Renate Solbach: Durchbruch

Das Wirtschaftswachstum – angebliches Allheilmittel gegen alle Arten wirtschaftlicher Schwächen und Nöte – treibt uns in eine zunehmend abschüssige Einbahnstraße. Eine Bremsung wäre angezeigt, ebenso die Suche nach Nischen, die sich für ein Wendemanöver eignen könnten. – Doch was ist das für eine Einbahnstraße? Wieso wird sie immer steiler? Anders gefragt: Wie kommt es dazu, dass die Wirtschaft dauerhaft wächst? Welche Risiken birgt dieses Wachstum, und wie stellen wir uns zu diesen Risiken? Welche Kräfte treiben das Wachstum an? Lassen sich diese Kräfte beeinflussen, und wenn ja wie?

Vom Bevölkerungs- zum Wirtschaftswachstum

Die Auffassung, eine wachsende Bevölkerung sei Zeichen eines gesunden Volkes und seiner guten Regierung, galt in der Vergangenheit während Jahrhunderten als Selbstverständlichkeit. »Ist alles übrige gleich, dann ist diejenige Regierung unfehlbar die bessere, unter der sich die Bürger ohne fremde Mittel, ohne Einbürgerungen und Kolonien besser ausbreiten und vermehren: diejenige, unter der ein Volk weniger wird und abnimmt, ist die schlechtere«, schrieb Rousseau vor 250 Jahren (Rousseau 1762/1996, III.Buch, 9.Kap.). Montesquieu hatte zuvor schon ins gleiche Horn gestoßen (Montesquieu 1748/1992, Buch XXIII, Kap. 28). Seit ein paar Dekaden hat diese These nun ausgedient – zumindest in den wohlhabenden Ländern. Sie wurde aber durch eine These mit ähnlicher Ausrichtung ersetzt: Eine wachsende Wirtschaft ist das Markenzeichen einer blühenden Nation und einer erfolgreichen Regierung. Schrumpft die Wirtschaft, droht der Regierung die Abwahl. Wirtschaftswachstum gilt als Voraussetzung für die Lösung fast aller Herausforderungen. Die Diskussion um die Griechenland-Krise ist dafür ein Paradebeispiel. Die Wirtschaft in den EU-Ländern – so die allgemeine Überzeugung – muss wachsen, sonst kollabiert die EU. Die Weltbank vertritt seit jeher die Auffassung, eine wachsende Wirtschaft sei conditio sind qua non für Armutsverminderung. Je reicher die Reichen würden, desto mehr Brosamen fielen für die Ärmsten ab (sog. »Trickle Down«-Effekt). – Selbst John Rawls ist bei seinem Differenzprinzip, wonach soziale Ungleichheit gerechtfertigt ist, sofern sie sich günstig auf die Lage der am meisten Benachteiligten auswirke – davon ausgegangen, dass die Wirtschaft ständig wächst: Erhalten die Ärmsten einen größeren Anteil am Zuwachs des Sozialprodukts als die Reichen, so braucht diesen nichts weggenommen zu werden. Kurz, Wirtschaftswachstum ist notwendig, damit die Gesellschaft friedlich bleibt.

Angestoßen durch den französischen Philosophen Serge Latouche (Latouche 1991), hat sich in der westlichen Welt inzwischen eine Bewegung gebildet, die das ökonomische Wachstumsdogma kritisiert und nach Wegen sucht, sich in der Praxis davon zu lösen. Obwohl die Zahl der Wachstumsskeptiker selbst ein eindrückliches Wachstum aufweist, sind die praktischen Vorschläge, wie eine »Décroissance-«, »Degrowth-« oder »Postwachstums- Gesellschaft« aussehen könnte, bisher recht dürftig geblieben. Das soll uns aber nicht davon abhalten, eine Auslegeordnung der Risiken zu versuchen, mit denen wir in einer globalisierten Wachstumsgesellschaft in naher Zukunft rechnen müssen.

Zuvor möchte ich jedoch kurz den Begriff »Wachstum« erläutern, an die positiven Effekte erinnern, die das Wirtschaftswachstum bisher gebracht hat, und die Frage nach den wesentlichen Wachstumstreibern stellen.

Der Begriff »Wachstum«

Was verstehen wir unter »Wachstum«? – Einen Prozess, der immer mehr desselben mit sich bringt. Einen quantitativen Vorgang also; eine mengenmäßige oder räumliche Zunahme. Bäume wachsen, werden höher, schwerer, voluminöser. Die Gesundheitsausgaben wachsen, unser Wissen wächst, erfordert »immer mehr« Gedächtnisspeicher (Bücher, Speicherplatten...). Versteht man »Wachstum« eher qualitativ, so wären Begriffe wie »Fortschritt« und »Entwicklung« vielleicht angemessener. »Fortschritt« steht häufig für einen Prozess, der sich einem bestimmten Ziel nähert. Die Metapher »Entwicklung« bezeichnete ursprünglich das Auseinanderrollen einer Schriftrolle (ähnlich wie auch »Entfaltung« für das Öffnen eines Textes stand), und wird nun gewöhnlich auf biologische und psychologische Veränderungsprozesse qualitativer Natur bezogen, die das Wachstum begleiten. Alle drei Begriffe können auch mit negativen Assoziationen verbunden sein: Eine Luftströmung wächst sich zum Orkan aus, eine Epidemie entwickelt sich, eine Krankheit schreitet in ihrem Verlauf fort...

Die meisten Wachstumsprozesse stoßen irgendwo an Grenzen oder erreichen Schwellenwerte (Kipp-Punkte), an denen sich die systemischen Bedingungen insgesamt verändern. Der Systemwechsel erfolgt meist chaotisch und kaum vorhersehbar. Manche Systemwechsel assoziieren wir mit einem Kollaps.

Im immateriellen Bereich ist Wachstum theoretisch unbegrenzt möglich. Das betrifft zunächst den Bereich der Platonischen Ideen, der Mathematik und Geometrie – Mengen, Zahlen, fiktive Räume usw. (Als Platoniker werde ich mich im Folgenden übrigens häufig auf Zahlen berufen!) Die Domäne des Immateriellen umfasst aber noch mehr: sozialen Austausch, Gedankenaustausch, Informationen, Wissen, Kenntnisse, Fantasie, Know how, Fähigkeiten, Fertigkeiten, künstlerische Betätigung (Musik!). Wachstum erscheint hier unproblematisch, wenn nicht sogar wünschenswert. Praktisch bestehen allerdings auch hier Grenzen, da wir keine körperlosen Wesen sind und da uns das Wachstum der Optionenvielfalt früher oder später in Stress versetzt. Doch im Allgemeinen gilt: Auch Vielfalt soll wachsen können oder jedenfalls nicht abnehmen. Artenvielfalt und kulturelle Vielfalt sind Beispiele.

