Fällen bemerkbar, in denen die Motive dem Ich – nach entsprechenden Rationalisierungen – Selbstdeutungen der Handlung ex post facto bereitstellen. Und indem sie das tun, verwandeln sie sich aus einem Bewegrund zu Komponenten (äußeren) Handelns. Sie versuchen durch ihre geeignete Inszenierung nach außen, den Anderen für die eigene Sache zu gewinnen. Es kommen aber auch Fälle vor, in denen das Ich die ihm von Anderen zugeschrieben Motive internalisiert, um seinen Erwartungen entgegenzukommen.

Motiv als Zweck

Die alltagssprachlichen Ausdrücke »was war sein Motiv«, »aus welchem Grund hat er das getan«, »was hat er damit bezweckt« werden weitgehend synonym gebraucht, was auf den engen Zusammenhang von Motiven und Zwecken im Hin und Her der sozialen Interaktion verweist. Der Akteur kann das Motiv als solches, ohne Bezug auf das, wozu er durch dieses spezielle Motiv gebracht wird, kaum erfassen. Es sind zwei mögliche Wege der Motivbildung im Zusammenhang mit den Zwecken denkbar:

  • a) Das Motiv bestimmt den Zweck; dieser bildet sich im Anschluss an die Motive heraus. Der so entstandene Zweck bewirkt eine Aufspaltung der Funktionen des Motivs, denn die Antriebsfunktion bleibt beim Motiv im engeren Sinne, während die Orientierungsfunktion auf den Zweck übergeht. (vgl. SO 462) Die Orientierungsfunktion ist die sozialontologisch relevante, denn sie verweist auf die Außendimension der Motivbildung (Charakter der relevanten Akteure, Situation), jene Dimension also, die den direkten Übergang des Motivs in den Zweck erzwingt.
  • b) Das Motiv wird durch den Zweck (mit-)bedingt, Motive bilden sich oft erst über die Orientierung an Situationen und vermuteten Handlungsspielräumen, d.h. im Hinblick auf mögliche Zwecke. Man kann analytisch die Motive in äußere (Weil-Motive) und innere (Um-Zu-Motive) einteilen. (SO 463, 337f.) »Zweck wäre dann der wenigstens zum Teil von außen kommende und sich nach außen orientierende Beweggrund, das Motiv bestünde in den inneren Gründen, die den Akteur dazu bringen, sich ausgerechnet diesen Zweck zu setzen.« (SO 463)

Rationalitätszwang als Bedingung der Differenzierung von psychologischer Rationalisierung und Handlungsgründen

