Peter Brandt
Willy Brandt, die Sozialdemokratie und die deutsche Frage

Die vielleicht bündigste Formulierung seiner Einstellung zur ›deutschen Frage‹ als Frage nach der Nation hat Willy Brandt auf dem Dortmunder SPD-Parteitag im Juni 1966 geliefert. Die Passage sei etwas ausführlicher zitiert:

»Ein Blick nach England, in die skandinavischen Länder, auch nach Amerika zeigt, dass Demokratie und Nation kein Widerspruch sind. Kein Volk kann auf die Dauer leben, ohne sein inneres Gleichgewicht zu verlieren, ohne in Stunden der inneren und äußeren Anfechtung zu stolpern, wenn es nicht ja sagen kann zum Vaterland. Wir Deutsche dürfen nicht die Geschichte vergessen. Aber wir können auch nicht ständig mit Schuldbekenntnissen herumlaufen, die junge Generation noch viel weniger als die ältere. Auch wenn der Nationalstaat als Organisationsform gewiss nicht das letzte Ziel politischer Ordnung bleibt, die Nation bleibt eine primäre Schicksalsgemeinschaft.

Dabei wissen wir… dass der Nationalstaat Existenz und Sicherheit eines Volkes nicht mehr allein gewährleisten kann. Übernationale Zusammenschlüsse sind auch zum Wohle der Nation erforderlich, auch zu ihrem Schutz. Unser Patriotismus versteht sich zugleich als europäische und weltpolitische Aufgabe.«

Der Redner betonte auch, dass Patriotismus nicht als Obrigkeitshörigkeit und kritiklose Hinnahme des gesellschaftlich Gegebenen missverstanden werden dürfe. In tätiger Verbesserung bestehender Zustände, auch im Wirtschaftlichen und Sozialen, habe sich wahrer Patriotismus zu zeigen. Stichwortartig also: Ja zur Nation als Bewusstseins- und Schicksalsgemeinschaft in der Verbindung mit der nicht nur als Regierungsform, sondern als Lebensform verstandenen Demokratie, zugleich übernationale, namentlich europäische Einbindung des Nationalstaats.

In einer nach dem Aufstand des 17. Juni 1953 verfassten Broschüre Arbeiter und Nation hatte Willy Brandt diese Erhebung als Bekenntnis für politische Freiheit und für die Einheit Deutschland gedeutet, jedoch hinzugefügt: »Die mitteldeutschen Arbeiter wollen die Diktatur loswerden. Aber sie wollen nicht die neue Diktatur durch eine alte Reaktion abgelöst sehen«. So wie in dem ersten Zitat von 1966 die Nation an Europa und internationale Bestrebungen angebunden wurde, stellte die Berufung auf den Juni-Aufstand 1953 die Konnotation mit der Tradition der Arbeiterbewegung und der revolutionären Spontaneität der Massen her.

Es war nicht vorwiegend Sentimentalität, die die Sozialdemokratie der 50er Jahre die Einheit Deutschlands ins Zentrum rücken ließ. Die Teilung hatte gesellschaftspolitisch ja vor allem die Folge, in beiden Staaten die Kräfte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung auszuschalten. Die Ost-SPD war unter massivem Druck 1946 in der SED aufgegangen, deren Führung sozialdemokratische und unabhängig-sozialistische Ansätze mit Rückendeckung der sowjetischen Besatzungsmacht niederhalten konnte, und die Anschauung des Experiments DDR stabilisierte im Westen Deutschlands den CDU-geführten Bürgerblock, während die SPD ihrer alten Hochburgen im ostelbischen Deutschland beraubt war.

Man hat zu Recht immer wieder darauf hingewiesen, dass für die Generation Willy Brandts die nationale Dimension persönlich wie politisch noch etwas Selbstverständliches war. Andererseits forderte die politisch-gesellschaftliche Realität gerade Sozialdemokraten im besonderen Maß zur Reflexion über das Nationale heraus. Für sie – und für Willy Brandt im Besonderen – erschöpfte sich die deutsche Frage eben nicht in der staatlichen Teilung, sondern ergab sich aus der Notwendigkeit, nach den materiellen und geistigen Verheerungen des Nazismus mit den autoritären Tendenzen der neueren deutschen Geschichte zu brechen und eine lebendige Demokratie zu errichten. Es ging gegenüber den Mitte-Rechts-Parteien nicht um ein Weniger an Nationalbewusstsein, sondern um dessen inhaltlich neue bzw. erweiterte Bestimmung. Man kann das sehr gut am Beispiel der Bundestagsdebatte anlässlich des 100. Jubiläums der Bismarckschen Reichsgründung von 1871 nachvollziehen, in der sich die sozialdemokratischen Redner dagegen wandten, das nationale Selbstverständnis der Bundesrepublik maßgeblich auf das Deutsche Reich von 1871 zu beziehen, sie vielmehr auf die Gesamtheit des kulturellen Erbes und der freiheitlichen Bestrebungen in der deutschen Geschichte abhoben.

