Ulrich Schödlbauer

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In der Blüte meiner Jahre hat man mich gelehrt: Der in seine Umwelt verstrickte Mensch verfügt über genau zwei Optionen. Er darf sich abzustrampeln, bis Arme und Beine nachgeben und der erschöpfte Körper sein »Das war’s« murmelt, oder sie auf die kühle, gelegentlich rabiate Tour durch eine künstliche zu ersetzen. Der Weg der Aufklärung ist der Weg zum Zahnersatz. Wir gehen ihn, ob wir wollen oder nicht. Will sagen, wir leben in einer künstlichen Welt und niemand ändert daran ein Jota. Ganz recht, Wissenschaft braucht den Willen der Mitmenschen nicht. Ich selbst konnte das oft beobachten. Sie verfolgt ihren Weg und die Leute gehen ihrer Wege. Macht nichts, denn das, was sie des Wegs ziehen lässt, verdankt sich der verborgenen Hand der Wissenschaft. Alles, was den Menschen sauer aufstößt, stammt, wenn man es zurückverfolgt, aus irgendwelchen Labors.

Es mag Sie erstaunen, wenn ich Ihnen sage, dass ein Ausflug auf den Kikeriki denselben Prinzipien folgt wie ein Ritt in den Weltraum. Selbst dem kleinsten Fortschritt wohnt ein frenetisches Element inne. Aber es hält nicht lange vor und an seine Stelle tritt ein amüsiertes Blinzeln. Wenn ein simpler Spazierpfad, ausgelatscht von Millionen Schritten, nicht mehr dem zivilisatorischen Standard entspricht, dann weg mit ihm. Sie glauben mir nicht? Lächeln vielsagend? Dann sagen Sie’s doch. Spucken Sie’s aus! Nichts haben Sie zu sagen: das ist die Wahrheit, die reine Wahrheit, so wahr … So ein Unwetter, das es in die Zeitungen schafft, kommt praktisch nie unerwartet. Es ist eingespeist ins System. Wie alles, was sich zum Ereignis mausert, bedarf es einer ausgedehnten, sagen wir … Logistik. Wenn es sich endlich entlädt und etwas geschehen muss, dann schlägt die Stunde der Technologie, natürlich nicht irgendeiner, sondern einer, die überzeugt, weil sie der Region ganz neue Chancen eröffnet, von denen gestern noch nicht die Rede war. Denn die alte hat ausgedient und wir kommen mit ihr an dieser Stelle nicht weiter. Bravo! Aber wohin wollten wir denn? Und warum eigentlich? Müßige Fragen, wie gesagt, denn uns fragt dabei keiner. Also lautet die naivste von allen: Wie konnten wir es soweit kommen lassen?

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So wollten wir nie auf den Kikeriki. Welchen Technikfreak kümmert ein Hügel im Abendrot? Keinen. Angenommen, eine Hand schwebte aus den Wolken nieder und legte sich auf ihn: dann, ja dann… Dann handelte es sich um ein erstklassiges Heiligtum und alle Welt suchte dort oben Erleuchtung. Die Vorsichtigeren würden es meiden und die Forscheren … würden Mittel und Wege finden, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, und dabei fromme Gesichter schneiden. Diese Sache mit der Hand… Irgendeine Hand ist immer im Spiel und wo eine im Spiel ist, ist die andere nicht weit. Eine Hand wäscht die andere, sonst lohnte es sich ja gar nicht, sie schmutzig zu machen. Mein Zahnarzt, eine erstklassige Type, wie ich schon sagte, ich weiß es aus bester Quelle, er schafft sein Geld gleichsam säckeweise hinauf – nicht alles, er ist ein umsichtiger Anleger, aber in letzter Zeit klettern die Summen, dort brodelt es, und seit das Gelände weiträumig abgesperrt wurde… Immer häufiger steigen Hubschrauber auf, stundenlang stehen sie dort in der Luft, der eine geht, der andere kommt.

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Es reicht mir. Ich weiß nicht, wie Sie das anstellen, aber Sie schaffen das. Rede ich etwa gegen die Wand? Sind Sie Wand oder spielen Sie Wand? Ich predige ungern tauben Ohren. Wenn Sie schon alles wissen, dann geben Sie mir Bescheid. Aber Sie wissen nichts. Sie wissen nichts und Sie wissen es. Sie wissen nichts, weil Sie Ihre Ohren auf Durchzug gestellt haben. Es kommt alles in Sie hinein, aber nach Ihrem weisen Beschluss hat es dort nichts zu suchen. Beschluss? Sagte ich Beschluss? Was könnten Sie schon beschließen, Sie … Verschlusssache. Nein, es ist so, wie ich sage. Sie sind feige, Sie sind denkfaul, Sie sind die Pest. Hat Ihnen das schon jemand gesagt? Nein, man sagt Ihnen, wie klug und beschlagen Sie sind. Man sagt Ihnen, wie sehr man es schätzt, Sie in seiner Mitte zu wissen. Man ehrt Sie … hat man Sie heute schon geehrt? Nein? Das kommt noch. Machen Sie sich mal keine Sorgen. Schließlich sind Sie offen für … alles. Weit offen, wenn’s genehm ist. Aber diese Offenheit, Sie wissen das genauso wie ich, ist link. Sie hat nichts zu bedeuten. Und wie alles, was nichts zu bedeuten hat, findet sie ihre Grenzen dort, wo Bedeutung beginnt. Nein, ich rede nicht von wahrer Bedeutung, in die Falle gehe ich Ihnen nicht. Ich rede von planer, simpler Bedeutung, hinter der ein Sachverhalt steckt. Sie fragen mich nach dem Sachverhalt und ich sage Ihnen, wie sich die Sache nach meiner Kenntnis verhält. Und wie verhalten Sie sich? Sie nehmen meine Worte zur Kenntnis. Wahrscheinlich merken Sie sich, was ich da von mir gebe. Vielleicht nehmen Sie es auf – so wie die unterdrückte Stimme hinter dem Vorhang. Glauben Sie, ich sähe das nicht? Glauben Sie, es entginge mir, dass der einzige Sachverhalt, den Sie an sich heran lassen, meine Auffassung ist? Halten Sie mich für unterbemittelt? Wollen Sie, dass ich mich in Rage rede? Ihnen etwas beweisen will? Lauern Sie auf den Ausrutscher? Nein, Sie doch nicht. Das erledige ich ganz von alleine. Ihre Aufgabe besteht darin, da zu sein, mir nicht von der Seite zu weichen, abwesend da zu sein, wenn Sie verstehen, was ich meine. Habe ich Sie beleidigt? Meine Füße…? Zum Teufel mit meinen Füßen. Schneiden Sie mir die Nägel und halten Sie die Klappe.