Wenn man die Verfeinerung, Verwandlung, Umleitung oder Überwältigung von Affekten und Trieben bei der Motivbildung verstehen will, muss die soziale Beziehung und die volle Anerkennung ihres Beitrages zur Rationalisierung der Motive berücksichtigt werden. Das »Motiv als Beweggrund des Handelns verdichtet in sich all diese inneren und äußeren Vorgänge und kann daher in seiner Sinnhaftigkeit erst vor ihrem Hintergrund erfasst werden.« (SO 462) Die Behandlungsweise der Motivationsbildung vor dem Hintergrund der sozialen Beziehung behält selbstverständlich ihre Geltung bei der Untersuchung aller anthropologisch-sozialontologischen Parameter von Sinn, Rationalität, Identität etc. (SO 545) Der Erfolg eines solchen methodischen Vorgehens belegt rückblickend – also nach Konstituierung der Sozialontologie als einer Fachdisziplin – die Fruchtbarkeit der theoretischen Entscheidung, im Rahmen der bereits konstituierten Intersubjektivität bzw. vor dem Hintergrund der sozialen Gruppe zu operieren. Eine genetische Analyse der Fundamente der formalen Logik und Rationalität könnte auf fast direktem Weg ihren Ursprung aus den Realitäten und Notwendigkeiten der praktischen Orientierung in der Welt nachweisen. Viele Tiere leben zwar kollektiv und einige davon haben sogar elementare Mechanismen der Verteilung von Subsistenzmitteln; es gibt auch zeitweilige Kooperation bei solchen, die in Gruppen leben. Aber nur Menschen arbeiten (handeln) zusammen, um die zum Überleben nötige Nahrung zu gewinnen. Schon in der Urhorde machen die Jäger das, was die kollektive Bewältigung des Problems der Korrelierung von Zweck und Mittel miteinander nötig macht. Die Menschen treten bei dieser kollektiven Produktion und der Verteilung der gewonnenen Subsistenzmittel in soziale Beziehungen, deren Gestaltung Rationalität verlangt und zugleich Rationalität fördert, bis schließlich die biologischen Gesichtspunkte der Gattung hinter den sozialen Aspekten verschwinden. Die soziale Beziehung bildet den Übungsplatz für die Handlungsrationalität. Im Rahmen der kooperativen und antagonistischen sozialen Beziehung entwickelt das Mitglied der Gruppe im Kampf gegen die Natur technische Rationalität, aber auch seine soziale. Rationalität bedeutet auch Aufschub der Bedürfnisbefriedigung. Hier liegt die gemeinsame Wurzel von Technik bzw. technischer Rationalität und von Ethik bzw. ethischer Rationalität. Ebenfalls wird die Rationalität der Korrelierung von Zweck und Mittel und der konsistenten Darstellung des Sinnes entwickelt, wobei die Logik der Identität auf den Plan tritt. Die Entstehung dieser Logik der Identität verlangt nach einer Erklärung:

Das Wichtigste für den Menschen bleibt immer der Mensch, was der Mensch über den Menschen direkt oder indirekt denkt, wie der Mensch auf den Menschen unmittelbar oder mittelbar reagiert. Um ein mehr oder weniger verlässliches Urteil darüber zu bilden, muss sich Ego einen Zugang zu Alter verschaffen. Es muss sich in die Lage von Alter versetzen, also die fremde Perspektive einnehmen. Eigenes Handeln gründet demnach auf Vorwegnahme fremden Handelns, von dem Ego weiß, dass Alter auch die Fähigkeit hat, fremdes Handeln durch Perspektivenübernahme vorwegzunehmen. Diese ist als mentaler Akt eine emotionale Identifizierung des Ich mit dem Anderen; sie würde sich darin erschöpfen, wenn sie sich nicht als reflexiver Akt betätigen könnte. (SO 399f.) Die Überwindung des emotionalen Elements erfolgt durch die beiderseitige Rationalitätsannahme. Ego könnte sich kaum in die Lage des Anderen versetzen, wenn es ihm nicht einen mehr oder weniger konsistenten Zusammenhang zwischen seinen Zwecken und Mitteln, Motiven bzw. Gründen und Handlungsentwürfen unterstellte. Indem Ego die Rationalität von Alter annimmt, vollzieht es selber rationale Denkakte, übt sich selbst in der Rationalität; es unterwirft sich damit freiwillig oder unfreiwillig dem Rationalitätszwang. Die Rationalitätsannahme – so lehrt es die soziale Praxis – führt am weitesten. Also besteht die Sozialisierung auch darin, zu lernen, nicht instinktiv zu reagieren, sondern Handlungen zu begründen und durch Gründe zu rechtfertigen. Dabei zeigt sich die Rechtfertigungsabsicht nach innen und nach außen. (vgl. SO 552)

