Renate Solbach: Brechung

Die Abmachung kann durch den Missbrauch einer der Parteien platzen, die zu ihrer Seite hinüberzieht und so das empfindliche Gleichgewicht bricht. Derjenige, der das Missverständnis auf diese Art auflöst, hat nicht unrecht, da er einseitig ein unzulässiges Regime außer Kraft setzt, außerdem hatte er nichts unterschrieben; er ist jedoch auch nicht völlig im Recht, da er als Komplize einer bestimmten Ordnung diese in verräterischer Weise zerstört.

Die Geschichte der zaristischen Ochrana [Geheimpolizei] ist voll von diesem spannenden und schrecklichen Spiel, das sich zwischen der Polizei und den Lockspitzeln, die jeden Moment kurz davor stehen, wirklich wieder Revolutionäre zu werden, abspielt. Die beiden Vertragspartner in diesem teuflischen Pakt – der Polizist, der ausgezeichnet die psychologische Neigung des reuigen Terroristen kennt, erneut ins Lager seiner alten Kameraden hinüberzuwechseln, der Doppelagent, der sich überwacht weiß und die Polizei im Griff hat so wie sie ihn – diese beiden Parteien spielen ein tragisch enges Spiel, sie beobachten sich, sind beim ersten verdächtigen Zeichen zum Sprung bereit. Bis zum Äußersten angespannt zwischen der polizeilichen Erpressung und dem nihilistischen Druck neigt die Situation des Spions dazu, von der Unbeweglichkeit des Paktes zur dialektischen Mobilität der Überbietung zu gleiten; und es ist nicht selten, dass ein russisches Bewusstsein, über dem Steilhang des doppelten Spiels von Schwindel ergriffen, stolpert und die Kontrolle über sein Referenzsystem verliert. Dennoch ist das die erste Lösungsweise dieser Missverständnisse: Das begrenzte und eingefrorene stillschweigende Einverständnis taut auf zum Betrugswettstreit; die unlösliche Klarsichtigkeit schlägt um in fruchtbare Duplizität. Nicht dass der Bewusste den Unbewussten hereinlegt, wie beim statischen Betrug; vielmehr sucht der Bewusstere den weniger Bewussten zu fassen, und es kommt darauf an, wer der Bewusstere sein wird. Die Verflüssigung des zweiseitigen Missverständnisses stellt in einem Sinn ein normaleres, weniger paradoxes Regime wieder her, eine wahre Konkurrenzsituation ohne juridische Fiktionen. Es ist ein Verrat, der gewöhnlich die ganze Zeit über fortbesteht. Es kommt aber auch vor, dass ein Dritter die Auflösung des Paktes übernimmt. Diese dritte Person ist der Tölpel. Die Tölpelei ist gewissermassen ein spontaner Einspruch der Wahrheit, die, trotz allem stärker als unsere Lügen, um sich auszudrücken die Worte eines Tolpatsches wählt. Da die Menschen nicht den Mut haben, selbst die Uneindeutigkeit anzuklagen, weil sie es nicht verabscheuen, in der Hässlichkeit, dem Müll und der Lüge zu leben, unterwerfen sie sich, gutwillig oder gezwungen, dieser Chirurgie des Skandals: Denn der Skandal liegt in der Bekanntgabe des heimlichen Vertrages – nicht in der Tatsache der Unmoralität an sich oder in der Existenz eines abgekarteten Spiels, über das die ganze Stadt lachte, sondern in der Pflicht, öffentlich etwas zuzugeben, was nur lebensfähig war unter der Bedingung, latent und verschwiegen zu bleiben; Proust spricht äußerst richtig von diesem fatalen Wort der Tölpelei, manchmal vom Mané-Thécel-Pharès am Rand des Abgrunds zurückgehalten, der unsere Vorstellung einer Situation neu gliedert und vervollständigt. Der Wirbel, der mit der Bekanntgabe des schändlichen Vertrages einhergeht und der am helllichten Tag absurd und unmöglich geworden ist, dieser Wirbel ist genau das, was wir Skandal nennen; es ist widersprüchlich, mit seinem Feind gemeinsame Sache zu machen, und wenn ein beweglicher Geist voneinander getrennt die Regeln und die lokalen Ausnahmen von dieser Regel denken kann, lehnt der totalitäre