Die frühe Arbeiterbewegung hatte das Bismarckreich notgedrungen akzeptiert als relativen Fortschritt und Kampfboden. Unzutreffend wäre es, von einem allgemeinen nationalen Nihilismus oder einer nationalen Indifferenz der klassischen Sozialdemokratie auszugehen. Bei allem menschenrechtsorientierten Universalismus und dem Bekenntnis zum proletarischen Internationalismus war die SPD doch auch stets bewusst eine deutsche Partei, gemessen an den Wertbezügen und den politisch-kulturellen Grundmustern, die sie geprägt hatten.

Ihr Vaterlandsbegriff negierte einerseits die bestehenden Institutionen des preußisch-deutschen Reiches zugunsten eines künftigen, sozial, ökonomisch und politisch ideal verfassten Gemeinwesens. Andererseits stellte er den Anspruch der herrschenden Schichten infrage, sich unter Ausschließung der sozialdemokratischen Arbeiterschaft als alleinige Vertreter des 1871 gegründeten Nationalstaats zu begreifen. »Wir verteidigen das Deutsche Reich auch als unser Vaterland«, so August Bebel, jahrzehntelang Führer der deutschen Sozialdemokratie, in einer Reichstagsrede an die Adresse der Regierung und der konservativen Parteien, »nicht Ihnen zuliebe, sondern Ihnen zum Trotz!«

Wir wissen, dass die Vorstellung der Vereinbarkeit eines solchen oppositionellen Patriotismus mit der internationalen Solidarität der Arbeiterklasse beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu Schaden kam. Es wird jedoch häufig übersehen, dass es nicht das Prinzip der Landesverteidigung oder gar die abstrakte Gegenüberstellung einer nationalen und einer internationalen Einstellung war, die die deutschen Sozialdemokraten nach 1914 auseinander trieben und schließlich zur organisatorischen Spaltung führten, sondern die mit der Entscheidung über die Kriegskredite faktisch (wenn auch nicht logisch zwingend) verbundene Politik des ›Burgfriedens‹, des Verzichts auf Opposition gegen das herrschende System im Krieg.

War die Weimarer Republik, die als Ergebnis der stecken gebliebenen Revolution von 1918/19 ins Leben trat, trotz ihres kapitalistischen Fundaments der ›freie Volksstaat‹, den man sich ja als demokratische Republik vorgestellt hatte? Während die große Mehrheit der Partei den Weimarer Staat als Rahmen sozialdemokratischer Reformpolitik und als Fortschritt gegenüber dem Kaiserreich verteidigte, blieb ihr Verhältnis zum Reich als Republik teilweise trotzdem eher kühl. Die Parteilinke lehnte es wegen der sozialen Herrschaftsverhältnisse und des Einflusses der alten Eliten rundweg ab, die Weimarer Republik als ihren Staat anzunehmen. Es war diese Problematik, die den jungen Aktivisten der Sozialistischen Arbeiterjugend Herbert Frahm, später Willy Brandt, mit seinen Genossen am 1. Mai mit einem Transparent durch Lübeck ziehen ließ: »Republik, das ist nicht viel – Sozialismus heißt das Ziel!« Auf der Rechten der SPD hingegen war die positive Staatsgesinnung oft unreflektiert und Ausdruck einer gemäßigten gesellschaftspolitischen Position.

Es ist hier keine Gelegenheit, die Gründe für den Untergang der Weimarer Demokratie im Allgemeinen, der sozialistischen Arbeiterbewegung im Besonderen zu erörtern. Nur soviel: Der Sieg der NSDAP 1933 führte im sozialdemokratischen Exil zu einer intensiven Beschäftigung mit der nationalen Frage Deutschlands. Dem völkisch-rassistischen Konzept stellte man die Selbstbestimmung nach außen und vor allem nach innen als Kern eines demokratischen Begriffs von Nation gegenüber, womit man an Positionen der Sozialdemokratie vor 1914 und nach 1918 anknüpfte.

Der immer noch junge Willy Brandt – Mitglied der linkssozialistischen SAP, als politischer Flüchtling erst in Norwegen, dann in Schweden, Mann des Widerstands, nach der von der Hitler-Regierung 1938 vorgenommen Ausbürgerung zu seinem Schutz norwegischer Staatsbürger – blieb dem Leitbild eines ›anderen (antinazistischen) Deutschland‹ stets verbunden; er wandte sich während des Zweiten Weltkriegs wie auch in den Jahren danach nachdrücklich gegen Strömungen im Lager der Alliierten, die den Nationalsozialismus aus einem deutschen Volkscharakter ableiten wollten und dazu tendierten, die Deutschen insgesamt schuldig zu sprechen. So sehr er den Gedanken einer Kollektivschuld zurückwies, so sehr betonte er über die Jahrzehnte hinweg die kollektive Verantwortung des deutschen Volkes und Staates, die bewusst anzunehmen sei. Im Stockholmer Exil war Willy Brandt an Versuchen beteiligt, programmatische Grundsätze für eine demokratisch-soziale Umwälzung in Deutschland nach dem Sieg über Hitler zu erarbeiten. Man hoffte anfangs noch auf eine eigene revolutionäre Rolle der deutschen Arbeiter, zumindest flankierend, machte aber, als die erwarteten Erhebungen ausblieben, dennoch klar, dass sich die deutschen Antinazis, namentlich die demokratischen Sozialisten, nicht in die Rolle von Bütteln der Besatzungsmächte drängen lassen dürften. In der Verteidigung der Lebensinteressen des arbeitenden deutschen Volkes und der Bewahrung der nationalen Einheit (und, soweit wie möglich, der Verteidigung territorialer Unversehrtheit) Deutschlands lagen die klar definierten Grenzen der Zusammenarbeit mit den Siegermächten.

