Renate Solbach: Sarkophag

Welche Aufgaben ergeben sich daraus für das Liberal-Demokratische Laboratorium?*

Die liberale Demokratie blickt in den letzten Jahrzehnten auf eine historisch beispiellose Erfolgsgeschichte zurück. Die Wiederauferstehung Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg verdankt sich nicht zuletzt einem geistigen Paradigmenwandel vom Kollektivismus zum Individualismus und einem strukturellen Wandel vom Totalitarismus zu liberalen Strukturen. Auch der sowjetische Sozialismus ist vom Wunsch der Menschen nach individueller Freiheit besiegt worden.

Offene Gesellschaften im Zeitalter der Globalisierung

Der Ausgang zeitgenössischer Globalisierung lässt sich auf den Fall der Berliner Mauer und das Ende des Ost-West Konfliktes zurückführen. Es ist nicht verwunderlich, dass der Fall der Berliner Mauer Ausgangspunkt einer neuen Weltanschauung wurde, welche Entgrenzungen, ob bei Staaten, Produkten oder Menschen als etwas Positives erachtet.

30 Jahre danach erkennen wir jedoch, dass auch Grenzenlosigkeit Grenzen kennt und dass es daher eines Ausgleichs zwischen Offenheit und Abgrenzung bedarf. Die offene Gesellschaft tritt im Zeitalter der Globalisierung neuen Herausforderungen gegenüber.

Mit den Globalisierungsprozessen haben erhebliche Teile der Weltbevölkerung aus der Armut herausgefunden. Allerdings gibt es im Wettbewerb immer auch – zumindest relative – Verlierer. Bei ihnen braucht man keine Ängste zu schüren. Ihre – in vielerlei Hinsicht – begrenzten Möglichkeiten reichen oft nicht, um sich im unbegrenzten Wettbewerb zu behaupten. Die Local Player haben Angst vor den Projekten der Global Player.

Dieser neue Konflikt wird überhaupt nicht zureichend erfasst, wenn etablierte Vertreter der Weltoffenheit für die Krisen der Zeit nur diejenigen verantwortlich machen, die vor der Offenheit warnen. Den kosmopolitischen Globalisten zufolge liegt die einzige Gefahr für die Demokratie in der Angst vor den Folgen ihrer Entgrenzungspolitik, in ›Rechtspopulismus und Nationalismus‹.

Doch bei diesen Kräften handelt es sich um Symptome und nicht um Ursachen. So gewiss diese Symptome nur eine Problemanzeige und keine Lösung sind, so gewiss ist auch eine Verdrängung der Problemursachen keine Lösung.

Globalisten und Partikularisten

Der liberale Fortschrittsoptimismus einer stetigen Überwindung von Grenzen wird heute aber auch von ökologischen Folgen der entgrenzten Weltökonomie angefochten. Diese zerstören pauschale Hoffnungen auf ›den Fortschritt‹, der im 20. Jahrhundert ersatzreligiöse Dimensionen angenommen hatte.

Die grüne Bewegung zehrt geradezu von der Beschwörung einer drohenden Apokalypse, die nur bei Änderungen unseres Systems und oft auch unseres westlichen freien Lebensstils abwendbar sei. Zur Rettung vor den Gefahren flüchten sich die politisch umso globalistischer orientierten Parteien in Utopien von einer Global Governance, in denen die Menschheit ihre gemeinsamen Probleme gemeinsam löst. Dies würde einen extremen Zentralismus mit freiheitsgefährdenden Folgen nach sich ziehen.

Auf die globalen Entgrenzungen, ob ökonomisch oder humanitär motiviert, antwortet ein Rechtspopulismus, der mal als nationaler Protektionismus, als regionaler Separatismus oder auch als kultureller Identitätswahn, in jedem Fall als partikularistisches Gegenextrem zum Globalismus daherkommt.