Instinkt dies ab. Natürlich sind die, die in ihrer gekränkten Tugend am lautesten schreien, nicht die Unschuldigsten; aber das ist nicht die Frage. Sie protestieren gegen jenes, womit ihr wohlabgewogenes Widerstreben, ihr Tratsch und ihr Lächeln eines scharfsinnigen Geistes, der eh Bescheid weiß, sie heimlich zu Komplizen machte: Denn der Pakt wäre nicht ohne die stillschweigende Zustimmung, ohne das »peccatum omissionis« all der wohlerzogenen und wohldenkenden hohen Persönlichkeiten. Der Tölpel also übernimmt den Skandal. Der Tölpel stört mit einem hingeworfenen Wort die frommen Lügen, die auf eine schwierige oder heikle Situation Rücksicht nahmen, die Gegensätze ausglichen, aber schlecht und recht einen Modus Vivendi schufen. Der Tölpel sagt, was man nicht sagen soll, gerade dann, wenn man es nicht sagen darf, dort, wo man es nicht sagen soll; mit einer Art unfehlbar hellsichtiger Taktlosigkeit wählt er den unpassendsten Ort und Zeitpunkt; auf unseren Schachbrettern bringt er die subtilen Konstellationen des Betrügers durcheinander und stößt sie um; ihm entschlüpft indiskret eine Wahrheit, die er für sich behalten sollte. Er ist ungewollt blasphemisch; er spricht das verbotene Wort aus, die Wahrheit, die Tabu ist, ohne Rücksicht auf die Komplexität der Umstände. Die Tölpelei ist die massive, unzeitgemäße und ungelegene Verabreichung dieser Wahrheiten, die eine zivilisierte Dosierung allgemein Tropfen für Tropfen zuteilt. Le Senne sagt subtiler Weise: Eine Tölpelei begehen heißt, vor jemandem an etwas denken, was man nicht aussprechen darf, statt an die Gründe, es nicht zu sagen. Der Tölpel, besessen und schwindelerregend von der Sache selbst angezogen, wird taub gegenüber den Verbindungen und Verhältnissen, welche die Sache nuancieren und sie mit den anderen in Beziehung setzt; die Wahrheit eines Augenblicks zwingt sich ihm anstelle der vollständigeren und generelleren Wahrheit auf; das Wort verdrängt den Geist. Da niemand sich traut, braucht es wohl irgendeinen Dummen, der es übernimmt, die Dinge dort beim Namen zu nennen, wo man es nicht soll, lauthals das abgekartete Spiel zwischen dem Wilddieb und dem Gendarmen anzuprangern und, wie man so falsch, das heißt so richtig sagt, zu jeder Gelegenheit »ins Fettnäpfchen zu treten«. Es ist erniedrigend für uns, dass eine so wichtige Rolle in der Bekundung der Wahrheit durch unsere Feigheit dem erstbesten Trottel zukommt; nicht weil, wie man vermuten würde, der Trottel subtil wäre, gewohnt, die feinen Nuancen zu erspüren, die Homonyme und Menechmen [Doppelgänger] zu unterscheiden, das Eigentliche vom Figürlichen, die Wahrheit von der Erscheinung, das Ereignis von den Diskursen zu trennen, – sondern im Gegenteil weil er der Tölpel ist, das heißt der Unbewusste, derjenige, der sich vom Doppeldeutigen fangen lässt und der in alle Fallen der Sphinx fällt. So einen hat der Finger des Schicksals bestimmt, der Wahrheit als Instrument zu dienen! Ist es nicht göttlicher Hohn, dass wir anderen, die Doppelagenten, von diesem Unschuldigen, diesem Simpel, diesem Denunzianten entlarvt werden, ohne dass er es will? Die Vorsehung hat die Listigen zu ihrer Verwirrung der Gnade eines schändlichen und entwaffnenden Zufalls ausgeliefert, der sie in Atem hält, so wie sie die Erwachsenen der Willkür der schrecklichen Kinder und den römischen Triumphator der seiner Sklaven preisgegeben hat. Das Enfant terrible und der Tölpel, beide sind das reine Sprachrohr des Skandals, blind und hellsichtig in einem, beide wissen nicht, was sie tun. Und je einfältiger der Hampelmann, um so peinlicher seine Einmischung in die subtilen Vereinbarungen des Missverständnisses. Allein der Tod kann in diesem Punkt den Vergleich mit