Die rationale Deutung des Fremdhandelns, die zugleich eigenes Denken und Handeln dem Rationalitätszwang unterwirft, kann jedoch keine lückenlose psychologische Rekonstruktion des Fremdhandelns sein, sondern nur ein Interpretationskonstrukt. Dies gilt sogar für die Perspektive des Handelnden, obwohl er offenbar die ursprüngliche Quelle des Handlungssinnes ist. Das heißt aber nicht, er habe unter allen Umständen den klarsten Einblick in die Faktoren, die in das eingeflossen sind, was er für den subjektiven Sinn seines Handelns hält. Die subjektive Sinngebung bildet für den Akteur zumindest teilweise ein zweckmäßiges Interpretationsschema, wobei ‚zweckrationale‹ Gesichtspunkte sich für den Handelnden mit dem verbinden, was er für seine Identität hält. (SO 469) Als zweckmäßiges Interpretationsschema geht die Rekonstruktion des Fremdhandelns notgedrungen mit Abstraktionen, Vereinfachungen und Verkürzungen einher. Der Akteur geht genauso wie der Soziologe vor, der seinen Idealtyp unter Absehung bzw. ohne genaue Kenntnis der Motivation des Fremdhandelns auf der Grundlage der Rationalitätsannahme aufstellt. Der Rationalitätszwang bewirkt eine Entpsychologisierung der Betrachtung und richtet den Blick auf den objektiven Sinn des Handelns. (vgl. SO 551)

Gründe...

Nach der oben referierten Auffassung stellen Motive nicht die Schicht der Triebe und Affekte dar, über denen eine Schicht rationaler Gründe liegt, vielmehr gehören rationale Handlungsgründe zu den Motiven im allgemeinen: Motiv ist »Beweggrund«. Wenn das Rationalitätskriterium formal angewandt wird, kann man Motiv und Grund sogar weitgehend gleichsetzen. (SO 460)

In absteigender Stufenfolge ergibt sich folgende Einteilung. Gründe liegen offenkundig in den Fällen vor, in denen 1. Triebe und Affekte gehemmt und überwunden werden; 2. aber auch dann, wenn durch mehr oder weniger elementare Rationalisierungen von Trieben und Affekten einigermaßen kohärente Konstrukte entstehen, die für den Akteur und oftmals für die Anderen den Stellenwert rationaler Gründe besitzen; und 3. auch wenn Triebe und Affekte den unmittelbaren Beweggrund oder das Motiv bilden. (SO 460) In diesem Fall sind die begrifflichen Nuancen zwischen Grund und Motiv verwischt, aber auch hier gilt das Kriterium der minimalen Reflexivität: Selbst bei einem scheinbar besinnungslosen Wutanfall greift der Akteur bei seiner Untat z.B. zu einem Messer und nicht zu einer Feder. Dem Handlungsmotiv des Akteurs entspricht ein Ziel, der Beweggrund gibt die Begründung für das, was der Akteur wollte. Wenn man erklärt, der Akteur handele ohne Überlegung, betont man das Affektive und Unüberlegte, signalisiert aber vor allem nur, dass die Folgen der Handlung nicht in Ruhe erwogen wurden. (vgl. SO 461)

und Ursachen

Der Mensch als biologische Spezies konnte sein Überleben sichern, indem er den Weg der Kultur einschlug; andere Möglichkeiten hatte er nicht. Demnach ist die Kultur des Menschen ebenso Natur wie seine Natur Kultur ist. Die Natur des Menschen zwang ihn, zum Kulturwesen zu werden. (SO 218)

Die Struktur der sozialen Ordnung und der sozialen Verhältnisse wird weitgehend durch den jeweiligen Ausgang des Kampfes der Menschengattung gegen die äußere Natur bedingt. (SO 107) Gerade im planetarischen Zeitalter zeigt sich die Einbettung der Kultur in die Natur in unerbittlicher Deutlichkeit. Von der unauflöslichen Einheit menschliche Natur und Kultur auszugehen, bedeutet zugleich die Rationalitätsannahme (»animal rationale«).