Neue autoritäre Regime versprechen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherzustellen und sogar eine völkische Zusammengehörigkeit wird wieder beschworen. Das Volk ist aber nur eine Konstruktion, welche in Wirklichkeit in vielfältige Gruppen zerfällt und vom Rechtsstaat und von Wahlen eingehegt werden muss. Nicht das Volk, sondern verantwortungsbewusste freie Bürger werden Antworten auf neue Realitäten und Herausforderungen finden.

Weder Dystopie noch Utopie und auch nicht die Retropien der Partikularisten scheinen mir angemessene Antworten auf die Globalisierung zu sein. Die grünen Ängste sind schon deshalb nicht universalisierbar, weil große Teile der Weltjugend dem westlichen Lebensstil nacheifern.

Gefordert sind vielmehr Differenzierungen nach der Art des Fortschritts, nach der Anwendbarkeit von Technologien und nach der Wünsch- und Gestaltbarkeit des technischen und ökonomischen Fortschritts.

Moralischer Populismus

Vom rechten Populismus war schon die Rede. Im moralischen Populismus finden sich umgekehrt Vereinfachungen, in denen es nicht mehr um analytische Unterscheidungen nach richtig oder falsch, sondern um moralische Unterscheidungen nach gut oder böse geht.

Mit Links wird heute weniger die Vertretung der sozialen Rechte der Arbeiter als globale Solidarität und Weltoffenheit assoziiert, als rechts gelten pauschal alle Kräfte, die die Interessen der Nahräume verteidigen wollen.

Auf die globale und universalistische Weise konnte sich die alte Linke sowohl mit neoliberalen Globalisten als auch mit den humanitären Universalisten verbinden. Selbst die einst skeptischen Konservativen entdeckten die universelle Ausbreitung von Demokratie und Menschenrechten, die sie nach außen umso mehr propagierten, als sie nach innen in der relativistischen Beliebigkeit gegenüber jeder Art von Einwanderung die Zügel schießen ließen.

Die seltsame Mischung eines politischen Universalismus nach außen und eines kulturellen Relativismus nach innen ist aber nur ein Scheinwiderspruch, denn der politische Universalismus ist nur bei Beliebigkeit gegenüber Werteordnungen der Kulturen durchhaltbar.

Diese universellen Ideale gründen sowohl im universellen Liebesgebot des Christentums als auch in den universellen Werten der Aufklärung. Mit ihrer Verabsolutierung droht nicht weniger als die säkulare Trennung von Religion und Politik verloren zu gehen. Je mehr sich die westchristlichen Kirchen dem linken Zeitgeist anbiedern, desto mehr verlieren sie allerdings als alternative Wahrnehmung von Wirklichkeit an Kraft.

Der Wunsch nach einer Welteinheit ohne Gegensätze, wie sie im Appell an die »Eine Welt« oder in Sprüchen »No Borders – no Nations« auftauchen, endet im reinen Utopismus, der die endlichen Ressourcen des Staates überfordert. Erinnert sei hier etwa an die Sätze von Jean-Claude Junker, der 2016 Grenzen »als die schlechteste Erfindung von Politiker[n]« kennzeichnete oder von Angela Merkel, die 2015 kurzerhand feststellte, dass Grenzen nicht zu schützen seien.

All die ehedem so unterschiedlichen Antriebe werden durch die Klammer eines universalistischen Moralismus zusammengehalten. Die moralisierende Gesellschaft entzieht folgerichtig dem offenen Diskurs die Grundlage, weil mit dem Bösen nicht diskutiert werden soll, sondern es bekämpft werden muss.

Der gute Zweck heiligt auch die Mittel, sich anonym und feige im Netz über andere her zu machen. Im Gruppendenken soll der einzelne Name und Akteur keine Rolle spielen. In der Regel genügt es, einen Hochschullehrer pro Hochschule durch Attacken zum Schweigen zu bringen, der Rest folgt dann den Gesetzen des ›Silencing‹ wie von selbst.

Postmoderner Kulturmarxismus

In seiner radikalen Variante relativiert ein postmoderner Kulturmarxismus mit der behaupteten Gleichheit aller Kulturen die eigene Kultur so sehr, dass deren herausragende Elemente wie eben Säkularität und Liberalität darüber der Schutzlosigkeit preisgegeben werden. Den Klassenkampf haben die neuen Marxisten längst aufgegeben. Zu vernichtend war die Niederlage gegen das globale Kapital, welches mit Mauern schon damals wenig anfangen konnte.

