Robert Gernhardt, Reich der Sinne, in: Wörtersee. Gedichte. Frankfurt am Main 1981

Gernhardts Verse kommen nicht selten scheinbar «platt« daher, sie sind es, wollen es sein: «volkstümlich platt«.

Doch in ihnen befindet sich eben noch etwas ganz anderes, das «die Volksseele«, so weit sie existiert, oft scheinbar «nicht versteht«, nicht verstehen will.

Worin also besteht der «höhere« oder «tiefere« Humor, sofern er sich erschließt und nicht völlig humorlos überlesen wird?

Das Gedicht, nennen wir es so, kann an «absurdes Theater« erinnern.

Dichter Dorlamm – das Lamm im Dichter – operiert also im «Reich der Sinne«. In zügigen, 2-zeiligen «Strophen« fallen diese kurzerhand aus. Das «kitten«, das als permanente Lebenstätigkeit erkannt werden kann (das Leben ist Chaos - -, was gilt es anderes als zu interpretieren, zu verbinden oder zu kitten?), wird noch fortgesetzt in einer absoluten Dunkelsituation, nämlich nach Ausfall aller Sinne. Das erinnert auch an Existenzen – gegebenenfalls an die eigene –, die noch alles tun, was es zu tun gibt, wie es für sie richtig ist, obgleich jeder Kontext längst abhanden kam.

Menschen, die womöglich kaum realisiert haben, dass sie sich bereits in einer «absurden Situation« befinden.

So gehört auch Dorlamm zu den traurigen Gestalten, die noch alles geben, obgleich aussichtlos anmutend. Etwas gespenstisch . . . die Vorstellung, das einsame Subjekt setzt seine Tätigkeit «ewig« fort, vollständig allein, ohne jede Anbindung.

So weit entfernt findet sich das nicht von mancher alltäglichen Situation.

Der zügige, Gelächter evozierende Rhythmus einschließlich Reimverfahren stellt Dorlamm geradezu liebevoll bloß, ohne den Stachel, der dem Ganzen innewohnt, zu verwischen. Der Leser lacht mit dem Autor über im Grunde grausamste Vorgänge und fragwürdige personale Eigenschaften. Aber er lacht sie nicht aus. Er akzeptiert die Grausamkeiten momentweise im Lachen. Dieser «höhere« oder «tiefere« Humor hat, wenn auch bei Gernhardt eingedenk mancher «Plattheit«, etwas spürbar Tröstliches. Darin liegt der Hauptunterschied zum «volkstümlichen Humor«, der immer wieder Fronten schafft, und eines geht auf Kosten des andern. Die Texte Gernhardts enthalten keinen falschen Trost, weil vorausgesetzt ist, dass «mit offenen Karten gespielt wird« und eine Synthese (im Humor) angestrebt wird. Und darin mag der Grund liegen, warum viele eher mal nach einem Text von Gernhardt greifen als sich z. B. ein Gedicht von Schiller reinzuziehn. –

Und dies noch: «Höherer« oder «tieferer« Humor kann auch der Prävention dienen. Nennen wir ihn «analytischen Humor«. Als Teil beratender Funktion bzw. als Bestandteil gemeinsamer Verständigung kann er dem Unbedarften einiges ersparen. Im gemeinsamen Lachen kann evident werden, was auszuscheiden hat. Damit wäre es Bestandteil gemeinsamen Lernens. Dies könnte zum Beispiel Generationenkonflikte entlasten: Schüler und Lehrer, Eltern und Kinder, alle Stellen, an denen sich Oppositionen bilden, die noch nicht ganz geschlossen sind.

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