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So, jetzt ist mir wohler. Auf dem Kikeriki ist etwas im Gange, something big, und alle Warnsirenen schrillen. Allerdings nur bei den wenigsten Leuten. Ich wundere mich immer über das Talent der Massen, an allem vorbeizuleben, was zu ihrer Zeit geschieht. Trotzdem wäre es ungerecht zu behaupten, sie nähmen nichts davon wahr. Alles nehmen sie wahr, per Ansteckung oder Osmose, aber nichts davon bekommen sie mit. Die Bedeutungsdifferenz von ›Wahrnehmen‹ und ›Mitbekommen‹ ist sehr diffizil, um nicht zu sagen halsbrecherisch. Dabei wäre sie im Handumdrehen zu meistern, mischten sich nicht von allen Seiten her Interessen ein, flüsternd, schreiend, beschwörend und eifernd, wie es ihre Art ist.

Der Alltag in unserer allseits geliebten Provinzstadt strotzt von verwischten, umcodierten, heftig bestrittenen und, wie gesagt, überlärmten Wahrnehmungen. Das ist so. Wäre es anders, wir, und zwar alle miteinander, wären andere. Insofern sollte man nicht seine Zeit verschwenden, um damit zu hadern, sondern, als echtes intellektuelles Schwergewicht, einfach darüberstehen, was etwas anderes ist, als die Tatsache an sich zu bestreiten. Es verrät das Leichtgewicht, genau das zu seinem Herzensanliegen erkoren zu haben: die Tatsachen zu bestreiten. Natürlich nicht auf die offene Tour: falsch! falsch! falsch! So denken und reden bloß Dummköpfe. Die schlaueren unter ihnen, die ich soeben intellektuelle Leichtgewichte nannte, wissen, dass man damit auf die Dauer keinen Blumentopf gewinnt.

Darin liegt eben der Vorteil, den eine solide akademische Ausbildung verschafft. Sie gehen meinem Schmerz im linken Fußballen auf den Grund, aaah, Sie machen das exzellent, doch kennen den Satz vom Grund? Nein? Aber Sie wissen, alles hat einen zureichenden Grund. Sehen Sie, da haben Sie ihn schon, den berühmten Satz vom Grund. Und jetzt versuchen Sie einmal, den einfachsten Vorkommnissen auf den Grund zu gehen, und ich verspreche Ihnen: Sie stoßen auf die unvermutetsten Hindernisse. So sieht es aus mit dem Grund. Fragen Sie unseren Bürgermeister, warum der Kikeriki für das Publikum gesperrt ist! Sie meinen, Sie bekommen keine Antwort? Warum so defätistisch? Sie bekommen Ihre Antwort – zwar nicht vom Bürgermeister, auch nicht vom Pressesprecher – denn sprechen will niemand mit Ihnen! –, vielmehr, wenn Sie brav sind, vom ›Rathaus‹: Sie angeln eine hübsche Hochglanzbroschüre aus Ihrem Briefkasten, aus der auf jeder Seite hervorgeht, wie großartig unsere Kommune aufgestellt ist und dass jetzt alles darauf ankommt, gemeinsam die Aufgaben der Zukunft zu meistern. Fragen Sie nicht, was das jetzt soll, fragen Sie nie, denn: Sie bekommen keine Antwort. Sie bekommen einfach keine Antwort und der Kikeriki bleibt für Leute wie Sie gesperrt.

Sehen Sie, das nenne ich den Satz vom unzureichenden Grund. Sooft Sie unsere Autoritäten befragen, die gewünschte Auskunft erhalten Sie nie. Wir alle kennen das aus der Abendschau, aber es funktioniert auch vormittags. Vorsicht, werden Sie nicht gleich unwirsch! Dann könnte es nämlich sein, dass Ihnen in einer unvorsichtigen Stunde der Ausruf entfährt: Die verheimlichen uns doch etwas! Wer, bitte, sind die? Und was bitte, unterstellen Sie denen? Können Sie das beweisen? Ich meine, wer verheimlicht hier? Da wir gerade ins Gespräch kommen: Was steckt eigentlich hinter Ihrer Verbitterung? Eigeninteresse? Sind Sie irgendwann nicht zum Zug gekommen und geben jetzt den Trompeter von Säckingen? Oder lassen Sie sich vor irgendeinen Karren spannen? Woher Ihr plötzlicher Eifer? Vorsicht! Wer sind Ihre Hinterfiguren? Wollen Sie am Ende für ein Amt kandidieren? Dann treten Sie gefälligst aus der Deckung, wenn Sie den Mumm dazu haben!