Der revolutionäre Hass gegen die bürgerliche Mehrheit hat sich bei ihnen in die Unterstützung von gesellschaftlichen Außenseitern wie Schwulen oder religiösen Identitäten jeder Art verlagert.

Sogar Muslime werden im Kampf gegen bürgerliche Mehrheiten gebraucht, obwohl deren Inhalte von linken Emanzipationsidealen nicht weiter entfernt sein könnten. Doch deren Opposition gegen die liberale Demokratie ist schon zahlenmäßig so wichtig, dass man auf ihren Beitrag gegen die bürgerliche Demokratie nicht verzichten will.

Noch vor wenigen Jahren pflegten wir uns über die etwas skurrilen Gutmenschen lustig zu machen, die uns einfach nur als naiv erschienen. Dieses Lachen ist uns vergangen, seitdem man als Hochschullehrer den zugleich nihilistischen und totalitären Furor hier und da aus nächster Nähe erleben muss.

Denn bei Leuten, deren eigene positive Inhalte wie etwa Gerechtigkeit oder Nachhaltigkeit weitgehend erodiert sind, ist Macht gegen Andere alles, was ihnen verblieben ist. Antifaschismus, Antisemitismus, Antirassismus, Antikapitalismus … in jedem Fall geht es um den Kampf von Gruppen gegen Gruppen. Eine antiliberalere Haltung ist schwerlich vorstellbar.

Mangels positiver Ideale und Visionen müssen immer neue »Rassisten, Nazis und Rechte jeder Art« aufgetrieben werden, selbst vor hochverdienten SPD-Mitgliedern und Verfassungsschutzpräsidenten machen die Säuberungen nicht mehr Halt. Noch wird das freie Wort von rechtsstaatlichen Garantien geschützt, aber je weiter der kulturmarxistische Marsch durch die Institutionen des Staates vordringt, desto gefährdeter sind Meinungsfreiheit und offene Gesellschaft.

Der heute vom linken Mainstream ausgerufene ›Kampf gegen Rechts‹, ohne Differenzierung nach konservativ, rechts, rechtsradikal oder rechtsextrem, bedeutet nicht weniger als dass nur noch linke Positionen statthaft sind. Im Kampfeseifer geht sogar jede Differenzierung verloren zwischen denjenigen, die als Konservative die Demokratie bewahren und denjenigen, die als Rechtsextremisten die Demokratie bekämpfen. Sofern Konservative für die Bewahrung der rechtsstaatlichen liberalen Demokratie streiten, sind sie natürliche Bundesgenossen der Liberalen.

Wege zur Glokalisierung gesucht

Die Lager der Global und Local Player bekämpfen sich heute vor allem gegenseitig, für die Sachprobleme bleibt wenig Aufmerksamkeit. Auf diese Weise kommen notwendige glokale Synthesen zwischen Globalisten und Partikularisten nicht in den Blick. Während grüne Globalisten und regressive Partikularisten ihre Einseitigkeiten pflegen und darüber Zulauf gewinnen, wäre es insbesondere die Aufgabe von Volksparteien gewesen, solche glokale Synthesen zwischen Fern- und Nahinteressen zu suchen.

Die SPD ist daran bereits gescheitert, setzt aber diesen Kurs der Bekämpfung der Problemboten ungerührt wie im Fall Thilo Sarrazin bis in den Untergang fort. Auch die Ideologie der Weltoffenheit ist offenkundig stärker als der Wille zur Selbstbehauptung, ein in seiner romantischen Disposition vielleicht typisch deutsches Verhängnis.