Die Sonnenseite des Wirtschaftswachstums

Die Segnungen, die uns lang anhaltendes Wirtschaftswachstum gebracht haben, sind unbestreitbar: In den hochindustrialisierten Ländern der westlichen Welt einerseits und Ostasiens andererseits leben wir in einem historisch gesehen einmaligen Wohlstand. Antibiotika, Impfungen und die verbesserte Hygiene verlängern die Lebenserwartung (diese hat sich allein im 20.Jahrhundert praktisch verdoppelt), und die Antibabypille hat die Stellung der Frauen grundlegend verbessert. In den Wohlstandsinseln ist die Gefahr von Seuchen praktisch gebannt. Eine immer raschere Sequenz von Erfindungen – Fahrrad, Eisenbahn, Auto, Flugzeug; Telegraf, Telefon, Faxgerät, Handy; Personal Computer, Labtop, Tablet, Internet usw. – hat uns die Bewältigung des Alltags immer weiter erleichert und uns buchstäblich den Zugang zu neuen Welten eröffnet. Wir kommunizieren heute mit unseren Antipoden praktisch zum Nulltarif. Preisgünstige Reisen in die entlegensten Winkel des Globus gelten als selbstverständlich. Allein während der relativ kurzen Zeitspanne, die meine eigenen Erinnerungen abdecken, haben Umfang und Reichweite des wissenschaftlichen, technischen und historischen Wissens schneller als je zuvor zugenommen: Wir blicken in der Zeit weiter zurück als alle Generationen vor uns: bis zum Ursprung des Lebens auf unserem Planeten, bis (angeblich) in die frühesten Sekundenbruchteile nach dem »Big Bang«. Wir sind über die Herkunft unserer Spezies besser informiert als alle früheren Generationen. Wir wissen um die Existenz von subatomaren Teilchen einerseits und von Milliarden Galaxien andererseits, und seit 20 Jahren jagen sich die Entdeckungen von Exo-Planeten... Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen – mit dem Risiko allerdings, die Leserinnen zu langweilen.

Wachstumstreiber

Bevor wir uns den Risiken des Wirtschaftswachstums und seiner Segnungen zuwenden, lohnt sich ein Blick auf die verschiedenen Wachstumstreiber. Vielleicht wünschen wir uns ja, dass der eine oder andere sich längerfristig abschwächt. Doch wie potent sind diese Treiber eigentlich, und wie tief sind sie in unserer Kultur, unserer Lebensform verankert? – Einige dieser Treiber sind offensichtlich in die Dynamik der spätkapitalistischen Marktwirtschaft eingebaut, andere verstärken sie von außerhalb, und wieder andere liegen eine Etage tiefer und gehen der kapitalistischen Marktwirtschaft zeitlich voraus.

Die wohl augenfälligsten Wachstumstreiber sind das demographische Wachstum und das Wachstum der materiellen Ansprüche.

Wachstum der Weltbevölkerung

Das ist zwar ein Tabuthema, aber trotzdem von erheblicher Relevanz. Allein im 20. Jahrhundert hat sich die Weltbevölkerung vervierfacht. Das relative Wachstum ist in den vergangenen fünfzig Jahren zwar von über zwei auf gut ein Prozent zurückgegangen. Doch noch immer nimmt die Erdbevölkerung pro Jahr um 80 Millionen zu. Das ist die Einwohner­zahl Deutschlands oder Mexikos. Dem entspricht pro Tag ein Zuwachs um gute 220.000 Personen. Zum Vergleich: Im Syrienkonflikt verloren zwischen März 2011 und April 2015 etwas mehr als 220.000 Menschen ihr Leben. Am 26.12.2004 fielen einem Tsunami in wenigen Stunden 240.000 Menschen zum Opfer. Immerhin liegen heute in den meisten europäischen Ländern die Geburtenraten deutlich unterhalb der Bestandserhaltung. Derselbe Trend, etwas weniger weit fortgeschritten, lässt sich in den USA und weiten Teilen Südostasiens und Lateinamerikas beobachten. In den meisten außereuropäischen Ländern sinkt die durchschnittliche Kinderzahl pro Paar rascher als jemals in Europa, die Anzahl Paare ist jedoch während der letzten 2-3 Generationen schneller gestiegen, als die Kinderzahl abgenommen hat. Obwohl in Brasilien, beispielsweise, die Zahl der Kinder pro Paar auf 2,3 gesunken ist (die Schwelle zur Bestandserhaltung liegt bei 2,1), ist der Bevölkerungsdruck immer stärker geworden. In 19 brasilianischen Städten verdoppelte sich die Einwohnerzahl im letzten Jahrzehnt (10 dieser Städte liegen im Amazonasbecken; Emmott 2013, S.127). – Die Voraussage, das Bevölkerungswachstum komme bei 9-10 Milliarden zum Stillstand, gründet auf einer Reihe von Hoffnungen, von denen niemand weiß, ob sie sich erfüllen werden: In den Ländern mit dem schnellsten Wachstum – sie sind meist besonders arm – nimmt das Bildungs­niveau kontinuierlich zu, ebenso die Emanzipation der Frauen, aber auch der materielle Wohlstand, inklusive Zugang zu medizinischer Versorgung und zu Verhütungsmitteln; die Kriegsgebiete dehnen sich nicht weiter aus – was deswegen wichtig ist, weil in ehemaligen Kriegsgebieten die Bevölkerung besonders schnell wächst –, und sichere Kontrazeptiva müssen nicht, beispielsweise wegen unerwünschter Nebenfolgen, vom Markt genommen werden.

Das demographische Wachstum ist aber bei Weitem nicht die größte Herausforderung. Das Wachstum materieller Ansprüche verlief in letzter Zeit noch wesentlich steiler. Die Weltbevölkerung hat sich seit 1950 knapp verdreifacht, die Zahl der Autos verzwanzigfacht (eigene Berechnung) und die Zahl der von Flugzeugpassagieren zurückgelegten Kilometer (seit 1960) sogar versechzig­facht (Emmott, 2013, S.32). Die Wachstums­kurven unserer erdölbasierten Mobilität stiegen also sieben bzw. zwanzig Mal steiler als die der Weltbevölkerung. Das Volumen des globalen Warenhandels ist zwischen 1950 und 2013 sogar um den Faktor 76 gewachsen – gut fünfund­zwanzig Mal schneller als die Bevölkerung (https://www.wto.org/english/res_e/statis_e/its2014_e/charts_e/chart03.pdf; Zugriff 05.11.2015).

Die Zunahme der materiellen Ansprüche ist keine Naturgegebenheit und verdient daher eine Erklärung. Da Ansprüche allein außerdem keine Kausalwirkung entfalten, müssen wir auch nach den Bedingungen fragen, die die Befriedigung wachsender Ansprüche überhaupt erst ermöglichen. – Damit wenden wir uns einer tiefer liegenden Schicht von Wachstumstreibern zu. Zu diesen Treibern gehören sicherlich an erster Stelle Lernfähigkeit, Pädagogik und kulturelle Überlieferung: »Humans both practice and teach, whereas other species do neither« (Premack 2007). Menschen sind nicht nur lernfähig, sie bringen sich gegenseitig das Gelernte bei und weihen die heranwachsende Generation zielgerichtet in den Gebrauch auch der jüngsten kulturellen Errungenschaften ein. Individuelle wie kollektive Lernprozesse bilden die Basis von Erfindungen und technischen Errungenschaften, die von einer Generation an die nächste weitergegeben und weiterentwickelt werden, wobei sie häufig von einer gesellschaftlichen Gruppe zur nächsten diffundieren. Praktisch seit »Urzeiten« hat die Effizienz der menschlichen Arbeitskraft und der Werkzeuge laufend zugenommen. Die Länge der Schnittflächen beispielsweise, die unsere fernen Vorfahren aus einem Kilo Feuerstein gewannen, steigerte sich vom Paläo- zum Neolithikum um den Faktor 400: von zehn Zentimetern auf vierzig Meter. Dieser Prozess dauerte zwar mehrere Jahrhunderttausende; doch schon damals hat sich die Effizienz-Steigerung langsam beschleunigt (Nougier 1984/1989, S.85ff.).