Ansonsten: Solange Sie nicht Ross und Reiter nennen, nenne ich Sie einen Verleumder. So einfach geht das. Beweisen Sie mir, dass Sie nichts andeuten wollen! Schon einmal probiert? Na, Sie werden sich wundern. Ich weiß, was Sie andeuten wollen, Sie können sich winden, soviel Sie wollen, aus dieser Sache kommen Sie nicht mehr heraus. Weder gesotten noch geröstet. Am besten, Sie lassen sich abschrecken. Das schreckt nicht bloß Sie ab, sondern zwei Dutzend Leute in Ihrer nächsten Umgebung mit, gestandene Mitbürger, der Hälfte steht das Wasser heimlich bis zur Halskrause, nur Sie wissen nichts davon.

Was geschieht jetzt auf dem Kikeriki? Spucken Sie’s aus: So wichtig ist er Ihnen auch wieder nicht. Es gibt lohnendere Ausflugsziele. Genießen Sie die Annehmlichkeit eines Balkons? Benützen Sie ihn gelegentlich? Wie dem auch sei: Treten Sie hinaus, schlagen Sie wild mit den Armen um sich und krähen Sie Kikeriki! Das macht zwar kein Hähnchen aus Ihnen, aber immerhin hält das Gros Ihrer Mitmenschen Sie dann für verrückt. Behaupten Sie nicht, das sei kein Fortschritt. Wenn Sie mich fragen: Es steckt ein gewaltiger Fortschritt darin, ein Schritt weg von der Verantwortung, die auf Ihnen lastet, seit aus Ihnen ein fragender Mitbürger geworden ist. Sie sind jetzt Zeitgenosse, willkommen im Club!

3

Das alles habe ich auch meiner Nachbarin erklärt, geduldig, wie es meine Art ist. Genützt hat es nichts. Nachträglich würde ich sagen, es lag an meiner Prämisse. Was Frauen angeht, ist der heterosexuelle Mann eine Trostmaschine. Je untröstlicher die andere Seite, desto trostbeflissener der Mann. Die Natur hat es so gewollt. Hätte sie es anders gewollt, wer weiß… Meine Nachbarin wollte keinen Trost, sie wollte Information. Sie wollte wissen, warum die Aktien der Liftgesellschaft sich im Sinkflug befänden, ihre Aktien, jetzt, wo doch die neue Bahn gebaut werden soll, und das auf Staatskosten. Sehen Sie, angesichts so einer Frage befinden Sie sich gleich auf der anderen Seite. Was immer Sie antworten, Ihnen schlägt das volle Bündel Verdächtigungen ins Gesicht. Sie können der Frage praktisch nur ausweichen. Wenn der Zahnarzt und der Tropenarzt zusammen ein Ding einfädeln, dann hält das gemeine Gemeindeglied still.

»Was willst du damit sagen?«

»Ich weiß, dass sie dran beteiligt sind.«

»Du lügst. Warum tust du das?«

»Ich lüge nicht.«

»Was hast du gegen den Zahnarzt? Du solltest deine Zähne hassen und nicht den Arzt, der sie korrigiert.«

»Mein Gebiss ist in guter Verfassung.«

»Das verdankst du bloß ihm. Du solltest dich schämen. Und jetzt reden wir von was anderem.«

Natürlich soll die Liftgesellschaft zerschlagen werden. Und natürlich stecken die beiden dahinter. Fragen Sie mich nicht, wie der neue Investor heißt. Ich verrate nichts. Bis gestern noch konnten Sie das alles selbst nachlesen, es befand sich nur zwei Mausklicks von Ihnen Nasenspitze entfernt, und heute ist es zu spät. Nebenbei bemerkt, es ist der alte, aber er hat umgruppiert und schickt andere Namen ins Rennen. Verdienen Sie am Sturzflug der Liftgesellschaft? Nein? Dann kann ich es Ihnen flüstern: Nicht jeder ist Zeitgenosse, den es dahin drängt. Das verstehen Sie nicht. Besitzen Sie keine Aktien? Bleiben Sie bei Ihrem Kurs. Sie sind nicht der Typ, der das durchsteht. Das Warten würde Sie verrückt machen … Sie verkohlen mich doch nicht, oder? Zum Zeitgenossen fehlt Ihnen viel. Zuvörderst die stoische Ruhe, an denen man diese Spezies erkennt. Ein Zeitgenosse ist niemandes Genosse, damit fängt es an. Die Zeit, verstehen Sie, ist nichts Festes, sie zerrinnt Ihnen zwischen den Fingern. Aber eigentlich verrinnen Sie und die Zeit guckt Ihnen dabei über die Schulter. Die Zeit ist die Rache für Ihre gottlose Existenz. Würden Sie in Gott ruhen, verfügten Sie über alle Zeit der Welt. Tun Sie’s? Natürlich nicht. Tut’s der Pfaffe? Natürlich nicht. Stattdessen steckt er mit dem Tropenarzt unter einer Decke. Der eine sammelt fürs Glockenspiel, der andere investiert in Klimaschutz, am Ende werfen sie zusammen. Im Grunde sammeln sie beide. Sie verdienen daran, dass ihre Zeit verrinnt. Sehr apart. Nein, ich bin nicht von den Zeugen Jehovas. Aua! Das tut weh.

Wie kam ich auf die Religion? Helfen Sie mir, in diesem Bereich häufen sich meine Aussetzer. Nein, meine Nachbarin eignet sich nicht zur Zeitgenossin. Dafür ist sie zu impulsiv. Sie will etwas machen, verstehen Sie? Aus ihrem Leben, aus meinem, aus dem Leben ihrer Mitmenschen – ließe man sie gewähren, so nähme sie den Globus in ihren Schoß und macht mit ihm etwas … Irreparables, wenn Sie mich fragen, etwas ganz und gar Irreparables, schon gut, dass sie keine Macht besitzt. Habe ich Ihnen berichtet, dass ich letzte Woche beim Zahnarzt – ja sicher, Sie waren es, der ich davon erzählte. Irgendwie sind wir davon abgekommen … Schwamm drüber. Er hat mir erklärt – Sie kennen die Pose, er hält dabei immer irgendein Gerät hoch und betrachtet es prüfend –, mein Gebiss sei irreparabel und wir sollten uns um ein neues … kümmern, er hat ›kümmern‹ gesagt, ich bin heute noch außer mir. Er werde die Sache sofort in die Wege leiten, unterschreiben könnte ich draußen, gleich beim Empfang. Ich weiß, dass er Geld braucht, viel Geld, er hat sich verbürgt, es herbeizuschaffen, koste es… Aber mein Gebiss, das ist eine andere Kragenweite.