CDU/CSU und FDP droht ein ähnliches Schicksal, wenn sie keine Kompromisse zwischen kultureller Weltoffenheit und Bewahrung der eigenen Kultur, zwischen den Interessen global agierender Mächte und der Selbstbehauptung lokal gebundener bürgerlicher Mittelschichten zustande bringen. Bürger kommt von Burg, am Anfang jeder Staatlichkeit stand der Schutz. Weltbürgertum können sich nur diejenigen Eliten leisten, die nicht auf den Schutz eines Staates angewiesen sind.

Dabei geht auch die Suche nach Dritten Wegen unter. Doch jenseits der Extreme zwischen völliger Offenheit und völliger Abgeschlossenheit geht es um die Steuerung und Kontrolle von Offenheit – metaphorisch gesprochen – um Türen, die wie bei jedem normalen Haus mal offen und mal geschlossen sind, um mal Gäste zu empfangen und mal die Bewohner vor ungebetenen Gästen zu schützen.

Der Liberalismus wollte immer jenseits der kollektivistischen Zuordnungen von Links und Rechts stehen. Im neuen Konflikt zwischen Offenheit und Abgeschlossenheit steht er ohne erkennbare Position dar. Dabei wäre es eine spezifische Aufgabe der Liberalen, hier den Rechtsstaat selbst zu verteidigen und darüber hinaus offene Diskurse über die Art und Weise der Grenzregime einzufordern.

Koexistenz mit Autoritarismus – Eindämmung des Totalitarismus

Von einer liberalen Weltordnung, wie sie nach 1990 erhofft wurde, sind wir heute weit entfernt. Die offenen Gesellschaften mussten immer gegenüber ihren totalitären Feinden geschützt werden. Mit Toleranz oder Religionsfreiheit ohne Gegenseitigkeit ist man totalitären Kräften nicht gewachsen.

Heute stehen offene Gesellschaften neuen Formen des Totalitarismus gegenüber, dem religiösen Totalitarismus oder auch dem digitalen Totalitarismus in China, beiden stehen die neuen Möglichkeiten zur Mobilität und die neuen Technologien zur Unterdrückung von Freiheit zur Verfügung. Wodurch sie auch den offenen Gesellschaften nahe kommen und gefährlich werden.

Im Kampf gegen jede Form des Totalitarismus müssen wir uns an die Leitidee der wehrhaften Demokratie des Grundgesetzes erinnern: keine volle Freiheit für die Feinde der Freiheit. Wo Toleranz nicht auf Gegenseitigkeit beruht, muss die Freiheit – wie schon gegenüber dem Sowjetkommunismus und Rechtsextremismus gegen politische und religiöse Extremisten behauptet werden.

Der sich abzeichnende digitale Totalitarismus Chinas, in dem Menschen landesweit über Kameras bewacht und bewertet werden, ist eine in seiner technologischen Dimension neuartige Bedrohung der Freiheit.

Der chinesische Expansionismus greift über die so genannten Seidenstraßen tief in die westlichen Gesellschaften ein und stellt gerade über seine Erfolge eine politische Herausforderung des Westens dar. Auch dem ökonomischen Imperialismus müssen Grenzen gesetzt werden, wodurch dann erst Gegenseitigkeiten erzwungen werden. Wie jung diese Erkenntnis ist, zeigt sich schon daran, das Xi Jinping noch sich vor zwei Jahren in Davos als Held der Handelsfreiheit feiern lassen konnte.

Spätestens im Zeitalter des Digitalismus werden Wissen und Wissenschaft zur entscheidenden Ressource. Das universalistische Wissenschaftsverständnis ist im wirtschaftlichen Kontext weltfremd. Es beruhte auf der Hoffnung, aus China eine offene Gesellschaft formen zu können. Etwa auf die Einhaltung der Spielregeln der WTO glaubte man bis zur Ära Trump großzügig verzichten zu können.

China durfte das Wissen der offenen und daher auch kreativen Gesellschaften nach Belieben abschöpfen, es danach in günstigere Produkte umwandeln und diese dann mit staatlicher Unterstützung in den globalen Wettbewerb einbringen.