Ein Wachstumstreiber von erheblichem Gewicht ist der Wettbewerb. Wer effizienter produziert, gewinnt gegenüber seinen Konkurrenten einen Vorsprung. Das dürfte schon immer so gewesen sein – auch wenn unseren fernen Vorfahren die Konkurrenz zwischen den Stämmen oder Volksgruppen vielleicht nicht als solche bewusst gewesen sein mag. Wettbewerb kann in verschiedenen Bereichen stattfinden: in der Zahl des Nachwuchses, in sportlicher Virtuosität und Ausdauer, in der militärischen Stärke, der Schönheit der Frauen, der Ästhetik der Behausungen, der Höhe der Bauwerke, der Raffinesse von Erfindungen... Der Wettbewerb um wirtschaftlichen Erfolg dürfte erst mit der Entstehung des Kapitalismus im 18.Jahrhundert an Bedeutung gewonnen haben. Seit Beginn der Kolonialzeit tauschen sich auch Gesellschaften, die zuvor völlig voneinander getrennt waren, untereinander aus. Inzwischen sind wir zu einem »globalen Dorf« zusammengerückt. Entsprechend intensivierte sich nicht nur der Handel, sondern auch der Wettbewerb. Der vieldeutige Begriff »Globalisierung« steht nicht zuletzt für die Tatsache, dass inzwischen selbst die voneinander entferntesten Länder bzw. Gesellschaften wirtschaftlich miteinander konkurrieren.

Dieser »Standort«-Wettbewerb ist gegenwärtig einer der stärksten Wachstumstreiber. Potentiell alle wirtschaftlichen Unternehmen weltweit befinden sich heute zueinander in Konkurrenz: die Kleiderfabrik in China mit der in Südafrika, und über die Börsen sogar die Eisenverhüttung in Brasilien mit der Produktion von Handys in Finnland und der von Kriegsdrohnen in Israel... Das Zauberwort, mit dem die Wirtschaft heute auf Wachstumskurs gehalten werden soll, lautet »Innovation«. Längst nicht alle Innovationen bewähren sich, aber dort, wo sie sich bewähren, entstehen häufig neue Bedürfnisse und Ansprüche. Und so wächst mit ihrer Umsetzung die Inanspruchnahme materieller Ressourcen – auch dort, wo die Produktion »ökologischer« wird (»Rebound-« und »Backfire«-Prozesse): »Die Moderne verbraucht mehr Stein als die Steinzeit, mehr Eisen als die Eisenzeit, mehr Kohle als das ›Kohlezeitalter‹« (Hänggi 2015, S.66).

Und doch ist der wirtschaftliche Wachstumsimperativ älter als die Entstehung des Unternehmenskapitalismus. Ein früher Wachstumstreiber ist so alt wie die Geldwirtschaft: Die Erfindung des Geldes vereinfachte den Gütertausch gewaltig und hat ihn wohl auch entsprechend beschleunigt. Sobald das Geld dabei selber zum Handelsobjekt wurde, erwuchsen den Geldgesellschaften zwei zuvor unbekannte Herausforderungen: der Wucher als Gewinnmotiv (schon Aristoteles hat ihn kritisiert!) und der Zwang zur ständigen Mehrwertproduktion. Denn der Schuldner musste ja neben der Rückzahlung des Kredits auch noch den Zins aufbringen. Zwar wurde mit der Geldwirtschaft auch das Risiko der Geldentwertung geboren – eines Wachstumsdämpfers (allerdings mit nicht eben menschenfreundlichen Folgen). Doch entstand mit dem Handelskapitalismus im Spätmittelalter – lange nach Erfindung des Geldes – ein neuer Wachstumstreiber: die Aktie. Auch sie war eine geniale Neuerung, denn sie ermöglichte Unternehmensgründungen, indem sie Geldgeber, Tüftler (Erfinder) und Unternehmer zum gemeinsamen Nutzen unter einen Hut zu bringen erlaubte. Indem die Aktie aber zum Handelsobjekt wurde, entstanden erneut Probleme, die zuvor unbekannt waren und die seither das Auf und Ab der Finanzmärkte begleiten. In den vergangenen 15 Jahren wurden schließlich die sogenannten »Default Swaps« (Kreditausfall-Versicherungsscheine) kreiert – auch sie zunächst eine »smarte« Innovation, die jedoch, sobald sie gehandelt wurde, einmal mehr die Gesellschaft mit einem gravierenden Problem bereicherte: Auf jeden nicht zurückbezahlten Immobilienkredit mussten die amerikanischen Versicherer in der Krise nach 2007 den ausstehenden Betrag im Durchschnitt an je 12 Käufer solcher »Default Swaps« zahlen. Was als Versicherungspapier geschaffen worden war, hatte sich in einen Wett-Schein verwandelt. Der größte Versicherungskonzern wäre hops gegangen, hätte man ihn nicht mit Steuergeldern gerettet. Die zeitweilig sehr hohen Wachstumsraten verleiteten Millionen von Konsumenten, aber auch Firmen und Staaten dazu, auf Pump zu leben – in der Hoffnung, die Schulden ließen sich dank künftigem Wachstum problemlos zurückzahlen, falls sie nicht durch Inflation verdampften.

Die Entwicklung von Technik, Wirtschaft und Finanzwesen ermöglichte die Befriedigung immer höher geschraubter Ansprüche. Angenommen, die Ansprüche hörten auf weiter zu steigen, so käme damit ein wesentlicher Pull-Faktor des Wirtschaftswachstums zum Erliegen. Wie realistisch ist aber diese Annahme? Um hier weiterzukommen, müssen wir uns der Frage zuwenden, was unsere Ansprüche ihrerseits antreibt. Die sogenannte »Glücksforschung« lehrt uns immerhin, dass uns nicht jede Anspruchs­erfüllung glücklicher macht. Sind einmal die Grundbedürfnisse befriedigt – in vielen Ländern soll das bei einem Jahreseinkommen von etwa 15.000 US $ (Binswanger 2006, S.25) beziehungsweise von 25.000 US-$ (Wilkinson 2010, S.22) oder noch etwas mehr der Fall sein – so führt ein weiterer Einkommenszuwachs nicht mehr zu noch größerer Zufriedenheit. Vielmehr manifestieren sich in manchen Bereichen Symptome einer Übersättigung. Der Anteil an US-Bürgern, die sich als glücklich bezeichnen, ist nicht höher als der Anteil an glücklichen Neuseeländern, obwohl die Einkommen der Amerikaner im Durchschnitt einen Drittel höher sind als die der Neuseeländer (Wilkinson 2010, S.23). So gesehen, erscheint die offenbar kontinuierliche Zunahme an erfüllten materiellen Ansprüchen sogar kontraproduktiv. Das gilt natürlich nicht für die ärmeren Gesellschaften. Ohne menschenwürdiges Einkommen verharren etwa zwei Milliarden Menschen weiterhin im Elend, und ohne Wirtschaftswachstum gelangen sie nicht zu einem menschenwürdigen Einkommen.