14

Sie meinen, er hat recht? Sie stehen auf seiner Seite? Dann erzähle ich Ihnen mal, was in dieser Stadt los ist. Der Landrat hat eine Bannmeile um den Kikeriki gezogen, das ist Ihnen vielleicht nicht bewusst, weil Sie hier nie rauskommen. Aber zur Kenntnis nehmen sollten Sie es schon. Der Bürgermeister, unser Bürgermeister, hat sich der Aktion angeschlossen, ein Drittel der Stadt lebt jetzt innerhalb der Bannmeile, das heißt unter Ausnahmerecht. Das nenne ich Biss. Meine Nachbarin wusste es, sie war empört, aber das hilft jetzt auch nicht weiter. Sie wusste nur nicht, warum sonst niemand davon wusste, deshalb sprach sie mich an. Sie wollte einfach wissen, wie das alles zusammenhängt. Verständlicher Wunsch, finden Sie nicht? Sie wollen wissen, ob ich mit ihr… Natürlich wollen Sie’s wissen, ich seh’s an Ihren Augen. Senken Sie nicht den Blick. Er ist so offen, so klar, so … umstandslos unehrlich, man könnte sich in ihn vertiefen. Ein Drittel der Stadt darf jetzt praktisch nicht mehr vor die Tür, da ist Vertiefung angesagt. Schade, dass so wenig darüber berichtet wird. Das hat natürlich System. Sie zucken zusammen! Bin ich Ihnen zu nahe gekommen? Aber ich sitze hier ganz entspannt, Systemfragen sind Luxusfragen und Entspannung ist der größte Luxus von allem. Überall, wo ich hinkomme, wird entspannt. Raspeln Sie mir nicht den Fuß ab. Womit soll ich denn dann auftreten? Es tut gut, wenn der Muskel sich … öffnet. Ich sage immer: Der entspannte Mensch ist der gute, aber ich finde keinen, der den Spruch Spitze findet.

Sehen Sie, Sie können ein Drittel der Stadt wegschließen, ohne dass der Rest es mitbekommt, bloß wegen ein paar Pfützen auf dem Kikeriki, nicht mitgerechnet die zugesperrten Gemeinden rund um das leergefegte Areal. Verstehen Sie jetzt, wie ich das vorhin meinte? Im Grunde braucht es nur einen Anruf beim Bürgermeister – der kann gestern vom Zahnarzt gekommen sein und heute von einem anderen, einem ganz und gar anderen, wer bin ich, dass ich Anrufe in öffentlichen Gebäuden kontrolliere? Da könnte ich gleich den Strick nehmen. Während ich hier sitze und Sie mir die Füße polieren, hat der Zahnarzt einen kleinen Schlägertrupp auf die Beine gestellt, der unbotmäßigen Mitmenschen die Fresse poliert, natürlich in stiller Absprache mit dem Bürgermeister, der nach außen hin nichts davon weiß. Nicht einmal sein Referent weiß etwas davon, die Zeitungen wissen nichts davon, außer, dass alles erlogen sei – wissen Sie, was ich täte, falls ich die Macht dazu hätte? Ich würde den Zeitungen das Wort ›Lüge‹ verbieten. Sie schreien doch nach Verboten, da hätten Sie eins. Meinethalben noch ein zweites dazu: Du sollst keine Schwätzer in deinen Reihen dulden. Dann bräche der Laden binnen zwei Wochen zusammen und ich könnte ihn nach meinem Gutdünken neu konzipieren.

Im Grunde passiert so etwas ja gerade, nur dass Sie und ich zu den ohnmächtigen Zuschauern zählen. Schauen Sie mir ins Gesicht! Entdecken Sie etwas? Eine Spur? Oh mein Gott! Sehe ich etwa entstellt aus? Entschuldigen Sie, das war mir so nicht bewusst. Klar bin ich diesen Schlägern in die Hände gelaufen, gleich in der Nacht danach, der Herr lässt nichts anbrennen, ich sehe das, unter uns, regelmäßig an seinen Rechnungen. Schwamm drüber! Ohnmacht erwähnt man nicht, vor allem, wenn es sich um die eigene handelt. Worüber spricht man dann? Nun, man bastelt an seinen Themen. Mein Thema ist der Informationsbogen, der sich über unser gemeines Wesen spannt. Was verraten Sie mir über Ihre Geschäfte? Ich weiß, Sie sind hier nur angestellt. Angenommen jedoch, Ihnen gehörte der Schuppen hier, was würden Sie mir verraten? Nichts. Aber die Bank weiß alles. Also logge ich mich bei der Bank ein und besuche Ihr Konto, dann weiß ich Bescheid. Ich weiß Bescheid und Sie wüssten, dass ich Bescheid weiß, vorausgesetzt, ich würde Ihnen so etwas andeuten, was selbstredend nicht geschieht. Ich könnte aber unter den Kunden Behauptungen über Ihre Geschäfte streuen und diese könnten, entsprechend verzerrt, an Ihr Ohr gelangen. Wie würden Sie reagieren? »Alles Quatsch!«

Quatsch, Lüge, Verleumdung: das wären Ihre Ausdrücke. Was würden Sie damit wirklich ausdrücken wollen? Beunruhigung. Sie wären beunruhigt, weil da ein Leck existiert, aus dem Informationen, die Ihr Geschäft ins Zwielicht rücken könnten, ins Publikum träufeln. ›Quatsch‹, ›Lüge‹, ›Verleumdung‹: mit diesem Mörtel wollen Sie das Leck stopfen – vergebliche Mühe, solange Sie es nicht kennen. Hätten Sie Zeit genug, Sie würden jeder einzelnen Information nachgehen und sie in den stärksten Ausdrücken dementieren. Leider, leider … würde Ihr Ansehen dabei Schaden nehmen. Also schnappen Sie sich eine von Ihnen mitfinanzierte Zeitung und lassen sie gnadenlos auf jede Person los, die es wagt, eine jener Informationen zu streuen. Wenn Sie gut drauf sind, schnappen Sie sich gleich ein paar von diesen Medien und lassen Dauerfeuer geben: auf jeden, der es wagen könnte – na Sie wissen schon.