Im Umgang mit dieser ökonomischen und auch zunehmend politischen Herausforderung sind neue Strategien gefordert. Sofern die Diagnose der Inkompatibilität sowohl mit den neuen totalitären Bedrohungen zutrifft, können wir dafür aus dem Kalten Krieg wichtige Lehren ziehen.

Gegenüber dem Weltkommunismus hatte der Westen jene Mischung von Eindämmung und Koexistenz gefunden, die seinerzeit den Weltfrieden zu erhalten half. Dementsprechend brauchen wir heute eine Strategie der Koexistenz mit autoritären Regimen und der Eindämmung totalitärer Mächte, wobei wir wieder nach autoritären und totalitären Mächten unterscheiden müssen.

Eine oft zu vorbehaltlose Offenheit gegenüber den nachsowjetischen Gesellschaften hat nicht die offenen Gesellschaften ausgedehnt, sondern diese durch Offenheit gegenüber korrupten und mafiotischen Regimen geschwächt. Neue oligarchische Politikformen und generell ein Verfall der politischen Kultur gehen damit heute im Westen einher.

In noch dramatischerer Weise gilt dies für die Versuche des Westens, im Nahen Osten zu Veränderungen beizutragen. Insbesondere die Destabilisierung Libyens fällt durch die Fluchtströme über Libyen, aber auch durch Gewalt und Terror auf Europa zurück.

Hier wäre statt Verstrickung mehr Abgrenzung zur Bewahrung der Freiheit nötig gewesen. Auch Offenheit und Demokratie sind kein Selbstzweck. Wenn sie die Freiheit eher gefährden als dienen, müssen sie auf das Mögliche begrenzt werden.

Das autoritäre Russland wäre als kleineres Übel ein potentieller Bündnispartner gegen islamistischen und ökonomischen Totalitarismus. Im Kampf gegen Islamismus fände sich wiederum auch ein Minimalkonsens mit säkularen Mächten der islamischen Welt. Das Denken in kleineren Übeln setzt den Abschied von ideologischen und klaren Zuordnungen voraus.

Differenzierung als Ergebnis des offenen Diskurses

Wie kann man sich dem Ziel einer liberalen Ordnung unter globalen Bedingungen annähern? Der erste Schritt bestünde in offenen Diskursen, an denen wir uns beteiligen wollen, die es aber erst einmal wiederaufzubauen gilt. Für die Inhalte in diesen offenen Diskursen bedürfte es spezifisch-liberaler Standpunkte und Beiträge. Ein wesentliches Ziel von offenen Diskursen läge darin, auch hinsichtlich der Globalisierung die neuen ideologischen Fixierungen aufzubrechen und in differenziertere Positionen zu überführen.

Liberale sollten hierbei nicht nur jenseits von Links und Rechts stehen, sondern beide als geistige Verkürzungen der komplexen Problematik bekämpfen. Es wäre eine urliberale Aufgabe, der schleichenden Abschaffung offener Diskurse in der offenen Gesellschaft entgegenzutreten. Insbesondere am Ausgangspunkt der neuen Intoleranz, an den Hochschulen, sollte zunächst jenseits inhaltlicher Festlegungen für die Offenheit der Diskurse selbst gestritten werden.

Differenzierung würden sowohl die starren Ideologien als auch dementsprechende starre parteiische Strukturen in Bewegung bringen müssen, wie es Emmanuel Macron mit seiner Bewegung »En Marche« vorgemacht hat. Bewegungen entsprechen der Vielfalt und Freiheit mehr als Parteien alten Stils.

Auch die Weltwirtschaft ist divers und besteht aus einer Vielzahl von Wirtschaftskulturen. Die globale Ebene sollte – so Dani Rodrik - nur von einer dünnen Schicht einfacher Verkehrsregeln geleitet werden. Schon die Versuche zur Vereinheitlichung der Wirtschaftskulturen Europas durch den Euro waren nicht eben erfolgreich, Ungleiches gleich zu machen treibt Spannungen und Kosten für alle hervor.