Aber wie erklärt sich die »grenzenlose Gefräßigkeit« in den Gesellschaften, deren Bevölkerung gewissermaßen längst übersättigt ist? Die Glücksforschung liefert hier eine zweite wichtige Erkenntnis: Der Mensch strebt, so hat es seinerzeit Hobbes formuliert, sein Leben lang nach Macht und immer mehr Macht (Hobbes 1751/1966, Kap.11, 2.Abs.). Hobbes begründete dies mit dem ständigen Wettbewerb zwischen den Menschen und mit der Angst, von einem Mächtigeren vernichtet zu werden. Ob es in prähistorischen Gesellschaften einen solchen Wettbewerb um Macht jemals gegeben hat, sei dahingestellt. In den modernen Gesellschaften ist er jedenfalls einem Wettbewerb um sozialen Aufstieg und Prestige gewichen. Die soziale Position, die man innehat, manifestiert sich in Statussymbolen: der Automarke, die man fährt, der Kleidung und der Uhr, die man trägt, der Villa, die man bewohnt, dem Ferienparadies, in das man jettet. Wenn Herr Müller mit einem Mercedes auftrumpft, muss Herr Schmidt mit einem Bentley nachdoppeln. Das soziale Aufstiegs-Gerangel treibt die Wirtschaft auch dort zu weiterem Wachstum an, wo die Gesellschaft bereits übersättigt ist. Walter Slezak hat es einmal so formuliert: »Viele Menschen benutzen das Geld, das sie nicht haben, für den Einkauf von Dingen, die sie nicht brauchen, um damit Leuten zu imponieren, die sie nicht mögen« (zit. nach Binswanger 2006, S.61).

Wirtschaftswachstum: Schattenseiten und Risiken

Nun aber zu den Risiken, die ein fortgesetztes Wirtschaftswachstum mit sich bringt! Der leichteren Übersicht halber unterteile ich sie in vier Gruppen – je zwei ökologische und zwei soziale: (a) Risiken in Verbindung mit direkten Wachstumsgrenzen, (b) Risiken im Kontext von Schwellenwerten und Kipp-Punkten, an denen wesentliche Systemprozesse kollabieren; (c) Risiken in Form von zunehmendem Stress und (d) in Gestalt einer sich vertiefenden Wohlstandskluft, mit der Folge, dass sich die Lebensqualität für alle – auch die »Reichen« – verringert.

(a) Im materiellen Bereich sind dem Wachstum Grenzen gesetzt. Unser Globus lässt sich nicht aufblähen. Begrenzt sind vor allem natürliche Ressourcen aller Art und die Landflächen. Beim Wasserverbrauch liegen die Wachstumsgrenzen anderswo als bei der Ausbeutung von Erdöl oder von Phosphaten. Der Zeitpunkt, zu dem solche Grenzen erreicht werden, hängt auch von der Dynamik der Wachstumsprozesse ab. Je steiler die Wachstums­kurve, desto eher dürften sie erreicht werden, desto höher also die Risiken.

(b) Grenzen (in einem abstrakteren Sinn) stellen auch systemische Gleich­gewichts­­bedingungen dar. Beispiele sind die Klimastabilität und die Biodiversität. Die Grenzen liegen hier bei den Kipp-Punkten bzw. Schwellenwerten, an denen ein Kollaps droht. Überall dort, wo wir diese Schwellenwerte nicht kennen, stehen wir, sofern die betreffenden Wachstumsprozesse beeinflussbar sind, vor einer Risiko-Abwägung (vgl. Michel Serres’ Wette; Serres 1990/1994, S.17). Wir kennen die Zukunft nicht und müssen uns mit einem Wahrscheinlichkeitskalkül behelfen. Die Alternative lautet: Entweder beharren wir auf (vergleichsweise) geringen Vorteilen für die Gegenwart und erkaufen sie mit gravierenden Nachteilen für die Zukunft. Oder wir greifen zu vorbeugenden Maßnahmen gegen künftige Katastrophen, indem wir bestimmte Verhaltensgewohnheiten ändern. Hier sind die Nachteile, gemessen an den langfristigen Vorteilen, gering; sie fallen aber jetzt an und können nicht ohne Schaden auf später verschoben werden.

Zur Konkretisierung hier einige besonders gut prognostizierbare Grenzpfähle:

Landwirtschaft und Fischerei: Der Pflug hat mit dem Storch bislang Schritt gehalten. In den Entwicklungs- und Schwellenländern liegt die Kalorienzufuhr pro Person aber großenteils noch deutlich niedriger als bei uns. Sie dürfte weiter zunehmen, der Fleischkonsum ebenso. Die Agrarwirtschaft nutzt heute bereits etwa vierzig Prozent der Landoberfläche. Wachsen kann sie nur noch auf Kosten von Savannen, Nationalparks und tropischen Regenwäldern. Jedes Jahr gehen schätzungsweise 24 Milliarden Tonnen Erde verloren ­– drei Tonnen pro Erdenbürger (Montgomery 2010, S.8). Phosphat-Vorkommen (für Mineraldünger) reichen noch für drei bis acht Jahrzehnte. Bis 2050 muss sich, wenn Hunger vermieden werden soll, die Nahrungsmittelproduktion weiter verdoppeln. Das »Landgrabbing« explodiert nicht zuletzt deswegen, weil landwirtschaftlich nutzbare Flächen eine der attraktivsten Kapitalanlagen sind, die heute zur Verfügung stehen. – Was die Fischerei betrifft, ist die Bilanz nicht viel günstiger: »Seit 1900 ist der Anteil der Bestände, die überfischt oder gar bis an die biologischen Grenzen ausgebeutet sind, von 10 Prozent auf 87 Prozent gestiegen« (Emmott 2013, S.64).

Wasserversorgung: Der Wasserverbrauch hat rascher zugenommen als die Bevölkerung, und zwar in den letzten 300 Jahren fast um den Faktor fünf. Wasser wird zwar durch Verdunstung und Niederschläge rezykliert. Aber vielerorts droht eine Verknappung des Süßwassers. Der Aralsee ist am Austrocknen, der Jordan erreicht nicht mehr das Tote Meer, der Nil nicht mehr das Mittelmeer. Der Colorado-River und während vieler Monate des Jahres der Gelbe Fluss in China führen im Unterlauf kein Wasser mehr. In weiten Teilen der Welt (Indien, China, Sahara, Sahelzone, Saudiarabien, USA) sinken die Grundwasser­spiegel schneller, als Wasser nachläuft, falls überhaupt welches nachläuft. Manche fossilen Aquifere sind demnächst ausgepumpt. Gleichzeitig schwinden in den Hochgebirgen die Gletscher. Von den in Himalaya-Gletschern entspringenden Flüssen leben heute immerhin fast zwei Fünftel aller Menschen.