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Muss ich eigentlich jedem Schwadronierhansel auf den Leim gehen? Sie merken, die Frage zielt in alle Richtungen. Geht das Schwadronieren erst los, dann ist es bald an der Tagesordnung. Letztendlich bestimmt es die Tagesordnung. Es setzt fest, was zur Rede zugelassen wird und was nicht. Bliebe es bei der Rede, dann wäre es nicht der Rede wert. Natürlich bleibt es nicht bei der Rede, die Rede ist erst der Anfang, aber auch das stimmt nicht, sie ist das Alpha und das Omega. Gott ist Rede. Sobald die Rede sich verwirrt, verwirren sich die Verhältnisse, und wenn die Verhältnisse sich verwirren, dann herrscht Krieg. Sie glauben, der Arzt hätte mich zusammenschlagen lassen, weil ich mich weigerte, mir die Zähne ziehen zu lassen? Sehen Sie, das glauben Sie nicht. Das wäre zu unglaubwürdig. Ich glaube es genauso wenig. Allerdings habe ich Ihnen eine Information voraus, die Sie nicht haben können, es sei denn, Sie stecken mit dem Zahnarzt unter einer Decke, was ich natürlich nicht weiß, aber jederzeit herausbekommen kann. Der Arzt hat mir nämlich ein Geschäft vorgeschlagen, dessen Inhalt ich Ihnen vorenthalte, weil es unter die Patienten-Schweigepflicht fällt. Ganz recht, auch Patienten unterliegen einer gewissen Schweigemoral. Patientinnen wissen davon ein Lied zu singen. Das liegt an der Zweisamkeit, die Arzt und Patient miteinander teilen. Zweisamkeit ist das Elixier der Vertraulichkeit, Vertraulichkeit kann nicht existieren, wo kein Vertrauen herrscht, und Vertrauen herrscht dort, wo im Herzen Verschwiegenheit wohnt. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?

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Wie schon erwähnt: Der Tropenarzt steckt hinter allem. Er soll sogar im kleinsten Kreis gedroht haben, er werde den Kikeriki zum Seuchengebiet erklären lassen, nur für den Fall, das Unternehmen käme nicht allmählich in Gang. Er ist ein gefährlicher Mann, dieser Tropenarzt, kurz entschlossen, diskret und verwegen in seinen Entschlüssen. Hinter ihm steht, was hier kaum einer weiß, ein Konsortium, dessen Umrisse auch ich kaum erahne. Welches Unternehmen, werden Sie fragen, wovon redet der Mann? In meinen Unterlagen steht: Unternehmen B. Ich nehme nicht an, dass B ›Briefkasten‹ heißt. Vielleicht steckt dahinter der Spruch ›Wer A sagt, muss auch B sagen‹, einleuchten würde es, weil Unternehmen B, ich erwähne es unter Vorbehalt, auf Erpressung beruht. Woher ich das weiß? Der Zahnarzt hat mir die Sache erklärt. Was er nicht wusste, war der Umstand, dass ich bereits im Bilde war. Er erzählte auch nicht die volle Wahrheit. Doch wer kennt hierzulande schon die volle Wahrheit? Wie gesagt, seit ich angefangen habe, mich mit unserer Einwohnerschaft zu beschäftigen, ist mir aufgegangen, wovon es da unter der Oberfläche wimmelt. Ob ich schockiert war? Feilen Sie, feilen Sie. Sagen wir, seither fühle ich mich angekommen.

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Eine Bannmeile ist eine Bannmeile, aber ein Seuchenherd ist etwas völlig anderes. Das weiß auch der Bürgermeister. Er ist nicht auf den Kopf gefallen, der Gute. Er hat zwar pariert, aber der Gedanke scheint nicht mehr aus seinem Kopf herausgegangen zu sein, er muss Metastasen gebildet haben, die bis in die Zehenspitzen hinein reichen, anders lässt sein Verhalten sich nicht erklären. Statt die Erpressung mit Stillschweigen zu übergehen, hat er seine Umgebung peu à peu mit dieser Seuchengeschichte vergiftet, bis es endlich den Anschein bekam, als sei sie bei ihm völlig zur fixen Idee geworden. Ausschließen lässt sich das nicht, er gilt als impressionable. Aber das ist vielleicht nur den Erfordernissen des Amtes geschuldet.