Nur mit einer solchen unabhängigen Haltung sei es den deutschen Sozialdemokraten möglich, so meinte Willy Brandt, Deutschland nach Europa zurück zu führen; und eine konstruktive und progressive Lösung der gesamteuropäischen Zukunftsfragen werde es ohne Beteiligung Deutschlands nicht geben. Die Europäisierung Deutschlands in diesem Sinne erforderte eine Veränderung des nationalen Selbstverständnisses, so wie es sich seit dem späten 19. Jahrhundert im deutschen Bürgertum als Sonderbewusstsein verfestigt hatte, abgegrenzt gegen die vermeintlich oberflächliche ›Zivilisation‹ des Westens wie gegen die dunkle ›Barbarei‹ des Ostens.

Seit Ende 1946 war Willy Brandt in verschiedenen beruflichen Stellungen in der Vier-Sektoren-Stadt Berlin tätig und erlebte den aggressiven Zugriff der Sowjetunion und ihrer deutschen Gefolgsleute. Selbst im Mai 1948, kurz vor der Blockade, sprach er sich auf dem SPD-Landesparteitag noch gegen eine einseitige Festlegung im Konflikt der Großmächte aus, fügte aber hinzu, in der Auseinandersetzung »zwischen Freiheit und Knechtschaft, zwischen Demokratie und Diktatur« könne es keine Neutralität geben. »Demokratischer Sozialismus und terroristischer Kommunismus« stalinistischer Prägung stünden sich unversöhnlich gegenüber. Wie etliche andere frühere Linkssozialisten, nicht zuletzt sein Mentor Ernst Reuter, als Westberliner Stadtoberhaupt der Vor-Vorgänger, verstand Willy Brandt den beginnenden Kalten Krieg nicht als Konflikt zwischen Sozialismus und Kapitalismus, sondern als Ringen zwischen Tyrannei und relativer Freiheit.

Durch die Eindeutigkeit der Entscheidung für den Westen gerieten Reuter und Brandt in einen gewissen Gegensatz zum ersten SPD-Nachkriegsvorsitzenden Kurt Schumacher, der an linkem Antikommunismus schwer zu überbieten war, aber gegen die Westbindung der Bundesrepublik sowohl gesellschaftspolitische als auch vor allem nationale, gesamtdeutsche Vorbehalte geltend machte – und mit ihm die Mehrheit der Partei. Auf den ersten Blick mochte die Position des Reuter-Flügels der SPD näher an der Adenauerschen Linie bedingungsloser Westorientierung als am Kurs Schumachers liegen. In Wirklichkeit war es komplizierter: Reuter wusste, dass eine Lösung der deutschen Frage nur in einer Übereinkunft mit der Sowjetunion zu erreichen sein würde, bei der dann auch deren Sicherheitsinteressen gebührend zu berücksichtigen wären; doch er ging – wie Willy Brandt – davon aus, dass ihr in Berlin und in Deutschland zunächst eine politisch-psychologische Niederlage zugefügt werden müsse, bevor sie die Notwendigkeit erkennen würde, zu einer Kompromisslösung zu kommen. Als sie in den Jahren 1952/53 Anzeichen dafür zu erkennen meinten, so in den berühmten Stalin-Noten vom Frühjahr 1952, traten Brandt und Reuter – im Gegensatz zu Adenauer, aber in Übereinstimmung mit Schumacher und Anderen auch aus dem bürgerlichen Spektrum – dafür ein, die sowjetische Bereitschaft in ernsthaften Verhandlungen zu testen.

Jedenfalls schien Willy Brandt die Aufhebung der deutschen Teilung nur im Rahmen einer Neuordnung der Ost-West-Beziehungen insgesamt denkbar. Das hinderte ihn nicht daran, seit den mittleren 50er Jahren über konkrete Maßnahmen einer innerdeutschen Zusammenarbeit auf unterer Ebene nachzudenken, damit die menschliche Substanz der Nation, die kommunikative Verbindung der Ost- und Westdeutschen, nicht verloren gehe und – so hieß es bei ihm schon damals – »eben doch nicht letzten Endes endgültig auseinander gerissen wird, was zusammen gehört.«

Die Stunde für die Verwirklichung eines solchen politischen Ansatzes schlug erst, als der Mauerbau von 1961 zu neuen Überlegungen zwang und die weltpolitische Doppelkrise um Berlin und Kuba mit der realen Gefahr eines alles vernichtenden, großen Atomkriegs die Supermächte zum tastenden Übergang in eine Phase der Entspannung und des Arrangements veranlasste, die für die besonderen Anliegen der Deutschen sowohl Risiken als auch Chancen enthielt.

Für die Berliner Sozialdemokraten bedeutete der 13. August 1961 einen Schock, auch wegen der Untätigkeit der Westalliierten. Willy Brandt, Westberliner Regierender Bürgermeister seit 1957, hatte schon seit einiger Zeit befürchtet, dass das reine Beharren auf Rechtspositionen gegenüber den Vorschlägen bzw. Forderungen der östlichen Seite ohne phantasievolle eigene Initiativen des Westens am Ende zu einem Status quo minus führen würde.