Zwischen den Motiven bzw. Gründen eines Akteurs und seinen Handlungen nehmen die sozial lebenden Menschen unbedingt, wenn auch inhaltlich vage, eine kausale Beziehung an. Wie bereits oben erläutert, nimmt das Ich die Subjektivität des Anderen als dessen Fähigkeit wahr, sich aufgrund eigener Erwägungen zu bewegen, sein äußeres Handeln aufgrund eigener Motive und Absichten zu bestimmen, die so, aber auch anders ausfallen können. Dieser spontane Glaube an die kausale Abhängigkeit der Handlung von Motiven oder Gründen erklärt auch das Bestreben, den äußeren Handlungsablauf beeinflussen zu können.

Auch haben die Menschen schon immer zwei Typen von Handlungskausalität auseinandergehalten. Handlungen, deren Ursache in Motiven bzw. Gründen gesehen wird, wurden von solchen unterschieden, die durch körperliche Gebrechen o. ä. verursacht wurden oder als unbewusst zum Verhalten gezählt wurden. Die Vorstellung von der Handlungsverursachung durch Motive bzw. Gründe hat institutionelle Folgen. Jedes Rechtsystem behandelt die Mitglieder der Gesellschaft grundsätzlich so, als ob sie, wenigstens im Hinblick auf sozial maßgebliche Taten, Träger eines freien Willens seien. Dazu muss die Frage, ob der Mensch über einen freien Willen verfüge, nicht geklärt sein, es wird vielmehr verlangt, dass das menschliche Vermögen, das sein Handeln prinzipiell unberechenbar macht, auch in die Bahnen gelenkt werden kann, die sozial gewünscht sind. (SO 457)

Von »Kausalität« im Sinne von Motiven als Ursachen der Handlung darf man nur dann reden, wenn darunter etwas verstanden wird, das da sein muss, damit etwas anderes eintreten kann, ohne dass aber dieses Eintreten absolut notwendig wäre. (SO 456) In der sozialontologischen Perspektive erscheint eine engere Bestimmung der Art und des Verlaufs der kausalen Wirkung irrelevant. Wie die Gesellschaft (und ihre Institutionen) – ist diese Perspektive auf jene Ebene ausgerichtet, die zwischen Handlungsgründen bzw. Absicht und äußerem Handeln liegt, (es ist die Ebene der Handlungsfreiheit). Unter dieser Ebene liegt die, auf der sich die Determinierung der Gründe und Absichten vollzieht, (die Ebene der Willensfreiheit oder -unfreiheit.) Die dogmatischen Fächer (etwa das Strafrecht) der Rechtswissenschaft kommen gut ohne das Thema »Willensfreiheit« zurecht, und in der Praxis kommt diese tiefer liegende Ebene erst dann in Betracht, wenn die auf der darüber liegenden Ebene angenommene Selbstbestimmung des Subjekts nicht so recht einleuchtet. Die Grenzlinie zwischen den zwei Ebenen bleibt allerdings nicht ein für allemal unverrückbar, sie kann durch geschichtliche und soziale Einflüsse verschoben werden. Dennoch lässt sich ein sozial organisiertes Leben ohne den institutionellen Einbau der Hypothese von der Verantwortlichkeit des Individuums schwer vorstellen.