Wie dem auch sei … eine Reihe von Bürohengsten, letztes Jahr noch mit der Erstellung von Gutachten zur Abwehr von Meteoriteneinschlägen ausgelastet, befasst sich neuerdings mit den Arkana der Seuchenprävention, soll heißen, sie steht, natürlich vermittelt durch den Tropenarzt, mit allen möglichen Instituten in Verbindung und lässt sich Schriftsätze unterjubeln, um sie anschließend als die eigenen auszugeben. Ich weiß das zufällig, weil eine Cousine von mir in der Branche arbeitet. Sie haben da einen Plan ausgekocht, vergessen Sie’s, er ist wirr, ein paar Freaks unter den Direktoren wollen die ganze Gegend hier durchimpfen, es soll dafür extra ein neuer Impfstoff entwickelt werden, der alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Da oben auf dem Kikeriki wollen sie das Super-Labor aus der Tüte zaubern, unter allerallerstrengster Geheimhaltung, versteht sich. Wie gesagt, der Plan ist eine einzige Narretei, vergessen Sie, was Sie gerade gehört haben. Es bedeutet nichts. Glauben Sie mir, der Bürgermeister ist wahnsinnig, ich weiß es aus erster Hand. Aber er hat schon verstanden, dass den Menschen, solange die Religion sich nicht einmischt, nichts so sehr am Herzen liegt wie ihre Gesundheit. Deshalb will er unbedingt auch die Kirchen in seinen Plan einbinden und ich muss sagen, er macht Fortschritte. Aber kommen wir zurück auf des Pudels Kern.

Unternehmen B, ich verrate Ihnen hier ein erstklassiges Geheimnis, ist ein Projekt von ungeheuren Ausmaßen, eine Welt-Bombe sozusagen. Was in diesem Kaff vor sich geht, ist kaum ein Ausläufer, höchstens der Ausläufer eines Ausläufers, aber wie der Prediger sagt, ohne Darm geht der Hund nicht scheißen, und so kommt gelegentlich alles auf dieses Darmstück an. Ich bin mir nur nicht sicher, ob der Bürgermeister die Sache im Detail verstanden hat. Er planscht so verdächtig in dem Wortmaterial herum, das man ihm zur Verfügung gestellt hat. Andererseits: Was soll er falsch machen? Im Grunde ist es besser, er weiß nicht allzu viel. Wissen ist kontraproduktiv, wenn der Kopf nicht dazu passt.

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Es wird Zeit, dass ich Ihnen meine Quelle vorstelle, meinen Maulwurf gewissermaßen. Denn Unternehmen B oder ›U.B.‹, wie Eingeweihte es nennen, verfügt zwar über ein pompöses Portal, aber an die wirklichen Informationen gelangen Sie nur über rückwärtige Zugänge. Wenn Sie mich fragen: das Ding ist ziemlich kryptisch organisiert, mit Schwellen und Filtern, um das Vorankommen zu erschweren, false paths und allerlei Scheinsymmetrien, die praktisch jeden Ansatz zur Orientierung hintertreiben, jedenfalls für Unkundige. Ich habe mir sagen lassen, selbst die Vorstandsmitglieder wüssten nicht immer genau, was da unter ihrer Ägide getrieben wird. Meine Bekannte behauptet sogar, gerade sie wüssten am wenigsten von allen, weil sie streng nach IQ ausgewählt würden. Damit will man höheren Orts sicherstellen, dass von ihnen keine Gefahr für das Projekt ausgeht. Meine Bekannte, Sie merken es, führt eine scharfe Zunge. Sie beurteilt jeden, der ihr unter die Pupille kommt, nach seinem IQ und dafür hat sie wahrlich keinen Test nötig, wie ich oft genug feststellen konnte. Der schlagende Beweis bin natürlich ich, aber das muss ich Ihnen nicht extra ausführen. Berta – ich nenne sie Berta, das ist zwar nicht ihr Klarname, aber, sagen wir, ein grober Näherungswert –, Berta verrät mir alles, sie verrät es mir ungefragt. Zwischen uns herrscht dieses unbegrenzte Vertrauensverhältnis, wie es sich nur zwischen geistig hochstehenden Menschen ausbildet, und sie beherrscht wirklich alles. Ich weiß nicht, ob ihre Oberen sie wahrnehmen, ob ihre Intelligenz überhaupt zureicht, um sie wahrzunehmen … vermutlich kennen sie Berta, ohne zu wissen, wen sie da vor sich haben. Alles ist möglich, alles ist wahrscheinlich… Aber ob es die Wahrheit ist? Da müssen Sie schon die Wahrheit selbst fragen, dieses wandelbare, sich im Nu jeden Schleier zueignende Wesen.

Sie merken schon, für mich heißt die Wahrheit Berta. Interessiert Sie das? Sie lassen in Ihrer Tätigkeit nach, das ist nicht gut fürs Vorankommen, hören Sie? Machen Sie ruhig weiter, vielleicht können Sie noch etwas lernen. Ich weiß nicht, ob zwischen Berta und mir voller Austausch herrscht – wenn ich ›voller Austausch‹ sage, dann meine ich voll –, mag sein, sie enthält auch meiner Wenigkeit etwas vor, während sie mir die Illusion des Alles oder Nichts vorgaukelt. Vielleicht verrät sie mir auch Dinge, von denen ich nichts verstehe und die mir deswegen durch die Lappen gehen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass sie mich für dumm hält. Aber sollte das der Fall sein, dann wäre sie eine exzellente Schauspielerin. Eigentlich kann ich es mir nicht vorstellen, dafür ist sie meines Erachtens zu klug. Ein kluger Kopf merkt, wen er vor sich hat.

In ihrer Welt ist Berta, was ich in meiner bin: ein Fremdkörper, gut integriert, von enormer Sichtbarkeit und dabei so gut wie nie im Getriebe auszumachen. »U.B.«, hat sie mir einmal gesagt, »ist wirklicher als ich selbst.« Das war, als ich Zweifel anmeldete, ob U.B. überhaupt existiert. »Wart’s ab«, waren ihre Worte, »wart’s nur ab.« Was soll ich abwarten? Das Leben ist ein Wartesaal, da ergibt sich das Abwarten quasi von selbst. Berta jedenfalls ist überzeugt davon, dass auf dem Kikeriki etwas geschieht, wovon die Menschheit erst in fünfzig Jahren die ersten angemessenen Begriffe ausbilden wird. »Moment mal«, werfe ich ein, »das kannst du dann doch selber erst in fünfzig Jahren beurteilen.« Wissen Sie, was ›maliziös‹ heißt? Ja? Dann lassen Sie mich fortfahren. An ihrem maliziösen Lächeln merke ich jedesmal, dass ich mich vergaloppiert habe. »Ich sprach von der Menschheit, Schluffi« – so nennt sie mich hin und wieder –, »nicht von uns, die wir über diesen Dingen stehen. Aber du hast recht, selbst wir…« An dieser Stelle entstand eine Pause zwischen uns, wie sie manchmal zwischen Menschen entsteht, die einander sehr nahe stehen. In einer solchen Pause habe auch ich U.B. begriffen.