Schneller und radikaler als im eigentlichen Bundesgebiet spürten die Berliner Sozialdemokraten den Zwang, der von der amerikanischen Respektierung der östlichen Machtsphäre ausging. Die Erleichterung über den als defensiv interpretierten Mauerbau in den westlichen Hauptstädten, namentlich in Washington, war Mitte August 1961 unverkennbar, die westliche Zurückhaltung hatte durchaus demonstrativen Charakter. In Berlin begann schon kurz nach dem 13. August 1961 bei Brandt und seinem engeren Beraterkreis (in erster Linie Innensenator Albertz, Bundessenator Schütz und Senatspressesprecher Bahr) ein Umdenken, das beschleunigt wurde durch einen tragischen Vorfall ein Jahr nach dem Mauerbau; Volkspolizisten ließen den angeschossenen Flüchtling Peter Fechter am 17. August 1962 im Minenfeld verbluten. Die ohnmächtige Wut der Westberliner, die sich in spontanen Massendemonstrationen äußerte, beschwor die Gefahr gewaltsamer Zusammenstöße an der innerstädtischen Demarkationslinie herauf und signalisierte eine dramatische Entfremdung zwischen den Berlinern und den Westalliierten. Die Situation musste schon aus Sicherheitsgründen irgendwie entschärft werden.

Die Aussage Willy Brandts am 6. Dezember 1961 im Bundestag, man dürfe den Landsleuten in der DDR »nicht den Rücken zuwenden«, bedeutete für den Brandt-Kreis vor allem, um praktische Erleichterungen für die Menschen zu ringen – als humanitärer Selbstzweck, aber auch, um den menschlichen Zusammenhalt der Nation zu wahren. Bei der ›Politik der kleinen Schritte‹ ging es vor allem darum, die Mauer durchlässiger zu machen, wenn man bis auf Weiteres gezwungen war, mit ihr zu leben. Da nicht nur den Ostberlinern der Übergang in den Westen, sondern auch den Westberlinern der Zugang in den Ostteil der Stadt verwehrt war, wodurch auch zahlreiche Familien auseinandergerissen waren, konzentrierte sich das Interesse auf eine Passierscheinregelung. Die eigentliche Hürde bildeten bei Verhandlungen die Statusfragen. Als der Berliner Senat Ende 1963 erstmals einen Beauftragten für Gespräche mit einem Beauftragten der DDR-Regierung benannte, war ein Tabu gebrochen. Die rettende Formel, beide Seiten hätten sich auf Amts- und Ortsbezeichnungen nicht verständigen können, erlaubte es der neuen Politik, in den Jahren 1963-1966 ihre humanitären und national verbindenden Wirkungen zu entfalten.

Das Schlagwort ›Wandel durch Annäherung‹ wurde zum Kennzeichen für die eingeleitete Politik. Am 15. Juli 1963 – mit dem Atomteststop-Abkommen zeichnete sich ein erstes praktisches Ergebnis der seit November 1962 vorsichtig eingeleiteten Entspannung zwischen den Weltmächten ab – sprachen Willy Brandt und Egon Bahr in der Evangelischen Akademie Tutzing. Bahr berief sich auf John F. Kennedy und stellte fest, eine Überwindung des Status quo sei nur möglich auf der Basis seiner faktischen Anerkennung. Es gelte, die kommunistische Herrschaft zu verändern, nicht, sie abzuschaffen, und zwar auch in der DDR. Dabei maß Bahr insbesondere den Handelsbeziehungen eine wichtige Rolle zu. Eine gewisse Stabilisierung der politischen Ordnung im Osten sei gerade erwünscht, denn sie mache den Wiederannäherungs- und Wiedervereinigungsprozess «mit vielen Schritten und vielen Stationen» kontrollierbar und somit für die UdSSR erträglich.

Es dauerte jedoch noch rund drei Jahre, bis das damit angedeutete Konzept in der Bundes-SPD wirklich durchgedrungen war. Ohne den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik und den Grundsatz der Nichtanerkennung der DDR formell aufzugeben, wurde auf dem Dortmunder Parteitag 1966 eine weitaus flexiblere Handhabung ins Auge gefasst, und Willy Brandt sprach sogar erstmals von der Möglichkeit eines »qualifizierten, geregelten und zeitlich begrenzten Nebeneinander der beiden Gebiete« als Zwischenlösung der deutschen Frage, »wenn durch internationale Entscheidungen die Weichen gestellt sind und im anderen Teil Deutschlands die freie Meinung sich entfalten kann.«

Als die wichtigsten internationalen Voraussetzungen einer Lösung der deutschen Frage galten Rüstungskontrolle und Entspannung mit dem Ziel der Abrüstung und Überwindung der Militärblöcke. Helmut Schmidt forderte einen eigenen Entspannungsbeitrag der Bundesrepublik in Mitteleuropa. »Eine Wiedervereinigung in einem Akt mit anschließender freier Aushandlung des Friedensvertrags ist ein irreales Konzept geworden. Ein Versuch der Vereinbarung einer Sequenz von Stufen, bei der das Betreten der ersten Stufe voraussetzt, dass rechtliche Bindungen auch schon hinsichtlich der letzten eingegangen sind, ist in der gegenwärtigen Lage Europas ebenfalls irreal. Wir Deutschen selbst müssen vielmehr, das Ziel fixierend, bereit sein, Schritte zu tun, obgleich die weiteren Stadien des Weges nicht im voraus einzeln festgelegt sind.« Damit war die Handlungsmaxime für die sozialdemokratische Regierungsbeteiligung als Juniorpartner der CDU/CSU ab Ende 1966, dann drei Jahre später als führende Partei, abgesteckt.