Ist eine Gesellschaft davon überzeugt, die Mechanismen der Willensbildung ließen sich (natur)wissenschaftlich-neurobiologisch zweifelsfrei erklären, etwa durch »restlose« Erforschung der Struktur und der Funktionsweise des Gehirns, dem als physikalisches System eine lückenlose Kausalität unterstellt ist, dann wäre es im Prinzip möglich, ein naturwissenschaftliches d.h. theoretisches Konstrukt wie den »Determinismus« anstelle der juristischen Konstruktion des »Schuld- und Verantwortungsprinzips« als gesellschaftliches Ordnungsprinzip zu setzen. Bedeutet »Determinismus« die Verneinung der Steuerungsfähigkeit des Verhaltens und folglich der fehlenden normativen Ansprechbarkeit des Täters, so dass nicht von Schuld und folglich nicht von Strafe die Rede sein könnte, dann müsste die Berechenbarkeit des gesellschaftlichen Geschehens anders garantiert werden: »Ein Individuum, das nach den Normen der Gesellschaft eine Straftat begangen hat, kann gemäß dieser Betrachtungsweise kaum im Sinne des Konstrukts der ›Schuldfähigkeit‹ bestraft werden, es könnte aber zu einer verhaltenstherapeutischen Maßnahme verurteilt werden, die seine Gedächtnisrepräsentationen und damit die funktionelle Organisation seines Gehirns verändert. Denn offensichtlich waren zum Zeitpunkt der Tat bestimmte Gehirnrepräsentationen nicht hinreichend stabil oder dominant ausgebildet, um das Handeln im Sinne des sozial Tolerablen zu beeinflussen, um es zum Beispiel gegenüber ›Versuchungen der Umwelt‹ zu schützen.« Könnte man die für die Kontrollfunktion wichtigen Hirnstrukturen nicht verändern, bliebe nur die Konsequenz, »dass Personen, die aufgrund ihrer Disposition potentiell eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen, in Sicherheitsverwahrung genommen werden müssen.« (Frank Rösler, Einige Gedanken zum Problem der ›Entscheidungsfindung‹ in Nervensystemen. In: Zur Freiheit des Willens, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Bd. I (2004) S. 30f.) Rösler bezeichnet Schuldfähigkeit zutreffend als theoretisches Konstrukt. Es fragt sich aber, ob nicht der Terminus »Determinismus« ebenfalls ein Konstrukt ist, ob er die reale Struktur der Welt genau und ohne vermittelnde Interpretation seitens eines Subjekts widerspiegelt, sich also direkt aus den »Tatsachen« ableiten lässt und ob Experiment und Tatsachenfeststellung ohne eine bestimmte Theorie auskommen, welche die Feststellung von »Tatsachen« mit einer wenigstens latenten Interpretation derselben verbindet. In diesem Sinne bringt es die folgende Bemerkung auf den Punkt: »Auch das Libet-Experiment, wonach sich bereits 300 Millisekunden vor einem behaupteten ›Willensakt‹ ein entsprechendes Bereitschaftspotential messen lässt, ergibt das Gewünschte, dass wir nämlich in unseren Entscheidungen nicht frei sind, sondern auch hier durch Naturkausalität bestimmt sind, nur, wenn die Muskelkontraktion, die nach dem Ablauf des Bereitschaftspotentials erfolgt, als Willensakt bzw. als Ausdruck eines solchen Aktes interpretiert wird. Eben dies ist selbst begründungsbedürftig.« ( Jürgen Mittelstraß »Der freie Wille« ebda. S.17)

Inzwischen hat John-Dylan Hayes die Obsoletheit des Libet-Experiments experimentell erweisen können. (Proceedings doi:10.1073/pnas.1513569112). Die im Libet-Experiment gemessene Hirnpotentialänderung bzw. das Bereitschaftspotential sollte beweisen, dass dadurch das Handeln gesteuert würde und es somit den freien Willen des Menschen nicht gäbe. Somit ist die These (Roth und Singer), der freie Wille sei Illusion, hinfällig. Bereits die Arbeit von Kornhuber/Deecke »Hirnpotentialänderungen bei Willkürbewegungen und passiven Bewegungen des Menschen: Bereitschaftspotential...« Pflügers Arch. 284:1-17 (1965) vermeidet die Folgerung, das Bereitschaftspotential steuere das Handeln, was einen vollständigen Determinismus rechtfertigen würde.