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Jetzt sind Sie neugierig. Gleichzeitig misstrauen Sie mir, halb und halb fühlen Sie sich geleimt. Wäre ich nicht Ihr treuer Kunde, hielten Sie mich für einen Gimpelfänger. So halten Sie sich fürs erste mit Ihrem Urteil zurück. Natürlich haben Sie noch nie etwas von U.B. gehört. Wissen Sie, dass die Japaner in Nanjing dreihunderttausend Chinesen ermordet haben? Schauen Sie nicht so erschreckt, das ist schon ein paar Jährchen her. Ich wollte damit nur sagen … jetzt sind Sie beleidigt. Wahrscheinlich wäre ich es an Ihrer Stelle auch. Frieden? Abgemacht!

Wenn U.B. auf Erpressung beruht, wie der Zahnarzt annimmt, dann deshalb, weil es Erpresser anzieht. Berta hat mir das einmal so erklärt: »Stell dir vor, du würdest eine Weltregierung einsetzen – ich weiß, du bist viel zu gescheit, um dir einen solchen Fehltritt zu leisten, aber einmal angenommen, dich würde die Laune überkommen, es trotz alledem zu versuchen –, was sollte diese Leute, die sich dann Regierung nennen, daran hindern, die schlimmsten Verbrechen zu begehen? Die Gesetze? So sagt man. Wer macht die Gesetze? Der Gesetzgeber. Wer ist der Gesetzgeber? Das Parlament. Wer sagt das? Die Gesetze. Wer sorgt für die Einhaltung der Gesetze? Die Justiz? Im Prinzip, ja. Aber in der Realität?

Wer die Macht hat, hat das Recht,
und wer das Recht hat, beugt es auch…

Schwant dir etwas? Das wirkliche Risiko, dem Regierungen ausgesetzt sind, kommt entweder von außen oder von unten. Eliminiere das Außen und die einzige Gefahr kommt von unten. Aber das Unten existiert dann nicht länger, es ist die Welt. Wogegen sollte die Welt sich wehren? Wenn kein Außen mehr existiert, gegen das man sich gemeinsam wappnen muss, was bedeutet dann Widerstand? Absolute Regierungen kennen nur eine Form der Opposition: die Abspaltung. Unter den Bedingungen des Weltstaats ist Widerstand Spaltung. Ich garantiere dir: auf das Signal verstehen sich alle. Staaten, mein lieber Schluffi, garantieren sich ihre Existenz gegenseitig. Fällt der andere weg, dann wird alles ein Spiel und dieses Spiel beruht auf Erpressung.«

»Warum?«

»Naja, mag sein, Erpressung ist nicht ganz das richtige Wort, aber es folgt exakt ihren Regeln. Erst einmal folgt die Welt ihren Führern nicht. Sie lässt es bloß so aussehen. Das ist viel, wie uns die Praktiken der Mafia lehren. Die Weltregierung, jedenfalls ihr sichtbarer Teil, wahrt den Schein. Das ist ihre Aufgabe und damit ist sie vollständig ausgelastet. Der Rest erledigt das, wozu ihn die Umstände zwingen. Die oberen IQs zwingen die Umstände, sie nötigen sie, herauszurücken, was drin ist. Das sind die Hechte im Karpfenteich. So ein Staat existiert und er existiert nicht. Er existiert als Getriebe, wenn du verstehst, was ich meine. Aber um zu existieren, braucht ein Staat eine Idee. Frage mich nicht, warum. Irgendwann kommt die Stunde, da ist selbst Hanswurst das Kasperletheater leid und will, wenigstens einmal im Leben, ins echte Theater. Ohne Idee geht jeder Staat früher oder später zu Grunde. Was ist die Idee des Weltstaats? Frieden. Was brauchst du, um Frieden zu schließen? Exakt. Du brauchst mindestens zwei Parteien. Selbst die UNO, diese Krake ohne Land, verfügt über eine Feindstaatenklausel. Sie will aber keinen Frieden, sie vermittelt nur, sie mästet sich an den Konflikten, sonst stünde sie mager da.«

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Ich finde es immer aufs Neue spannend, mit welch sparsamen Mitteln Berta meine Intelligenz herausfordert. Eigentlich hält sie es mit mir so wie ich mit meiner Nachbarin. Sie sehen, nicht immer hat das Geschlecht das letzte Wort. Eigentlich hat es gar keine eigenen, es nimmt sich nur alle Wörter, nach denen ihm gerade der Sinn steht. Natürlich weiß Berta, woran sie bei mir ist. »Du mit deinem Weltstaat«, sage ich ihr, »erzähl das dem Nikolaus, ich weiß, dass du von U.B. sprichst, also sprechen wir von U.B.« Sie schnipst mit dem Finger. »Psst. Denkst du, wir beide sind nicht U.B.? Ich sowieso, aber du nicht minder. Dein Anzug: Was meinst du, in welchen Labors wurde dieser Zwirn entwickelt? Und wie siehst du aus ohne Anzug? Ziemlich nackt, will mir scheinen. Trotzdem willst du auch dann noch essen, trainieren, duschen, durch die Gegend fahren, auf irgendwelchen bescheuerten Weltmeeren kreuzen, dich auf Matratzen voller sonderbarer Eigenschaften in den Schlaf wälzen. Das alles ist im Prinzip U.B. Ob es faktisch U.B. ist, wer will das wissen? Vergiss die Weltregierung. U.B. folgt einer Idee.«