dem Kind aufnehmen, denn er ist das reine Eingreifen, das Eindringen eines Ereignisses, das allen Umständen des Lebens völlig fremd ist und in keinem Zusammenhang mit ihnen steht. Ich würde beinahe den Tod als äußerste oder höchste Tölpelei ansehen und den Verstorbenen als Tölpel par excellence, der durch sein Hinscheiden alle Kombinationen zerstört, alle Verträge zerreißt, alle Missverständnisse auflöst – nicht weil er sie erhellen würde, sondern weil er darüber hinweggeht: Denn vor dem absoluten, totalen, unendlichen Unglück heben sich die endlichen Interessen auf. Die von den Friedhöfen sind notwendigerweise von Kontrollen ausgenommen, die Angelegenheit ad acta gelegt, die Aktion erloschen; es ist die große, die definitive Verjährung von allem. Wir schulden den Sterbenden die Wahrheit, heißt es im fünften Akt der Pelleas; der Tod ist jedoch auch die Wahrheit selbst und das Wahre hat das Wahre wohl verdient. Ja, die Wahrheit spricht durch diesen stummen Mund besser, als sie es durch jenen des erbarmungslosen Alters könnte. Wer würde daran denken, mit dem Sterbenden Geheimniskrämereien oder Koketterien zu betreiben, mit jenem, den die Agonie bestimmter Interessen entzieht, um ihn vor die Alternative des Seins oder Nicht-Seins, des Alles oder Nichts zu stellen? Der Tod will die bedingungslose und umfassende Beichte, ohne Hintergedanken noch Andeutungen, noch geistige Vorbehalte. Ich weiß viele solcher Poseure, für die der nahe Tod der einzig aufrichtige Moment eines ganzen weitschweifigen, allein auf Darstellung gerichteten Lebens war, die einzige ungeschminkte Geste, die keine zu spielende Rolle war; ihr Tod war ihre einzige Wahrheit. Der Humorist selbst macht schließlich, zum ersten Mal in seinem Leben, etwas Ernsthaftes, doch dieses erste Mal ist auch das letzte. Man kann seine Krankheit deklamieren oder den Tod der anderen rezitieren, seinen eigenen Tod jedoch stirbt man immer ungekünstelt. Zwar kann der Tod selbst, für den Helden des Komödiantentums, zum Vorwand großer Gesten werden, und eingefleischte Schauspieler haben sich im Moment des letzten Atemzugs nicht aus der Fassung bringen lassen, aber ich meine, die Figur wird wieder zur Person, wenn ihr theatralischer Selbstmord alles opfert, einschließlich der Freude, ihm beizuwohnen, des Schauspiels der Zeugen, des Ruhms und all der Lust des gespaltenen Bewusstseins ... Denn muss man nicht ein Held sein, um sich, als Dritter, diese radikale Aktion vorzustellen, bei der man nicht nur gleichgültiger Schauspieler ist, sondern auch das Opfer? Ohne Zweifel inszeniert auch der Opernsterbende die Umstände und Präliminarien seines Hinscheidens, jedoch nicht den Moment des Sterbens selbst; die ››letzten Augenblicke«, wie man würdevoll sagt, nicht aber den großen Sprung ins Leere. Diesen Sprung, der immer schweigend ist. Wie beim Tod der Melisande – niemand hat etwas gesehen noch gehört. So ist auch in der Erzählung des Phädon [Platos] der erhabene Tod des Sokrates, dieser Tod, göttlich gerade, weil so prosaisch. Er spricht keine historischen Worte, sondern er sagt: Opfert Äskulap einen Hahn – so wie er auch hätte sagen können, vergesst nicht, den Briefträger zu bezahlen. Abgesehen davon, dass ein Tod, selbst ein pathetischer, ein würdevoller Protest gegen die Verkommenheit und Lüge der Menschen sein kann und dass auch die hochtrabende Ausdrucksweise einen tiefen Ernst aufweisen kann. Andererseits ist der Tod nicht nur der Eingriff, das reine Fremde, noch einzig die totale Tragödie: Er ist auch die Isolierung der Selbstheit, er löst ihre sämtlichen Verbindungen zur Welt, das heißt zur Fiktion auf; er lässt sie allein, nackt, hilflos, nicht einmal in der Lage, sich als etwas auszugeben...