Wahrscheinlich wirken bewusste Gründe als Ursachen der Handlungen anders, als es Triebe oder Gestimmtheiten tun, wenn sie mögliche kausale Bestimmungen für diese Gründe sind. Es ist gleichgültig, ob Handlungen frei oder determiniert sind; sie müssen jedenfalls anders als bei einem rein reaktiven Verhalten durch Willensakte auf den Weg gebracht werden; »der Wille muss da sein, egal, ob als freier Akteur oder als letztes Glied einer Determinationskette.« (SO 458) Somit fragt es sich, ob die Verfolgung der Verursachungskette der Gründe über die mentale zu ihrer neuronalen oder fundamentalen physikalisch-quantenmechanischen Basis zum Problem der Willensfreiheit etwas (sozialontologisch) Erhellendes beisteuern kann. Historisch war es so, dass sich um die begriffliche Achse von »Determinismus« und »Freiheit« weltanschauliche Standpunkte bildeten, die das ganze Spektrum der Positionen von der absoluten Trennung über alle möglichen Zwischenstufen bis zur totalen Verschmelzung bzw. Versöhnung repräsentierten.

Der Aufstand des »Geistes« und der Kultur gegen den Materialismus des 19. Jahrhunderts kodifizierte sich im »Neukantianismus« und führte zu richtungsweisenden handlungstheoretischen Positionen, die bereits jene späteren Debatten vorwegnahmen, allem voran die fundamentale Unterscheidung zwischen Natur- und Kulturwissenschaften bzw. die zwischen gesetzmäßigen Naturvorgängen und intentionalem menschlichen Handeln. (SO 453ff.) Die in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts aufkommende Reaktion gegen den Behaviorismus und Neopositivismus und im Anschluss an das Spätwerk Wittgensteins ließ angelsächsische Vertreter glauben, mit dieser Position Neues zu entdecken und »die hermeneutische Richtung gegen Physikalismus und Positivismus erst zu begründen.« (SO 453) Die Reaktion brauchte aber von der Logik ihrer Position her nur ältere Einsichten zu wiederholen oder zu variieren. Während sich Naturereignisse als Anwendungsfälle unabänderlicher allgemeiner Gesetze erfassen lassen, stellt die menschliche Handlung die Folge einer Absicht dar, die auch anders hätte ausfallen können. Durch die Identifizierung naturwissenschaftlicher Kausalität mit Kausalität überhaupt – und zwar in der engen Humeschen Version – konnte man eine rein logische Beziehung zwischen Absicht und Handlung behaupten. Die Spaltung innerhalb der Gruppe erfolgte, als einige ihrer Mitglieder auf den Begriff der »Ursache« nicht ganz verzichten wollten. Die »Kausalisten« lockerten den Kausalitätsbegriff, um ihn auf die Handlungstheorie zu übertragen, während die »Intentionalisten« weiterhin die enge Humesche Auffassung verteidigten, die, indem sie die klare Trennung zwischen Ursache und Wirkung annimmt, die Anwendung des Kausalitätsbegriffes auf das Gebiet der Handlungstheorie ausschließt: Es ließe sich zwischen Handlungsgrund und äußerem Vorgang keine klare Trennung durchführen. Die »Intentionalisten« sichern sich gegen den Einzug des Determinismus in das Gebiet der Handlungstheorie und zwar zum einen a) durch die soeben erwähnte enge Kausalitätsauffassung und zum andern b) durch die Übernahme der Logik des Covering-Law-Modells. Demnach müssten kausal erklärte individuelle Handlungen als Anwendungsfälle von überindividuellen Handlungsgesetzen aufgefasst werden – dieselben Ursachen (Motive, Gründe) müssten immer dieselben Handlungen hervorrufen. Die zwingende Logik des Gesetzes lässt keinen Raum für den Gedanken, kausale Erklärungen seien auch ohne Berufung auf allgemeine Gesetze möglich, dass nämlich eine kausale Erklärung grundsätzlich auch für den konkreten Fall denkbar ist und daher eine kausale Erklärung von Handlungen ohne Berufung auf allgemeine Gesetze voll gültig sein kann.

Literatur

PANAJOTIS KONDYLIS, Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie. Band 1: Das Politische und der Mensch. Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität. Aus dem Nachlass herausgegeben von Falk Horst. Berlin (Akademie-Verlag) 1999 (SO)

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