Ich betrachte mich selbst als Westafrikanerin, mit noch anderen kulturellen Identitäten, und als Schriftstellerin, mit noch anderen kreativen Identitäten. Aber ich bin keine afrikanische Schriftstellerin. An keinem Punkt des Schreibprozesses – also beim tatsächlichen Akt des Schreibens, wenn ich an meinem Laptop sitze, egal wo ich bin – habe ich je ein Gefühl von nationaler Identität. Ich bin aber auch keine afropolitische Autorin, selbst wenn diese Nachricht vielleicht enttäuschend ist. »Afropolitan« bezieht sich auf die persönliche Identität. Literatur braucht so etwas nicht.

Wie sollen wir Literatur dann einteilen? fragen Sie. Wir können ja wohl kaum erwarten, dass es in Buchhandlungen nur noch zwei Abteilungen gibt: gute Texte und schlechte Texte (obwohl das hilfreich wäre). Nein, das geht nicht. Ich würde also den Vorschlag machen, wenn wir Literatur unbedingt klassifizieren müssen, dann sollten wir es vielleicht machen wie bei der Musik: dass nämlich die entscheidende Identität die des Textes ist, nicht die des Autors. Wir sprechen nicht mehr von »zeitgenössischer asiatischer Musik« oder »zeitgenössischer amerikanischer Musik«, ohne den Sound zu spezifizieren. Zum Beispiel: Die Sängerin Berry und die Rapperin Diam’s sind beide jung, weiblich, französisch, aber diese Fakten sagen nichts aus über ihre Musik. Wir wissen das. Wir sprechen von Jazz, Pop, Rock, Alternative, Electronic, Kammermusik – ohne Berücksichtigung des demografischen Profils des jeweiligen Musikers. Es wäre eine Beleidigung, wenn jemand darauf bestehen würde, Louis Stewart sei ein irischer Jazzmusiker: ein großer Jazzgitarrist wäre zutreffender. Wenn man den Reggae von Tilmann Otto hört, ohne zu wissen, wie er aussieht, würde man denken, er ist Jamaikaner; dass Gentleman ein Deutscher ist, hat nichts mit seinem Sound zu tun. Und so weiter: Adele singt Soul, genau wie Aretha Franklin; Bob Marley war zur Hälfte weiß, und sein Reggae ist etwas ganz Besonderes, das nur zu ihm gehörte. Wie Saul Williams sagt: »Wenn Jimi Hendrix Rockmusik machte, war das kein Black Rock. Es war Rock.«

Wäre es nicht toll, wenn wir Literatur nicht nach Ländern, sondern nach dem Inhalt kategorisieren würden: die Liebesgeschichte, der Großstadtroman, der Roman des Nationalstaats, der Kriegsroman, der Bildungsroman? Dann finden wir Coles tolle Abhandlung über New York neben GraceLand, Chris Abanis Buch über Lagos, aber auch neben John Barrett McInerneys Bright Lights, Big City (Ein starker Abgang) und Hubert Selbys Last Exit to Brooklyn (Letzte Ausfahrt Brooklyn). Unter »Bürgerkrieg« würden wir Chimamanda Ngozi Adichies Half of a Yellow Sun (Die Hälfte der Sonne) neben Slavenca Draculićs Kao da me nema (Als gäbe es mich nicht) finden, aber Adichies Americanah neben Jhumpa Lahiris The Namesake (Der Namensvetter) und NoViolet Bulawayos We Need New Names unter »Immigration«. Unter »Romane über den Roman« fänden wir dann vielleicht Kristopher Jansmas The Unchangeable Spots of Leopards (Die Flecken des Leoparden) neben Helen Oyeyemis Mr. Fox, aber ihr Icarus Girl (Das Ikarus-Mädchen) stünde unter »Magischer Realismus«, zusammen mit Gabriel García Márquez, da, wo es hingehört. Mein eigener Roman, Ghana Must Go (Diese Dinge geschehen nicht einfach so), wäre – obwohl im englischen Titel der Name eines afrikanischen Landes genannt wird – vielleicht neben Jonathan Franzens The Corrections (Die Korrekturen), Joseph Hellers Something Happened (Was geschah mit Slocum?) und Thomas Manns Buddenbrooks in der Abteilung »Dysfunktionale Familien« zu finden. Wenn man Texte nach solchen Kriterien klassifizieren würde, dann würden wir stärker auf die Intention der Autoren achten und Verbindungen herstellen zwischen den menschlichen Erfahrungen, die in ihren Worten zum Leben erwachen. Und wir würden natürlich miterleben, wie die Grenzen von Französisch- Sein und Amerikanisch-Sein und dem mythischen Afrikanisch-Sein immer mehr schwinden – aber ist das nicht sowieso die Langzeitwirkung von Literatur?

Jedes Mal, wenn wir ein Buch in die Hand nehmen, löschen wir unsere persönlichen Grenzen aus. Wir überschreiten die Markierungen unseres Selbst und betreten das unbekannte Territorium des Anderen. Nach den ersten Augenblicken der Desorientiertheit merken wir, dass wir zu Hause sind. Wie Scott Fitzgerald sagt: »Das gehört zur Schönheit der Literatur. Man merkt, dass die eigenen Sehnsüchte universelle Sehnsüchte sind, dass man nicht einsam und isoliert ist, sondern dazugehört.« Neulich hat eine Freundin, die von meiner Rede wusste, zu mir gesagt: Du lebst in einer Fantasiewelt, Taiye: einer Welt ohne Nationen, ohne Hautfarbe, ohne Grenzen. Wir können nicht alle Künstler sein. Aber wir können alle Leser sein, sagte ich. Wir können alle dazugehören. Und wenn das klingt wie eine Utopie – eine Welt ohne afrikanische Literatur, ja, ohne ein Bedürfnis danach, eine Welt mit menschlicher Literatur –, dann würde ich sagen: Ja, klar ist es eine Utopie. Wie Mr. Simic vor zwölf Jahren über Literatur sagte: »Ihre utopische Hoffnung besteht darin, dass man sich selbst in den Worten eines Fremden erkennt. Für einen Augenblick tritt man heraus aus den engen Grenzen des eigenen Ichs und lebt andere Leben, die man nicht kennt. Wenn Literatur keine Utopie ist, dann weiß ich nicht, was sonst.«

 

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