Mit den Grenzen der Globalisierung gewännen die Nationalstaaten an Freiheit, ihre Zukunft selbst zu bestimmen und dem Nationalismus wäre Wind aus den Segeln genommen. Dezentralität, Subsidiarität und Lokalität sind Wege zur Bewahrung von Freiheiten, die wie alle Großbegriffe nicht nur im Singular betrachtet, sondern zur Vielfalt und Ergänzungsfähigkeit hin ausdifferenziert werden müssen.

Bei der notwendigen Re-Lokalisierung kommt uns die heraufziehende Digitalisierung zu Hilfe. Sie könnte die Globalisierung begrenzen helfen, indem sie Produktionsstandorte und Absatzmarkt stärker miteinander verbindet. Darüber ließen sich entlegene ländliche Räume wieder in Produktionsräume zurückverwandeln und auch Dienstleistungen wieder für das weite Land zugänglicher machen.

Individualität und Konnektivität

Die größte Ausdifferenzierung ist der Bezug auf das Individuum, welches – von Links wie Rechts – kollektivistischen Minderheits-, Geschlechts- oder Herkunftsidentitäten zugeordnet wird. Diese Identitätspolitik steht einer liberalen Orientierung an der Mündigkeit des Einzelnen diametral entgegen. Für den Liberalismus stehen statt Gruppeninteressen und kollektiven Identitäten die Potentiale des Einzelnen im Vordergrund.

Dieser Paradigmenwandel vom Kollektivismus zum Individualismus wäre auch im Nahen Osten die einzige Chance, aus den endlosen Kämpfen der jeweils kollektivistischen religiös-konfessionellen oder ethnisch-nationalen Entitäten wegzukommen.

So sollte es den Europäern in ihrem Nahost-Engagement weniger um einen Staat Palästina als um die Palästinenser gehen, deren individuelles Schicksal im Rahmen israelischer Dominanz besser aufgehoben wäre als in einen mutmaßlich korrupten und nach Hamas und Fatah in Bürgerkriegslager gespaltenen ›eigenen‹ Staat.

Individuen brauchen so viel Chancengleichheit wie möglich. Die Einforderung von Ergebnisgleichheit etwa in der Genderpolitik ist eine grobe Verletzung offener und fairer Wettbewerbsprozesse.

Liberale Ordnungen behaupten keine natürliche Ungleichheit, aber sie stellen Ergebnisungleichheit realistischerweise in Rechnung und wollen diese für eine sich ergänzende Gegenseitigkeit des Verschiedenen nutzen. Statt neuer Kollektivismen sollte die Konnektivität von Individuen gefördert werden.

Liberale bejahen die multikulturelle Vielfalt der Kulturen, aber sie lehnen einen Multikulturalismus ab, der kollektive Unterschiede bewusst verstärkt und damit sowohl den Zusammenhalt der offenen Gesellschaft als auch Freiheitsrechte des Einzelnen gefährdet.

Um der Freiheit des Einzelnen wegen gehören Kulturen wie Religionen in einer – gewissermaßen zweiten Säkularisierung – vom öffentlichen Raum in die Privatsphäre verdrängt. Es ist nicht die abendländische Kultur, die Europa zusammenhält. Christentum und Aufklärung haben 2000 Jahre bzw. 200 Jahre nicht vermocht, Europa in Frieden zu vereinen. Für sie gibt es in der Folge des nihilistischen Dekonstruktivismus im europäischen Geistesleben längst keine Mehrheiten mehr. Es bleibt nur noch der Wille zur individuellen Freiheit, der Europa geistig einen kann.

Die Priorität des Individualismus bedeutet eine Absage an den Nationalismus, aber keine Absage an einen Nationalstaat, der die Freiheit des Einzelnen gegen gesellschaftliche Mehrheiten schützt. Eine nationale Identität ermögliche – so Francis Fukuyama – erst liberale Demokratien, da diese auf einem impliziten Vertrag zwischen Bürgern und Regierung sowie zwischen den Bürgern beruhen. Deren gemeinsame Identität gründe auch auf der Gültigkeit dieses Vertrages.