Das Ziel des Entspannungsprozesses sah Außenminister Willy Brandt 1968 in einer »europäischen Friedensordnung«, deren Vorstufe und Bestandteil ein »europäisches Sicherheitssystem« bilden müsse. Die europäische Friedensordnung sollte nicht den Status quo zementieren, sondern vielmehr die Teilung Europas in militärisch-politische Blöcke überwinden und eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen den Staaten beinhalten. »Friedenspolitik im nationalen Interesse« nannte die SPD die auf dieses Ziel ausgerichtete Politik, von der »europäischen Aufgabe des deutschen Volkes, die Teilung Europas und Deutschlands zu überwinden«, sprach Willy Brandt. Unabdingbar auf dem Weg zur Friedensordnung sei die Normalisierung der Beziehungen der Bundesrepublik zu ihren Nachbarn im Osten.

Am 21. Oktober 1969 wählte der Deutsche Bundestag Willy Brandt mit knapper Mehrheit zum Kanzler der neu gebildeten SPD-FDP-Koalition. Die Grundidee ihrer sogleich eingeleiteten Verhandlungsoffensive bestand darin, die wesentlichen strittigen Fragen, die die bundesdeutsche Ostpolitik blockierten, zuerst mit der UdSSR zu klären und dadurch einen Druck zu erzeugen, dem sich auch die anderen potentiellen Vertragspartner, in erster Linie die DDR, nicht würden entziehen können. Insofern war die aufsehenerregende Bemerkung Brandts in seiner ersten Regierungserklärung als Kanzler, es existierten »zwei Staaten in Deutschland«, die »füreinander nicht Ausland« seien, hauptsächlich ein Signal an die Sowjetunion.

Das Beharren der Bundesrepublik auf dem ›besonderen Charakter‹ der innerdeutschen Beziehungen nötigte die SED in der Folgezeit zu einem ideologischen Eiertanz. Jetzt erweiterten SED-Ideologen die Zwei-Staaten-Lehre zur Zwei-Nationen-Theorie: Die Bundesrepublik wurde zum Ausland erklärt, in der 1974 revidierten ostdeutschen Verfassung wurden die auf die Gesamtnation bezogenen Aussagen von 1968 gestrichen.

Erfurt, Kassel, Moskau, Warschau waren die Schauplätze der ost- und deutschland-politischen Offensive des Jahrs 1970. Die Szenen haben sich ins Gedächtnis der Nation eingeprägt: die Menschenmenge auf dem Bahnhofsvorplatz in Erfurt, deren Erregung mit »Willy, Willy«-Sprechchören hervorbrach; die missglückte Reprise der Begegnung Brandts und Stophs in Kassel; die Unterzeichnung des Moskauer Vertrags im Katharinen-Saal des Kreml; der Kniefall Brandts vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos – die Bußgeste des Repräsentanten des anderen Deutschland, stellvertretend für sein Volk.

Sicher: Die Ostpolitik fügte sich ein in den Versuch der Weltmächte, ihr Verhältnis zueinander zu verbessern, sie deckte sich mit dem Interesse großer Teile der westdeutschen Großindustrie an neuen Waren- und Kapitalabsatzmärkten. Gleichzeitig war sie aber getragen von einem breiten Engagement der (nicht nur linken) Intelligenz, von der Zustimmung der Volksmehrheit und der millionenfachen Hoffnung auf eine Ära des Friedens für Deutschland. Die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung votierte in den vorgezogenen Wahlen im November 1972 nach einem erbitterten Wahlkampf, dessen Hauptthema die Ostverträge waren, für die ost- und deutschlandpolitische Konzeption der sozialliberalen Koalition.

Die Ostverträge ebneten den Weg für das Viermächteabkommen über Berlin, den Verkehrsvertrag und den Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und in dessen Gefolge für zahlreiche Vereinbarungen und Abkommen über Reiseverkehr, Telefonverbindungen, Transport usw. Die Lebensbedingungen West-Berlins wurden gesichert, die Mauer durchlässiger gemacht. Über die innerdeutsche Grenze hinweg wurden die verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Bindungen erneuert bzw. neu geknüpft.

Die Entspannungspolitik der SPD beinhaltete von vornherein zwei Komponenten. Einerseits bedeutete sie die Fortführung jener Politik der ›Normalisierung‹ der Beziehungen zwischen den Militärblöcken, mit der die Große Koalition Anschluss an die im Harmel-Bericht der NATO von 1967 formulierte Konzeption der westlichen Sicherheitspolitik zu finden versuchte. In diesem Bereich diplomatischer Bemühungen um Vertragslösungen waren vor allem politische Entscheidungen anzusiedeln, die unter dem Stichwort ›Anerkennung der Realitäten‹ zusammengefasst werden können. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und der Existenz zweier deutscher Staaten sollte die Nachkriegsordnung stabilisieren und den Weg zu einer Ost-West-Kooperation mit weitgesteckten wirtschaftlichen Zielen ebnen.