Verschmutzung: Verschmutzung ist die Folge einer unvollständigen Rückumwandlung technisch produzierter Güter in ihre natürlichen Grundsubstanzen. In den meisten Ländern stehen Recycling-Prozesse erst am Anfang. Die Kaffee-Kapseln beispielsweise, mit denen Nestlé jährlich Milliardengewinne einfährt, werden selbst in der ökofreudigen Schweiz nur zu ca. 70% rezykliert. Manche Produkte, die in die Umwelt gelangen, sind nur schwer oder gar nicht abbaubar – atomare Abfälle beispielsweise. Ein spezielles Verschmutzungsproblem, das sich allmählich herumspricht, ist der »Great Pacific Garbage Patch«. Es handelt sich um mehrere Zonen in den Weltmeeren, in denen sich strömungsbedingt Plastik- und Kunststoffmüll ansammelt. Obwohl aus der Luft kaum sichtbar, enthalten sie pro km2 bis zu 350.000 Einzelteile unterschiedlicher Größenordnung. Die Schätzungen über ihre Gesamtgröße schwankt zwischen dem Doppelten der Fläche Deutschlands und dem Anderthalbfachen der Fläche der USA bzw. Chinas. Fische, Meeresschildkröten und Seevögel (am berühmtesten: der Albatros) verwechseln Plastikteile mit Nahrung und verhungern in Massen. Und wenn sie nicht verhungern, gelangen durch sie Plastik- und Giftmüll in die natürliche Nahrungskette (https://en.wikipedia.org/wiki/Great_Pacific_garbage_patch). – Während ich dies schreibe, wälzt sich nach einem Dammbruch in einem Bergbaugebiet Brasiliens über zwei Wochen lang eine mit Giften angereicherte Schlammmasse (250 Millionen Kubikmeter) mit der Geschwindigkeit einer raschen Dampfwalze durch das Tal des Rio Doce („Süßer Fluss“), wo sie auf einer Strecke, die länger ist als das Tal der Donau von der Quelle bis nach Passau, die Fauna in Flussnähe auslöschte, dem Meer entgegen, dessen Verseuchung nun ebenfalls bevorsteht (El Pais 2015).

Klimawandel: Seit 1800 ist der CO2-Gehalt in der Atmosphäre von 280 auf gut 400 ppm (parts per million) im Jahr 2012 gestiegen. Die atmosphärische Konzentration anderer Gase, wie Methan oder Lachgas, deren Treibhauswirkung noch viel stärker ist, hat in ähnlichem Maße zugenommen. Der Klimawandel wird vielfach immer noch geleugnet – die Leugner bestreiten in letzter Zeit vor allem, dass er zivilisationsbedingt ist. Seine Wirkungen sind aber inzwischen unübersehbar: Wetterextreme, wie Dürren und Extrem-Niederschläge, werden häufiger. Als im Sommer 2010 in Russland riesige Wald- und Torf-Flächen brannten, versanken weiter südlich zwei Fünftel der Landwirtschaftsfläche Pakistans im Hochwasser. Derzeit (Oktober-November 2015) herrscht im Amazonasgebiet zum vierten Mal seit Jahrhundertbeginn extreme Trockenheit, Kalifornien leidet an der krassesten Dürre seit Menschengedenken. Zyklone werden häufiger und stärker, Permafrost-Zonen tauen auf, was Berghänge destabilisiert; die Gletscher schmelzen, der Meeresspiegel steigt und bedroht längerfristig dicht bevölkerte Küstengebiete.

In seinen diversen Berichten legte der Weltklimarat (IPCC: Intergovernmental Panel on Climate Change) zunehmend einschneidendere Maßnahmen zur Dämpfung des Klimawandels nahe. Entsprechend passte die UNO ihre Empfehlungen im Laufe der letzten 20 Jahre immer weiter nach oben an. Die Absichtserklärung am Ende des Klimagipfels von Kopenhagen im Dezember 2009 lautete: Um den globalen Temperaturanstieg bis zum Ende des Jahrhunderts auf zwei Grad zu begrenzen, müssen die Treibhausgas-Emissionen bis Mitte Jahrhundert im weltweiten Durchschnitt um 80% gesenkt werden – was für die Industrieländer heißt, dass sie sie um mehr als 90% reduzieren müssen. Bislang sind die Emissionswerte stattdessen jedes Jahr weiter gestiegen: von 1990 bis 2014 um mehr als fünfzig Prozent – von 21 auf 32,3 Milliarden Tonnen (Hecking 2015). Erschwerend kommt hinzu, dass sich nur ein verschwindend kleiner Teil der Öffentlichkeit über die Größenordnung der notwendigen Reduktion von Treibhausgas-Emissionen im Klaren ist. Der politische Einigungsprozess über die Maßnahmen zur Emissionsreduktion erfolgt viel zu schleppend, während der Klimawandel umgekehrt rascher voranschreitet, als noch vor kurzem angenommen worden ist. Die Klimaerwärmung wird nicht alle Regionen der Erde gleich stark tangieren. Stärker betroffen werden voraussichtlich viele ärmeren Länder, die kaum etwas zu ihrer Entstehung beigetragen haben (Cline 2007). Aufgrund ihrer stärkeren Abhängigkeit von der Landwirtschaft und ihrer schwächeren Wirtschaftskraft sind diese Länder den Folgen des Klimawandels auch besonders schutzlos ausgeliefert (Birnbacher 2011).

Das Wirtschaftswachstum ist aber auch mit Risiken sozialer, sozialpsychologischer und friedenspolitischer Natur verbunden.

(c) Das Beschleunigungssyndrom

»Es ist schlimm genug (...), dass man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsere Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen« (J.W. v. Goethe, Die Wahlverwandtschaften, 4. Kapitel [1809])

Die Akzeleration, die schon Goethe auffiel, ist eine Begleiterscheinung des »Fortschritts«, denn dieser bedingt eine Umgestaltung der Lebensbedingungen, und zwar in sich womöglich verkürzenden Rhythmen. Hartmut Rosa unterscheidet drei Typen der Beschleunigung (Rosa 2005 und 2013). Besonders greifbar ist die technische Beschleunigung – eine Beschleunigung der Maschinen, die der Produktion und der Fortbewegung dienen, aber auch eine Beschleunigung der technischen Entwicklung selber. Sie zieht einen zunehmend raschen Wandel der materiellen Infrastruktur nach sich – ablesbar etwa bei Verkehr, Transport und Kommunikation. Die technische Beschleunigung sollte uns eigentlich von lästigen Verrichtungen entlasten und unsere Freiräume für Muße vergrößern. Das »Lebenstempo« müsste also abnehmen. Doch das Gegenteil trifft zu: Mit Auto, ÖV oder Fahrrad bewegen wir uns zwar viel schneller von Zuhause zum Arbeitsplatz als unsere Grosseltern, die noch zu Fuß gingen, doch verwenden wir dazu im Durchschnitt ebenso viel Zeit wie diese (Binswanger 2006, S.107ff.). Wir sind, wie das Beispiel zeigt, einer Beschleunigung des Lebenstempos – einer zweiten Art von Beschleunigung – ausgeliefert. Sie verändert den Rhythmus unserer Tagesgeschäfte, verursacht Stress und beeinträchtigt die zwischenmenschlichen Beziehungen. Begleitet wird sie durch Akzeleration in einer dritten Bedeutung, einer Beschleunigung des sozialen Wandels. Dieser beeinflusst unsere Lebensgewohnheiten, unsere Wertsetzungen und unsere Lebenspläne.