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An dieser Stelle verwirrte sich ihre Rede ein wenig und wir kamen vom Thema ab. Nein, das stimmt nicht. U.B. ist unser Thema zu jeder Tages- und Nachtzeit, du darfst kein anderes Thema neben ihm haben, jedenfalls nicht mit Berta. Überhaupt habe ich bemerkt, dass Frauen, erst einmal im Betrieb angekommen, mit ihm verheiratet sind und nicht mehr von ihm lassen können. Aber das ist vielleicht eine perspektivische Täuschung. Lieben Sie Ihren Beruf? Wollen Sie das hier noch missen? Sind Sie sicher? Na meinetwegen. Diese ganzen Weltverschwörungstheorien, wie halten Sie es damit aus? Ich meine, eigentlich müsste Ihnen doch der Kopf rauschen. Und die Leute… Am schlimmsten stelle ich mir all die Männer vor, die hier Tag für Tag hereinrauschen, einer gewinnender als der andere, einer spöttischer als der andere: »Was glauben Sie…? Glauben Sie nicht…? Glauben Sie vielleicht doch…?« Mir müssen Sie nichts glauben. Ich sage Ihnen, wie es ist. Ob Sie mir glauben oder nicht, es ändert doch kein Fitzelchen an der Wirklichkeit.

Wenn ich Ihnen sage, der Bürgermeister zieht uns über den Tisch, dann ist das so, und wenn ich Ihnen sage, der Bürgermeister wird von denen da über den Tisch gezogen, dann ist das so. So ist das. Sie können auch, wenn Sie gleich vor die Tür gehen, in eine Schießerei verwickelt werden. Das ist ganz normal. Aber wenn ich mir jetzt schlau über den Bart streiche und andeute, dass da draußen Leute mit Waffen unterwegs sind, Waffen, die jederzeit gegen einen von uns losgehen können, dann ist das eine Verschwörungstheorie. Warum das so ist? Ich kann es Ihnen nicht sagen, es ist eben so. Vieles ist eben so. Wenn der Bürgermeister erklärt, der Weg auf den Kikeriki sei unpassierbar und wir alle müssten uns einschränken, bis der neue Lift auf den Gipfel verfügbar sei, dann ist das eben so. Der neue Lift, das erfahren wir aus seiner Rede, ist noch nicht verfügbar, es wird nur mit Hochdruck an ihm gebaut. Das sind Fakten, gegen die man schwer etwas vorbringen kann. Es sind Fakten, die unser aller Leben in alle Zukunft verändern. Das ist natürlich richtig, aber ich frage doch: Was schert uns der Kikeriki? Jede Gemeinde draußen im Lande besitzt ihren Kikeriki, das geht in die Tausende und es schert keinen. Warum also dieses Theater? Wer verdient eigentlich an diesem Theater?

Da sehen Sie es: Sie dürfen alles in Frage stellen. Aber sobald diese drei Wörter ›Wer verdient eigentlich‹ erklingen, dann… Es ist ja nicht so, dass die Schläger da draußen dem Zahnarzt aus der Hand fressen. Sie gehen auch auf ihn los, wenn’s sein muss. Irgendeiner bezahlt immer und es soll vorkommen, dass sie auch ohne fremde Anleitung wissen, wo der Feind steht und in welchen Passagen man ihn zu fassen bekommt. Werfen Sie einen Blick auf die vollgeschmierten Fassaden: Kennen Sie sich da noch aus? Begreifen Sie auf Anhieb, was davon Opfermarkierung ist und was daraus für die Betroffenen folgt? »ACAB«, das kennen Sie. Aber sonst? Das würde mich wundern. Sie schlendern durch eine Stadt, erfüllt von Zeichen, die Ihnen nichts vermitteln außer dem Gefühl, sich in einem städtischen Umfeld zu bewegen, einerseits ein gutes, andererseits ein beunruhigendes Gefühl, weil man nicht recht weiß, was man davon halten soll und was noch alles mit einem geschehen kann – ich weiß, Sie schlendern nicht, ich habe Sie beobachtet, Sie legen Ihre Wege zügig zurück, aber es bleiben doch Wege und es springt einen mancherlei dabei an. Ihre Welt hat Feinde, das wissen Sie. Aber diese Feinde, das wissen Sie auch, sind ein Bestandteil dieser Welt, sogar ein bevorzugter, denn sie genießen Beachtung und die Hälfte der Bevölkerung denkt: Sie haben doch recht. Und wenn nicht: Scheiß drauf!

Die Hälfte, womöglich zwei Drittel oder drei Viertel der Bevölkerung: darauf kommt es dann auch nicht mehr an. Das sind Leute, die wegsehen, wenn man Sie auf der Straße zusammentritt. Es sind dieselben Leute, die schon die Finger am Smartphone haben, um die Nummer der Polizei wählen, sobald Sie sich dem Sperrbezirk nähern, vor dessen Betreten an allen Ecken und Enden gewarnt wird, ohne dass irgendeiner der Angeherrschten die Warnungen dechiffrieren könnte. Denn in Wirklichkeit sind die Phrasen, die da tagtäglich auf uns einhageln, Chiffren – Geheimbotschaften für Investoren und ihre … ich weiß schon, was Sie denken, daher lasse ich den Satz unvollendet. Sind wir nicht alle Unvollendete? Mich zum Beispiel könnten Sie mit Ihrem Werkzeug da in Streifen schneiden und immer noch einen drauflegen, hoch wie der Turm zu Babel, ich käme nicht einmal mehr zur Tür hinaus und bliebe doch unvollendet. Mit Ihnen wäre das natürlich etwas anderes.

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