Andererseits hatte die Entspannungspolitik nach dem Willen ihrer maßgeblichen Verfechter in Regierung und Publizistik aus dem Lager der Sozialdemokratie auch eine die bestehenden Verhältnisse dynamisierende und gewissermaßen emanzipatorische Perspektive. In dieser Hinsicht zielte sie nicht nur auf Friedenssicherung, menschliche Erleichterungen (Reise- und Besuchsmöglichkeiten) sowie den Ausbau der Zusammenarbeit, sondern zugleich auf eine Liberalisierung und Demokratisierung der gegensätzlichen Gesellschaftssysteme, namentlich des östlichen. Der Abbau der wechselseitigen Feindbilder des ›expansiven Kommunismus‹ bzw. ›aggressiven Imperialismus‹ sollte in der Bundesrepublik reformerische Initiativen erleichtern, die ihrerseits Reformansätze in der DDR und anderen Staaten des Warschauer Pakts beflügeln könnten. Während sich die stabilisierenden Elemente der Entspannungspolitik als tragfähig für einen ausbalancierten Interessenausgleich erwiesen, überforderten die dynamisierenden und emanzipatorischen Komponenten offenkundig die Reformfähigkeit insbesondere des östlichen Systems und die Bereitschaft der Weltmächte zur »Europäisierung Europas« (eine Parole eines der Vordenker der Neuen Ostpolitik, Peter Bender).

Nachdem die Phase der Vertragsverhandlungen im Wesentlichen abgeschlossen worden war und wechselseitige Abgrenzungszwänge die Dynamik des ›Wandels durch Annäherung‹ gebrochen hatten, begannen sich auch auf innerdeutscher Ebene unverkennbar Stagnationstendenzen durchzusetzen. Sobald die greifbaren Resultate ausblieben, konnten sich die ständigen Warnungen der CDU/CSU-Opposition vor der Preisgabe von ›Rechtsstandpunkten‹ wieder deutlicher Gehör verschaffen.

Schon seit dem großen Wahlerfolg der sozialliberalen Koalition im Herbst 1972 begann sich in der Sozialdemokratie eine Diskrepanz zwischen den ost- und deutschlandpolitischen Konzeptionen einiger Politiker und Publizisten einerseits und dem eher noch wachsenden Desinteresse großer Teile der Partei (wie der Gesamtbevölkerung) an den Verhältnissen östlich der Elbe andererseits aufzutun. Die rapide Modernisierung und die alltagskulturelle Verwestlichung der westdeutschen Gesellschaft führten letztlich zu dem vielfach registrierten Rückgang des gesamtdeutschen Bewusstseins, nicht dieser oder jener Regierungswechsel. Es ergab sich die paradoxe Situation, dass in der Bundesrepublik die Staatsführung auch und gerade unter der SPD-FDP-Regierung an der Einheit der Nation festhielt, für die Gesellschaft gesamtdeutsche Bezüge aber an Bedeutung verloren, während die DDR staatsoffiziell seit 1970 von der Existenz zweier deutscher Nationen ausging, was von deren Bevölkerung bis weit in die SED jedoch nicht ernst genommen wurde.

Mehr und mehr wurde in der bundesdeutschen öffentlichen Meinung – auch und gerade im SPD-Spektrum – der entspannungspolitische Ansatz der Jahre um 1970 umgedeutet in eine endgültige und bedingungslose Anerkennung der Nachkriegsordnung; Überlegungen zur Errichtung einer neuen europäischen Friedensordnung, wo sie angestellt wurden, fixierten sich zunehmend auf die Zweistaatlichkeit Deutschlands als ihre Voraussetzung. Als störend empfanden viele führende Sozialdemokraten zudem die öffentliche Erörterung der nationalen Frage. Zugleich begegneten sie dem Phänomen der osteuropäischen Opposition – die zumindest in der DDR ja der SPD näher stand als den Liberal-Konservativen-, um nicht Erreichtes zu gefährden, auch nach dem Regierungswechsel in Bonn 1982 mit großer Zurückhaltung.

Die SPD musste ihre Entspannungspolitik seit den späten 70er Jahren in Auseinandersetzung mit den USA und gegen den weltpolitischen Trend entfalten. Während in der Konfrontation mit der Reagan-Regierung (ab 1982 aus der Opposition heraus) wieder stärker das Ziel der Blocküberwindung ins Auge gefasst wurde, wurden nach Osten hauptsächlich die stabilisierenden Elemente der Entspannungspolitik hervorgehoben. Am deutlichsten wurde das bei den Stellungnahmen zur Solidarność und zum Kriegsrechtsregime in Polen zu Beginn der 80er Jahre. Je mehr die bipolare Blockarchitektur in Europa im Verlauf der 80er Jahre ins Wanken geriet, desto mehr war die SPD-Führung um eine friedliche, sozusagen geordnete Transformation der osteuropäischen Systeme besorgt. Für die Erwartung – durch den Wechsel zu Gorbatschow in der UdSSR zunächst scheinbar glaubhaft bestärkt –, eine Veränderung in der DDR werde aus der SED-Spitze selbst hervorgehen, sprach in der Tat manches. Das Problem lag meines Erachtens weniger in den engen Parteikontakten der SPD mit der SED, sondern in der mangelnden Sensibilität gegenüber den unabhängigen Umwelt-, Menschenrechts- und Friedensgruppen, die aufgrund eines regierungs- und institutionenfixierten Politikverständnisses (trotz der Erfahrung mit Polen) in ihrer Bedeutung unterschätzt wurden.