Die drei Arten der Beschleunigung bilden ein »sich selbst verstärkendes ›Feedback-System‹« (Rosa 2013, S.42). In gleichen Zeiteinheiten gelangt eine zunehmende Anzahl Innovationen auf den Markt, und wir müssen uns darüber wenigstens rudimentär auf dem Laufenden halten. – Müssen wir das wirklich, und weshalb? Weil wir sonst riskieren, im Wettbewerb abgehängt zu werden. Der Konkurrenzdruck, zugespitzt durch die kapitalistische Marktwirtschaft, treibt uns an. »Zeit ist Geld«, hat im 18. Jahrhundert schon Benjamin Franklin gepredigt. Der Unternehmer, der sich zurücklehnt oder auf die neuste Technik verzichtet, fällt im Rennen zurück. Das Wettbewerbsprinzip greift inzwischen aber »weit über die (wachstumsorientierte) Sphäre der Wirtschaft hinaus« (Rosa 2013, S.36). Wir konkurrieren, wie erwähnt, um den sozialen Status und seine materiellen Symbole. In vormodernen Gesellschaften sind soziale Positionen, wie Rechte und Privilegien, durch die Geburt festgelegt und durch die Religion legitimiert. In modernen Gesellschaften werden sie (dem Anspruch nach) durch das Leistungsprinzip bestimmt. Güter und Privilegien stehen für alle offen, über ihre Verteilung entscheidet die individuelle Leistung. Theoretisch steht hier also jede(r) gegen jede(n). Der Wettbewerb, der vordem ebenfalls zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Clans, Städten, Völkern oder Nationen bestanden hat, wirkt sich nun unmittelbar auf den Einzelnen aus. Er prägt die Karriereplanung, die Freizeitgestaltung und selbst die Liebe. Die Folgen sind zuweilen bizarr, wie die Konkurrenz um die »Like’s« unter Facebook-»Freunden« belegt. Das Konkurrenzprinzip ist nicht nur Motor des Wirtschaftswachstums, sondern auch der Beschleunigung. Man kann dieser Beschleunigung kaum entfliehen, und es ist nicht klar, wie man sie politisch steuern könnte. Wer nicht mitzuhalten vermag, wird abgehängt und ist »selber schuld«. Hartmut Rosa sieht in diesem Zwangszusammenhang eine Quelle der »Entfremdung« (2013, S.122ff.).

Die Konsequenzen sind vielfach problematisch. Sein Leben zu planen und den Plan zu befolgen, wird zunehmend schwierig: Autonomie verkümmert zu einem kaum noch erreichbaren Ideal. An ihre Stelle tritt das Pseudoethos der »Flexibilität« und »Anpassung«. Das trifft vor allem die Jugendlichen. Stress, Burnout und Depressionen häufen sich. Die Orientierung wird erschwert: Technik und Infrastruktur veralten immer rascher. Was wir gestern gelernt haben, ist morgen ungültig. Auf unsere Gewohnheiten ist immer weniger Verlass. Wir können kaum noch von der Vergangenheit auf die Zukunft schließen. »Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urteilen gewöhnt«, klagte schon Nietzsche (1878/1988, § 282). Demokratische Prozesse halten nicht mehr Schritt. Kommunikative Entscheidungsprozesse (à la Habermas) benötigen Zeit. Sie lassen sich nicht beliebig akzelerieren und laufen deshalb Gefahr, hinter den beschleunigten Prozessen zurückzubleiben. In komplexen Entscheidungssituationen können sie versagen. Die sozialen Anerkennungsprozesse verändern sich: Unsere Kontakte werden sprunghafter, langfristige Freundschaften und lebenslängliche Bezie­hungen seltener. Das Fundament wechselseitiger Anerkennung – der gegenseitige Respekt der Rechte des Anderen – erodiert, denn Anerkennung ist zunehmend an Leistungsausweise gebunden, deren Halbwertszeit ihrerseits abnimmt. Soziale Positionen müssen immer wieder neu ausgehandelt (oder erkämpft) und verteidigt werden. Marketing, Selbstver­marktung, Stromlinienförmigkeit und Bluff kennzeichnen postmoderne Überlebensstrate­gien. Die zentralen (ethischen) Versprechen der Moderne bleiben unerfüllt oder werden perver­tiert: Gerechtigkeit und Demokratie werden nicht mehr gestärkt, die Lebensqualität steigt kaum noch. Soziale Anliegen treten hinter das Ziel zurück, »die Konkur­renzfähigkeit der Gesellschaft zu sichern oder zu verbessern« (Rosa 2013, S.119). Es entstehen multiple Asynchronien: Der eine handelt schneller, der andere langsamer – jüngeren Menschen z.B. sind im Multi­tasking besonders gewieft; manche Firmen florieren rascher, und manche Gesellschaften entwickeln sich geschmeidiger als andere. China verändert sich schneller als die westlichen Länder. Die automatisierte Produktion von Waren erfolgt rascher und billiger als ihre Reparatur. Das Karussell der Finanzmärkte bewegt sich schneller als die Realwirtschaft, diese schneller als die Politik. Die Langsameren werden von den Schnelleren unter Druck gesetzt und womöglich abgehängt (Rosa 2013, S.99, 101f.).

(d) Wachsende soziale Ungleichheiten

Eine weitere Begleiterscheinung des Wirtschaftswachs­tums ist die zunehmende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen. Eine solche Ungleichheit lässt sich sowohl zwischen einzelnen Ländern als auch innerhalb der Länder beobachten; in beiden Fällen nimmt sie zu, und in beiden Fällen wirkt sie sich ungünstig auf das Zusammenleben aus.

Was zunächst die Ungleichheit zwischen den Ländern betrifft, so hat sie sich seit 1820 mehr als verzweihundertfacht. 1820 betrug sie 3 : 1, knappe hundert Jahre später, 1913, 11 : 1, nach dem Ende des Kalten Krieges (1992) 72 : 1 (UNDP 1999, Fig. 1.6). Bis zum Jahr 2014 hat sie sich noch einmal verzehnfacht – auf 770 : 1 (UNDP 2014).

Die den Ländervergleichen zugrunde liegenden statistischen Berechnungen beziehen sich auf die in Geldwert ausgedrückte Produktivität pro Person im jeweiligen Land. Ihr entspricht in etwa das Durchschnittseinkommen. Orientiert man sich an den Kaufkraft-Paritäten, so vermindert sich zwar die aktuelle Diskrepanz zwischen dem »reichsten« und dem »ärmsten« Land (der Harvard-Ökonom Ricardo Hausmann setzt sie beim Verhältnis 250 : 1 an; https://www.youtube.com/watch?v=Ra4K-lipSU4). Man sollte die Kaufkraft-Unterschiede allerdings nicht überbewerten. Luanda, die Hauptstadt Angolas (mit einem Durchschnittseinkommen von 4.941 US-$), gilt als teuerste Stadt der Welt, und N’Djamena, Hauptstadt des Tschad (Durchschnittseinkommen: 1.067 US-$), galt 2014 als die zweitteuerste (http://www.spiegel.de/karriere/ausland/mercer-studie-zu-expatriates-luanda-teuerste-stadt-der-welt-a-1039288.html).

Die Ungleichheit auf internationaler Ebene bildet den Hintergrund für eine Vielfalt neuartiger Herausforderungen:

  1. Das internationale Wohlstands- und Lohngefälle bietet Firmen die Gelegenheit, ihre Produktionsstätten zwischen verschiedenen Ländern, je nach Lohnniveau, hin- und herzuschieben oder mit einer Produktionsauslagerung zu drohen. Und es verleitet sie zur Nutzung von Produktionsstandorten mit niedrigem Grad an Rechtsstaatlichkeit und/oder laxerer ökologischer Gesetzgebung. Je ärmer ein Land, desto höher das Risiko, dass sich dort Dreckschleudern ansiedeln und/oder Schrott zur Entsorgung abgeladen wird.
  2. Je steiler das Wohlstandsgefälle, desto stärker die Pull- und Push-Faktoren der grenzüberschreitenden Migration. Informationen über den Lebensstandard in Westeuropa oder den USA gelangen in die hintersten Erdenwinkel, und Handys sind inzwischen das wichtigste Rüstzeug von Migranten. Für Menschen, die unter wirtschaftlicher Armut, politischer Instabilität, niedrigen Rechtsstandards und hohem Gewaltpegel leiden, ist Auswandern eine zunehmend attraktive Option. Der Bürger Malawis, der im benachbarten Zimbabwe eine Anstellung findet, verdient dort fast viermal mehr als zuhause. Der Bürger Zimbabwes, dem es gelingt, nach Marokko zu gelangen, verdient dort gut dreimal mehr (das erklärt im Übrigen, weshalb die meisten Afrikaner, die sich zum Verlassen ihres Landes entschließen, andernorts in Afrika nach besseren Bedingungen suchen und gar nicht bis nach Europa wollen). Ein Marokkaner könnte aber nun Rumänien ansteuern, weil ihm dort wiederum das dreifache Einkommen winkt. Der Rumäne, der in Spanien Arbeit sucht, kann seinerseits dort auf das Dreifache hoffen, und der Spanier, der dasselbe in Norwegen tut, auf das Vierfache... Insgesamt verdient ein Norweger pro Tag mehr als ein Bürger Malawis pro Jahr...
    Die Armutsmigration spielt sich weitgehend in einem rechtsfreien Rahmen ab. Sie ist deswegen nicht illegal, hat aber einen kriminellen Geschäftszweig ins Leben gerufen. Im Schleuserwesen treffen sich extrem Ungleiche: Wenige machen ein Millionengeschäft, viele geraten in eine Todesfalle. Die hohe Opferzahl unter den Migranten lässt auf den Leidensdruck schließen, der sich in den untersten Sektoren der Wohlstandskluft aufgebaut hat.
  3. Die Migration führt in den Zielländern heterogene und zum Teil inkompatible Kulturen zusammen, die zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Kontexten entstanden sind – als Antworten auf je spezifische wirtschaftliche und soziale Herausforderungen. Diese Zusammenführung bietet große Chancen, wenn sie mit Weitsicht geplant und begleitet wird, aber auch große Risiken, wenn sie dem Zufall überlassen bleibt. Zu diesen Risiken gehören Kulturkonflikte – Konflikte zwischen Migranten-Gruppen (z.B. Türken und Kurden), aber auch zwischen unterschiedlichen Fraktionen der Gastgesellschaft. Man versteht die Herkunftskulturen besser, wenn man sich klarmacht, dass an den weltwirtschaftlichen Rändern verlässliche staatliche Institutionen weitgehend fehlen, die Zahl der Arbeitsplätze in der formellen Wirtschaft niedrig und das Steueraufkommen entsprechend gering ist. Wenn zur Erhaltung der sozialen Ordnung staatliche Institutionen nicht zur Verfügung stehen, bleibt nur der Rückgriff auf vorstaatliche, also zumeist vormoderne Institutionen, Verhaltensmuster, Wertesysteme, Moral- und Religionsvorstellungen. Leistungen, die in den Wohlstandsländern vom Staat erbracht werden – Sicherheit, Verteidigung, Rechts- und Gesundheitswesen, Altersvorsorge – liegen dort in der Kompetenz der (Groß-)Familien oder Clans. Entsprechend weit verbreitet sind Traditionen, die uns archaisch anmuten: die auf Ehre und Schande gründende Familienmoral, eine akzentuierte Geschlechter- und Generationen-Differenz und arrangierte Ehen. Wo Gesetze nicht existieren oder nicht durchgesetzt werden, bietet sich der Rekurs auf überlieferte lokale Praktiken sowie auf Heilige Schriften (und ihre mitunter willkürliche Interpretation) an. Daneben blüht das Faustrecht, wobei die Fäuste ihre Wirkung mittels neuester Waffen- und Sprengstofftechnologie oft gewaltig zu steigern vermögen.
  4. Wachsende ökonomische Gegensätze spiegeln sich folglich auch in zunehmend gegensätzlichen Formen der Kriegführung. Zur Zeit des Kalten Krieges waren Waffengänge in der Welt v. a. durch die Supermächte bestimmt, die enorme finanzielle Mittel in die Entwicklung einer immer potenteren und teureren Kriegsmaschinerie pumpten. Seit dem Ende des Kalten Krieges sind der hochtechnologischen Kriegsführung längst überwunden geglaubte Formen des Kriegs zur Seite getreten: Nicht-staatliche Akteure – Warlords oder Terrorfürsten – rüsten ihre Kämpfer mit Kalaschnikows oder bloßen Macheten aus und rekrutieren oft auch Minderjährige. Die ökonomischen Aufwendungen für ethnische Vertreibungen sind vergleichsweise bescheiden und konvergieren mitunter gegen Null – im Falle von Massenvergewaltigung und Abbrennen ganzer Siedlungen beispielsweise (Münkler 2004).

Nicht nur die »Weltgesellschaft«, auch die einzelnen nationalen Gesellschaften geraten zunehmend in Schieflage: In der Mehrzahl der Länder verschärft sich die Ungleichverteilung, wie Thomas Picketty für eine Reihe von Industrieländern nachgewiesen hat (Picketty 2014, bes. Kap. 8-10). In europäischen Ländern und in den USA ist die interne Ungleichheit (hinsichtlich Einkommen wie Vermögen) im 19. Jahrhundert und bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg gewachsen. Um 1910 war sie am höchsten, danach verringerte sie sich, weil die höchsten Einkommen und Vermögen abnahmen. Seit Ende der siebziger Jahre wächst die Ungleichheit der Einkommen und seit Ende der achtziger Jahre auch die der Vermögen wieder. Wie 1910 fielen in den USA um 2007 auf die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung vierzig Prozent der Einkommen – bedingt durch die Mechanismen der Finanzmärkte, aber auch durch die zunehmend kühneren Bezüge der Top-Manager (Picketty 2014, S.397ff.). In europäischen Ländern ist der Grad an Ungleichheit von 1910 zwar noch nicht wieder erreicht, doch fehlt nicht mehr viel. Deutschlands Krösus verfügte im Jahre 2004 über ein Vermögen von 15,6 Milliarden Euro und ein Jahrzehnt später von 25 Milliarden. Die zweitreichste Person verbesserte sich im gleichen Jahrzehnt von 15,1 auf 21,1 Milliarden. Der Trend zur Ungleichheit lässt sich weltweit, in praktisch allen Ländern, beobachten. Anfang 2013 betrug die Anzahl Milliardäre auf der Welt 1426, ein Jahr später waren weitere 228 Milliardäre hinzugekommen (Forbes 2014).

Anscheinend gehört die Vertiefung der Wohlstandskluft zum globalen Wirtschaftswachstum wie der Schatten zu einem Relief. In den letzten drei Jahrzehnten ist in den reichsten Ländern eine neue Armut entstanden; in den ärmeren und ärmsten Ländern etablierte sich zeitgleich eine – zuweilen hauchdünne – superreiche wirtschaftliche »Elite«. Das gilt auch für Länder, denen es gelungen ist, die Anzahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, zu reduzieren, wie China oder Brasilien. Mit 3,3 Milliarden $ die reichste Frau Afrikas heißt Isabel dos Santos und ist Tochter des angolanischen Präsidenten, der seit über dreißig Jahren an seinem Sessel klebt – übrigens als Chef einer ursprünglich marxistischen Partei. In Mosambik hat 2005 der reichste Mann, Armando Guebuza, die Präsidentschaft angetreten und seine zehnjährige Regierung vor allem darauf ausgerichtet, sich auf Kosten der Bevölkerung weiter zu bereichern – auch er das Aushängeschild einer dem Marxismus verschriebenen Partei (Wild 2013). Im malaysischen Bundesstaat Sarawak sind seit den achtziger Jahren große Teile der Primärwälder abgeholzt und die Gewinne von der Familie des Gouverneurs Thaib Mahmud eingesteckt worden, der 2014 zurücktreten musste. Deutsche und schweizerische Banken haben dabei mitverdient (Straumann 2014).