Die Absage an kollektive Wertegemeinschaften und Leitkulturen macht die Unterstützung der rechtsstaatlichen Leitstrukturen umso bedeutungsvoller. Wenn Moral und Gesinnung über Recht und Gesetz gestellt werden, so ist der Rechtsstaat in großer Gefahr. Auch neue Trends, Mehrheitsentscheidungen aufgrund höherer Einsichten in humane Ziele oder ökologische Zusammenhänge nicht zu akzeptieren, sind eine Gefährdung der offenen Gesellschaft.

Eine differenzierte Europäische Union

Freiheit und Subsidiarität gehören auch auf der europäischen Ebene zusammen. Gemäß dem so oft beschworenen Subsidiaritätsprinzip bräuchte die EU stattdessen eine bessere gegenseitige Ergänzung ihrer supranationalen, internationalen und nationalen und auch regionalen Ebenen.

Nationalstaaten sind einer Staatenunion überlegen, wo sie eine den Problemen und dem Orientierungsvermögen angemessene Größenordnung aufweisen. In einem subsidiär strukturierten europäischen Mehrebenensystem gebührt ihnen der erste Platz.

Dort aber, wo der Nationalstaat zu kurz greift, in der Asyl-, Grenz-, Sicherheits- und Außenpolitik, wäre der Staatenverbund Europäische Union umso dringender gefordert. Hierbei werden wir nur weiterkommen, wenn das Einstimmigkeitsprinzip in der Europäischen Außenpolitik zugunsten eines qualifizierten Mehrheitsprinzips abgelöst wird. Wer – wie die neuen Partikularisten – um die Souveränität seines Nationalstaates fürchtet, verspielt damit die Handlungsfähigkeit der EU in der neuen multipolaren Weltordnung.

Mehr Vielfalt nach innen und mehr Einheit nach außen – dies wäre eine Formel für eine erneuerte Europäische Union, die sowohl dem Wunsch nach Ausbau der Freiheit nach innen als auch dem Erhalt der Freiheit gegenüber äußeren Bedrohungen entgegenkäme.

Realismus und Sachverstand für offene Diskurse

Auch als Ergebnis etlicher Schulreformen im Geist der 68er ist eine Studierenden-Generation herangewachsen, die zwar lernt, aber nicht mehr selbst denkt, sondern allenfalls kollektive Meinungen vertreten kann.

Ob in Politik, Medien und zunehmend auch in der Wissenschaft, von einer bürgerlichen Elite im Sinne von Kompetenz und Verantwortung kann kaum mehr die Rede sein. In der Parteipolitik sind eigenwillige und unabhängige Denker nicht einmal erwünscht.

Es dreht sich dementsprechend vieles um die Behauptung der Pfründen des Mittelmaßes. Das akademische Prekariat, welches die politische Bühne zunehmend dominiert, zerstört durch ignorante Übergriffigkeit oft genug die Eigenlogik anderer Funktionssysteme.

Mit dem Verlust offener Diskurse droht die erkenntnistheoretische Stärke der Demokratie Schaden zu nehmen. Unsere liberaldemokratische Initiative sollte demgegenüber offene Debatten fördern und einfordern und darüber zu einer erneuerten demokratischen Kultur beitragen.

Durch die Interdisziplinarität ihrer Mitglieder an Hochschulen kann dabei ein Niveau erreicht werden, welches aus gängigen Vereinseitigungen heraus- und in übergreifende Perspektiven hineinführt.

Dem stetigen Ringen unterschiedlicher Perspektiven verdanken wir die wichtigsten Grundlagen einer offenen Gesellschaft wie die Trennung von Religion und Politik, die rechtsstaatliche Demokratie, die Soziale Marktwirtschaft und auch die Gegenseitigkeit von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung.

Im Zeitalter der erkannten Grenzen der Globalisierung müssen neue Gegensätze wie Offenheit und Identität, Globalität und Partikularität, Freiheit und Vielfalt zu Gegenseitigkeiten verbunden werden.

 

*Vortrag zur Eröffnung der Tagung des Liberal-Demokratischen Laboratoriums (Libdela) in Köln am 12.Juli 2019