Dabei hatte es während der Debatte über die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen zu Beginn der 1980er Jahre zeitweilig so ausgesehen, als würde es tatsächlich gelingen, die in der sozialdemokratischen Deutschlandpolitik seit jeher angelegte Verbindung von Friedenssehnsucht und deutscher Frage zu erneuern. Im Unterschied zu den 1950er Jahren war jetzt nicht mehr der Wunsch nach Vereinigung Deutschlands ein herausragendes Motiv für das Engagement gegen die Aufrüstung, sondern das Engagement in der Friedensbewegung ließ eine große Zahl Menschen erstmals wieder die prekäre geostrategische Lage Deutschlands in der Ost-West-Konfrontation und die lange tabuisierten Statusfragen (alliierte Stationierungs- und Vorbehaltsrechte) erkennen. Die teils beabsichtigte, teils indirekte Wechselwirkung mit den im Osten Deutschlands entstehenden unabhängigen Friedensgruppen, die Sicherheitsdebatte, die auch auf die DDR (bis in die Führung hinein) ausstrahlte, und die patriotischen Äußerungen mancher Integrationsfiguren der Friedensbewegung schufen im linken Spektrum für einige Zeit ein – politisch allerdings ganz diffuses – gesamtdeutsches Zusammengehörigkeitsgefühl.

Nach einer Phase der Unsicherheit setzten sich jedoch in der neuen Partei der Grünen (wie zunehmend auch in der SPD) Positionen durch, deren Vertreter – sei es ›realpolitisch‹, sei es fundamentaloppositionell begründet – die Zweistaatlichkeit Deutschlands für unabänderlich hielten. Es gelang der CDU/CSU-FDP-Koalition nach der Herausforderung durch die Friedensbewegung auch deswegen erstaunlich schnell, die Interpretationsmacht in der Diskussion über die deutsche Frage zurückzugewinnen. Erst die Ereignisse des Herbstes 1989 ließen in der Führung und Mitgliedschaft der SPD die latent gesamtdeutsch orientierten Kräfte hervortreten. Das war nicht nur nach meinem Eindruck ein flügelübergreifender Vorgang.

Ich kann mit Sicherheit sagen, dass Willy Brandt die Option deutsche Einheit niemals aufgegeben hat. Wenn er – durchaus missverständlich – in den 1980er Jahren mehrfach von der »Wiedervereinigung« als »Lebenslüge« der Bonner Republik sprach, dann meinte er erstens, dass es nicht um die Wiederherstellung eines früheren Zustands gehen könne; zweitens hob er darauf ab, dass die bundesdeutsche Wiedervereinigungsparole bis weit in die 60er Jahre auf Deutschland in den Grenzen von 1937 bezogen war (in der SPD-Spitze hatte sich seit den späten 50er Jahren mehr und mehr die Auffassung durchgesetzt, dass mit einer auch nur überwiegenden Rückgliederung der Gebiete östlich von Oder und Neiße nicht mehr zu rechnen sei, auch wenn man bis etwa Mitte der 60er Jahre noch Grenzkorrekturen erhoffte, ohne dass das alles öffentlich diskutiert wurde); drittens ging es bei dem Diktum von der ›Lebenslüge‹ um die Diskrepanz zwischen deklamatorischem Bekenntnis und realen Möglichkeiten, wenn man nicht die Westbindung infrage stellen wollte; viertens schließlich wollte Willy Brandt die staatsrechtliche Form einer künftigen deutschen Einheit offen halten. Deshalb und im Hinblick auf die erneute Verschärfung der Ost-West-Konfrontation in der ersten Hälfte der 80er Jahre und die damit verbundene Gefahr für die Errungenschaften der Entspannung gerade in Deutschland sah er die Wiedervereinigungsforderung als schädlich an. Ein Ideologe der Zweistaatlichkeit und ein Vertreter ›postnationaler‹ Konzepte war er indessen nicht.