Um sie dem Blick der Öffentlichkeit zu entziehen, werden die heikelsten Geschäfte gewöhnlich an Firmen delegiert, die in Grauzonen operieren. Offshore-Geschäfte blühen. Organisierte Kriminalität und Geldwäscherei sind in der globalisierten Wirtschaft (wie im globalisierten Sport) nicht zu unterschätzende Schmiermittel (Urry 2013). Der Politik gelingt es nicht immer, sich herauszuhalten, geschweige denn gegenzusteuern.

Wirkungen der sozialen Ungleichheit in reichen Ländern

Die zunehmende soziale Schieflage der Gesellschaft(en) macht bei genauerem Hinsehen niemanden glücklich – vermutlich nicht einmal die Hauptakteure. Zumindest belegen die neusten Studien der Glücksforschung – man kann sie im vorliegenden Zusammenhang auch als Unglücks-Forschung bezeichnen –, dass die zunehmende Vertiefung der Wohlstandskluft eine Reihe negativer Kollateraleffekte sozialer, psychischer und gesundheitlicher Natur mit sich bringt. Bemerkenswerterweise manifestieren sich diese Effekte umso deutlicher, je steiler das Einkommensgefälle ist. Zu diesen Effekten gehören eine Zunahme der Gewaltverbrechen (Homizide), der Zahl der Gefängnisinsassen, des Drogen- und Alkoholmissbrauchs, der Kindersterblichkeit, des Schulversagens, der Fettleibigkeit, der Häufigkeit von Schwangerschaften bei Minderjährigen usw., und gegenläufig dazu eine abnehmende Lebenserwartung. Das haben Richard Wilkinson und Kate Pickett (Wilkinson 2010) für 23 reiche Industrieländer sowie für die 50 amerikanischen Bundesstaaten nachgewiesen. In den skandinavischen Ländern oder Japan ist die Ungleichverteilung relativ gering, in Portugal, England oder den USA dagegen relativ hoch; in der ersten Ländergruppe sind Bildungserfolg, Lebenserwartung und allgemeine Zufriedenheit höher und die Symptome der erwähnten sozialen Probleme schwächer, in der zweiten Ländergruppe stärker.

Über die direkten kausalen Zusammenhänge zwischen Ungleichverteilung und Verminderung der Lebensqualität sagen Wilkinsons Statistik-Vergleiche nichts aus. Eine nahe liegende Erklärung könnte lauten: Je krasser die Ungleichverteilung, eine desto größere Rolle spielt der interpersonelle Vergleich der sozialen Positionen und das Gerangel um den sozialen Status. Die Orientierung am Wettbewerb überwiegt die an der Kooperation. Darunter leiden das Vertrauen in andere Personen, die Solidarität und das Mitgefühl. Der Stresspegel steigt – und zwar für alle.

Interessanterweise fallen kulturelle Unterschiede zwischen den Ländern statistisch kaum ins Gewicht. Als in den fünfziger Jahren Japan ein höheres Maß an sozialer Ungleichheit aufwies als die USA, lag in Japan die Lebenserwartung tiefer als in den USA. Seither haben sich die Verhältnisse in beiden Ländern umgekehrt.

Zwar treten die erwähnten Symptome am häufigsten in den ärmeren sozialen Schichten auf, beschränken sich aber nicht auf sie. In aristokratischen Gesellschaften wurden soziale Unterschiede nicht, wie heute, auf unterschiedliche Leistungsfähigkeit zurückgeführt, die sozial Benachteiligten begriffen ihre gesellschaftliche Stellung als schicksalsbedingt. Da die Stellung im Sozialgefüge heute mit dem Leistungsprinzip begründet wird, gilt ein niederer Status als Beweis eigenen Versagens. Durch Misserfolgs-Erfahrungen nehmen Ängste, Unsicherheit, Depressionen zu. »Auslöser vieler Straftaten sind Ehrverlust und Erniedrigung, das Gefühl, nicht geachtet zu werden« (Wilkinson 2010, S.56).

Von sozialer Ungleichheit negativ betroffen sind aber auch die wohlhabenderen Schichten. Auch sie leben mit Ängsten und Stress, vor Drogen- und Medikamentenabhängigkeit sind sie nicht gefeit, und vielerorts ziehen sie sich in gated communities zurück. All dies wirkt sich negativ auf ihre Lebenserwartung aus. Eine Verringerung der sozialen Ungleichheit, sind Wilkinson und Pickett überzeugt (2010, S.214), würde auch bei den Bessergestellten Lebensqualität und Lebenserwartung erhöhen.

Konsequenzen der sozialen Schieflage innerhalb armer Länder

In den »Least Developed Countries« (LDC) spielt die Ungleichverteilung eine ähnliche Rolle wie in den reichen Ländern, doch kommt hier noch ein anderer Faktor hinzu: Die sehr niedrige Wirtschaftsleistung und die entsprechend niedrigen Durchschnittslöhne verschärfen die Lage erheblich. Je niedriger also das Pro-Kopf-Einkommen und je steiler die Ungleichverteilung, desto schwerwiegender die Folgen – geringe Lebenserwartung, geringer Bildungserfolg, hohe Kindersterblichkeit, prekäre Gesundheitsdienste, schlechte Grundausbildung, hoher Gewaltpegel usw. Selbst die Anzahl Verkehrstoter scheint in einem signifikanten statistischen Zusammenhang mit der Ungleichverteilung zu stehen – ein Faktum, worüber es bisher kaum Literatur gibt, das aber nicht nur durch die verfügbaren Statistiken nahegelegt wird, sondern auch unmittelbar einleuchtet: Je ausgeprägter die soziale Ungleichheit, desto schwächer ist gewöhnlich das Interesse an der Förderung des öffentlichen Verkehrs. Auf der Straße spiegelt sich der Status-Wettkampf in einem Kräftemessen zwischen unterschiedlichen Pferdestärken. Wo im Verkehr das Faustrecht gilt, haben Fußgänger und Radfahrer – in besonders armen Ländern auch die Benützer billiger, oft mangelhaft ausgerüsteter Sammeltaxis – das Nachsehen.

Fazit: Die absehbaren Risiken des Wirtschaftswachstums sind, wie geschildert, unterschiedlicher Natur. Einige verbergen sich vor unseren Sinnen und bedürfen, um konkret abschätzbar zu werden, wissenschaftlicher Forschung. Andere verraten sich durch Symptome, die sich bereits deutlich manifestieren, aber zum Teil noch nicht ausreichend verstanden werden und entsprechend zu teils heftigen Kontroversen Anlass geben. – In diesem Aufsatz wurde versucht, das Gelände zu vermessen und die unterschiedlichen Risiken darin zu »verorten«. Selbst wenn die Diagnose vielen zu krass erscheinen mag und alles »nur halb so schlimm« sein sollte: Es sprechen doch offenbar nicht nur sinnlich schwer fassbare Grenzen und Schwellenwerte gegen ein fortgesetztes Wachstum, sondern auch ein ganz konkreter Leidensdruck, dem die meisten Menschen ausgesetzt sind und der in vielen Ländern offenbar zunimmt.

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