Tu descends là-bas seulette
Dans le froid royaume des morts.

Von nun an kann mir nichts und niemand mehr helfen, und selbst die Hilfe der Religion begleitet mich nur bis zur Schwelle, bis zu dieser schwindelerregenden Schwelle, die man allein überschreiten muss und die niemand an meiner Stelle übertreten kann: Denn das Opfer eines anderen kann wohl den Moment des Erscheinens für mich verzögern, nicht aber mich überhaupt von der Verpflichtung zu erscheinen entbinden; mich in dieser bestimmten Funktion vertreten, jedoch nicht als »Vereinzigter« vor jenem, der auf Herz und Nieren prüft, μόνος πρὸϛ μόνον [Eins nach dem Anderen]. Ebenso wenig, wie man sich anstelle seines besten Freundes operieren lassen kann, wenn er der Kranke ist. Dieses Sterbebett ist also sehr wohl ein Bett der Nacktheit, der Wahrheit und der Einsamkeit. Kein falscher Schein mehr. Eripitur persona, manet res. Das ist, wie Montaigne sagt, der Große Tag, an dem es keine Heuchelei mehr gibt, wo man Klartext sprechen und zeigen muss, was auf dem Grund des Topfes übrig bleibt. An diesem Tag wird es sich erweisen, ob eure Reden aus dem Munde oder dem Herzen kamen. Der Tod ist wie die Tölpelei, nur tiefgründiger, der Skalpellschnitt inmitten des Skandals. Zwar kann der Abszess sich nach der Beerdigung des Störenfriedes wieder schließen, so wie er sich in den Salons nach Ausschluss des Tölpels wieder schließt. Doch was für eine Lehre für uns, dass es nichts weniger als die radikale Katastrophe brauchte, um diese Kruste der Fiktion, des Schweigens und des Komödiantentums aufzubrechen, die das Leben umgibt!

Das vom Tölpel, Enfant terrible oder Tod verursachte Aufsehen stiftet zunächst unter den wohlerzogenen Leuten große Bestürzung. Der Lästige bringt die Kartenhäuser zum Einstürzen, zerschlägt das Geschirr, zwingt dazu, Unklarheiten zu überprüfen und ungeschriebene Bräuche, die νόμόι ἄλραϕοι [ungeschriebene Gesetze] der Scheinheiligkeit, in Frage zu stellen. Der Tod, ich beharre darauf, ist auf seine Art genauso schlecht erzogen wie der Indiskrete, der Trampel, der den wahren Namen der Pseudonyme von den Dächern schreit. Der Tod dieses Toten lässt die gute Gesellschaft erschaudern, und die Herrinnen des Hauses haben die Aufgabe, vor ihren Gästen diese unschicklichen Themen, die ihnen nicht gut bekommen, zu vermeiden: Denn in jedem Tod gibt es ich weiß nicht welches Übermaß, das gegen den guten Ton verstößt. Ein redliches Scherzen, eine vorzügliche Ausbildung halten uns also ebenso weit entfernt vom schulmeisterlichen Gehabe wie vom schonungslosen Realismus, in dieser Zwischenebene zwischen dem Alles und dem Nichts, dem Anfang und dem Ende, wo sich die Wesen »partes extra partes« und sich gegenseitig im Verhältnis zum anderen fortsetzen. Gegen Gotteslästerer, die das Geheimnis ausplaudern oder einen Skandal anzetteln, kann man wenigstens die Exkommunikation erlassen, wenn nicht Strafen verhängen, die die Überläufer der Geheimnisse treffen. Was aber gegen einen Toten? Man kann einen Toten nicht töten. Allerdings haben wir mehr als ein Mittel, den Schaden zu begrenzen, die Auswirkungen des Streichs einzudämmen, die der Tote uns durch sein Sterben gespielt hat: Anzeigen, Nachrufe, Trauerzeremonien dienen uns dazu, den Tod zu verharmlosen, indem wir die scharfe Spitze der Wahrheit abstumpfen, die beinahe aus unseren Pseudologien die Luft abgelassen hätte; und der Tod, schamhaft zum »Ableben« geworden, wird nach dem Herrichten ein gesellschaftliches Ereignis, wie die »großen« Hochzeiten, Sommerfeste oder Gartenpartys; die stattlichen Begräbnisse sind nicht zu teuer, wenn es darum geht, sich für immer eines Falschspielers zu entledigen. Die Zeit, seine Haltung wieder zu gewinnen, die Figuren von neuem auf dem Schachbrett anzuordnen, und schon sind die Spaßvögel wieder bei ihren Geschäften.

 

Auszug aus:

Vladimir Jankélévitch, Von der Lüge (Orig. »Du mensonge«), aus dem Französischen von Sarah Dornhof und Vincent v. Wroblewsky, hrsg. von Steffen Dietzsch, (Felix Meiner Verlag) Hamburg 2016, Philosophische Bibliothek Band 637. – Kapitel 2, c – Die Tölpelei, das Enfant terrible und der Tod, Seite 98-105 (ohne Anmerkungen). – Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

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