Die Problematik der ›gemeinsamen Sicherheit‹ und der Nord-Süd-Konflikt standen – neben der alltäglichen Vorsitzenden-Tätigkeit für die SPD und die Sozialistische Internationale – bei Willy Brandt nach seinem Ausscheiden aus dem Kanzleramt 1974 im Mittelpunkt des Interesses. Die westeuropäische Einigung, für die er zu Beginn seiner Kanzlerschaft wichtige Impulse gesetzt hatte, blieb ihm ein hochrangiges Anliegen; zur ersten Direktwahl des Europa-Parlaments trat er selbst an. Er sah die EU-Integration nicht im Gegensatz zur gesamteuropäischen Zusammenarbeit. Dabei trat für ihn die Emanzipation der Europäer (West und Ost) von ihren Vormächten noch stärker ins Zentrum als das seit den mittleren 60er Jahren schon der Fall gewesen war. Die deutsche Einheit war somit mehr denn je ein – wichtiges – Unterziel der Aufhebung der europäischen Teilung. Wie fast alle politischen Akteure und Denker der unterschiedlichen Richtungen ging Willy Brandt bis weit in das Jahr 1989 davon aus, dass noch sehr viel im Ost-West-Verhältnis geschehen müsse, bevor die Deutschen wieder ›unter einem Dach‹ (eine beliebte Formulierung) leben würden.

Es ist allgemein bekannt, dass der (seit 1987) Ehrenvorsitzende der SPD im Herbst 1989 und Frühjahr 1990 seine Partei deutschlandpolitisch ins Schlepptau nahm und mit dafür sorgte, dass sie den Übergang in die deutsche Einheit einigermaßen heil zuwege brachte. Dabei kam der SPD die Gründung einer eigenen ostdeutschen Sozialdemokratie aus der Bürgerrechtsopposition zugute; diese konnte das Odium zu langer und zu enger (so die Kritiker) Kooperation mit der SED bis zu einem gewissen Grad kompensieren. Die schwere Niederlage der SPD bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 konnte Willy Brandt mit seinem enormen Engagement (er sprach in der DDR vor Hunderttausenden) nicht verhindern – ein Grund unter anderen lag in dem uneinheitlichen Erscheinungsbild der Partei. Wohl trug er aber maßgeblich dazu bei, dass sich der Zug in Richtung der staatlichen Einigung Deutschlands beschleunigte, auch wenn er sich den Prozess erst einmal anders vorgestellt hatte. Schon seit November 1989, deutlicher dann seit dem Jahreswechsel skandierten die Demonstranten in der DDR, namentlich die Arbeiter in den südlichen Bezirken, die Verszeile der Staatshymne: »Deutschland – einig Vaterland!« bzw. »Wir sind ein Volk« und nicht mehr nur »Wir sind das Volk«.

Anders als die meisten Spitzenpolitiker der SPD nahm Willy Brandt nicht nur die Veränderungen der internationalen Szenerie auf der Ebene der Staatenwelt wahr, wie sie sich, vorangetrieben von Michail Gorbatschow in den späten 80er Jahren , sichtbar vollzogen; er registrierte eben auch seismografisch die Vorboten der innergesellschaftlich revolutionären Situation, wie sie sich östlich der Elbe (nicht nur und nicht einmal in erster Linie in Ostdeutschland) seit Frühjahr 1989 zeigten. Die Vermutung mag nicht allzu weit hergeholt sein, dass gerade die Herkunft aus der alten Arbeiterbewegung und dem radikalen Sozialismus ihn – zusammen mit seinem feinen Gespür für die Veränderung historischer Konstellationen – dazu befähigte, an den eigenen gradualistischen Konzepten nicht dogmatisch festzuhalten, sie vielmehr an die jeweils veränderte Situation anzupassen. So erkannte er frühzeitig die Unmöglichkeit, den deutschen Einigungsprozess künstlich anzuhalten, bis der gesamteuropäische Prozess dieselbe Stufe erreicht haben würde.

Eine jüngst erschienene Quellenedition, mit Dokumenten aus den internen Akten der SPD-Führung 1989/90, herausgegeben von Ilse Fischer, zeigt deutlich, was man auch schon vorher wissen konnte: Der innerparteiliche Diskussionsprozess lässt sich nicht auf die simple Alternative der Brandt-Linie zu der Lafontaine-Linie reduzieren – abgesehen davon, dass Lafontaine analytisch mit einigem Recht hatte. Es gab verschiedene und unterschiedlich motivierte Zwischen- und Unterpositionen. Einwände gegen eine bestimmte staatsrechtliche Form der Vereinigung, ihr Tempo, ihren gesellschaftspolitischen Inhalt oder die NATO-Mitgliedschaft der erweiterten Bundesrepublik sind von einer eventuellen grundsätzlichen Ablehnung der Neuvereinigung Deutschlands zu unterscheiden. Das gilt übrigens auch für die Bürgerrechtsopposition im Osten. Ungeachtet aller dieser Einschränkungen und ungeachtet der Frage, ob eine eindeutig einheitsbejahende, aber deutlich stärker eigenständige Deutschlandpolitik der Sozialdemokratie 1989/90 eine reale Möglichkeit gewesen wäre, hat es sicher seinen guten Grund, dass das Ansehen der SPD im Hinblick auf ihre Verdienste um die deutsche Nation stark mit dem Namen Willy Brandt verbunden ist. Dessen Memoiren, kurz vor dem Umbruch von 1989/90 erschienen, enden mit der Feststellung, es sei eine große Genugtuung seines Lebens, dazu beigetragen zu haben, dass der deutsche Name in der Welt inzwischen mit dem Frieden und der europäischen Freiheit assoziiert werde. Streicht man das Adjektiv ›deutsch‹, verliert der Satz seinen Sinn.

(Vortrag auf Einladung des Lübecker Willy-Brandt-Hauses am 20. April 2010)