Tobias Cheung: Res vivens. Agentenmodelle
organischer Ordnung 1600-1800
Freiburg i. Br. (Rombach Verlag) 2008, 318 S.

Die Verwebung, ja beinahe Gleichsetzung der Begriffe des Lebendigen und des Organismus ist aus dem heutigen Denken kaum mehr wegzudenken – und schon gar nicht aus der Wissenschaft. Die Ursprünge dieser fundamentalen Begrifflichkeit und ihrer kulturhistorisch und wissenschaftsgeschichtlichen Konsequenzen liegen dabei oft im Dunkeln und es gibt nur wenige Fachleute, die eine profunde Kenntnis dieser konzeptuellen Genese besitzen. Tobias Cheung ist ein solcher Experte und ihm verdanken wir ein weitreichendes und umfassend informiertes (bzw. informierendes) Werk, das eine in der deutschen Wissenschaftslandschaft konkurrenzlose Darstellung der Modelle des Lebendigen liefert.

Er macht auch sogleich die Tragweite des Organismusbegriffs und seiner Vorläufer klar: »Die Ordnungform des Lebendigen bestimmt das Verhältnis von Seele und Köper, Körper und Umgebung, Mensch und Tier, Tier und Pflanze, Lebendigem und Nicht-Lebendigem sowie Tod und Fortdauer.« (S. 12) Dabei liegt das Augenmerk auf den begrifflichen Transformationen und der zunehmenden Verwissenschaftlichung des gesamten Sachgebiets.

Dabei orientiert sich die Arbeit an einzelnen Begriffen und Ideen, die maßgebliche Fortschritte in der Konzeption des Lebendigen mit sich gebracht haben. So teilt sich die Arbeit in neun Kapitel: Zuerst (S. 17-40) wird anhand von Digby die Problematik der Verbindung von maschinell-animalischem Körper und menschlicher Seele dargestellt, also das Problem der Verbindung materieller und immaterieller ›Agenten‹ in einer zielgerichteten Tätigkeit. Das Bild des Körpers als einer mechanisch agierenden Maschine bedarf der Erweiterung um eine koordinierende, kontrollierende Instanz, die den Bewegungen Einheit und Richtung vorgibt. Dabei gibt es eine Jahrhunderte überdauernde Überzeugung von einer allgemeinen ›Ökonomie‹ der Dinge, die in nützlicher Zweck-Mittel-Relation systematisiert sind.

Im zweiten Kapitel (S. 41-72) wird der Einfluss der Cambridger Platoniker (More, Cudworth, Ray, Grew) herausgearbeitet, die Bezug nehmen auf die (an Ficinos Hypostasenlehre angelehnte) kosmologische Dimension der sogenannten plastischen Naturen und so die Idee einbringen, Leben würde durch interne Energie zur Selbsttätigkeit angetrieben. Plastische Kräfte vermitteln dabei »zwischen körperlosem Denken und körperlicher Ausdehnung« (S. 46). Die universelle Ökonomie der Dinge dient einigen Platonikern als Grundlage für zwei umstrittene Thesen: einerseits für einen Gottesbeweis, andererseits für die Idee, die Natur als universelle und komplexe ›Kunst‹ zu begreifen. Die zentrale Frage ist dabei zumeist die nach Ursprung des Lebens aus der Verbindung von Körpern.

Das dritte Kapitel (S. 73-104) behandelt die Frage nach dem Instinkt der Tiere als deren natürlichem Merkmal und den Beitrag, den die frühen Entwürfe der Psychologie als Wissenschaft der Seele (vgl. S. 73) zur Entstehung moderner Agentenmodelle geleistet haben. Anhand verschiedener Autoren (Huartes, Cureaus, Reimarus) wird die Theorie der Temperamente von der Idee der Instinkte als Bilder oder Triebe abgegrenzt und rekonstruiert. Reimarus etwa schreibt den Tieren auch eine ›Lebensart‹ zu, die ihr Verhalten bestimme, zugleich die Organe und deren zweckmäßige Anordnung als Existenzbedingung habe und Reize mit bestimmten Reaktionen verbinde (S. 91ff.).

»Nach plastischen Naturen und Instinkten bezeichnen die Themen Seelenautomat und lebendige Faser zwischen 1570 und 1730 zwei gegenläufige Tendenzen, eine sich selbst regulierende Ordnungsform darzustellen, die weder Tiermaschine noch schon Menschenseele ist.« (S. 105) Dies ist das Thema des vierten Kapitels (S. 105-144), in dem Boullier, Suárez und Glisson exemplarisch für die genannte Debatte untersucht werden. Boullier etwa postuliert ein Modell beseelter Automaten, nach dem in der Komposition der Teile eines Lebewesens der Grund für (tierisches) Leben enthalten ist: In allen Körpern findet sich ein immaterielles Prinzip, das Perzeptionen und Zielsetzungen ermöglicht, von dem sich die höher entwickelte Seele aufgrund ihrer Freiheit unterscheidet. Suarez erweitert dies zu einem »Assimiliationsmodell« (S. 124ff.), in dem die Seele die Ordnungsform des Körpers ist, ohne den Körper jedoch zu bloßer Passivität zu verdammen. Glisson schließlich schreibt den Körpern »Fasern« als Grundbestandteile zu, die selbst schon auf bestimmte Operationen und Tätigkeiten ausgerichtet sind (vgl. S. 141).

G. E. Stahl ist es nun, der den Begriff des Organismus bzw. Seelenorganismus als Gegenbegriff zum Mechanismus einführt (S. 145-174). Die Seele bildet die strukturgebende Grundlage der »tierischen Ökonomie« (S. 153) und fundiert als Organisationsform eine prinzipielle Differenz zwischen lebendigen und unlebendigen Körpern: Erstere sind dadurch gekennzeichnet, dass die interne Zweckmäßigkeit der Zusammensetzung (also der Anordnung der Organe) die Dispositionen zu Bewegung, Blutzirkulation, Ernährung und Fortpflanzung ermöglicht, also die Elemente (Apparate) der Selbsterhaltung, auf die alle Lebewesen ausgerichtet sind. Dabei koordiniert die Seele mit ihrem »Wissen« im weiteren Sinne die Gesamtbewegungen des Körpers (S. 166).

Ein anderer Aspekt, der im sechsten Kapitel (S. 175-212) dargestellt wird, ist die Sensibilität oder Irritabilität der Lebewesen. Bourdeus und Barthez dienen hier als Quelle, die Idee der lokalen und allgemeinen Regulation auf spezifische Weise sensibler Organe als zentrales Merkmal herauszuarbeiten sowie die Subordination organischer Tätigkeiten unter ein Wechselspiel lokal gesteuerter Kräfte. Barthez schließlich führt ein vitales Prinzip ein, das die organischen Prozesse, d.i. die spezifischen Dispositionen der einzelnen Organe und ihrer Ausführungen entlang eines immanenten und individuellen Plans reguliert. Durch diese Ideen eines Gleichgewichts im Zusammenspiel der einzelnen Teile des Körpers entsteht zudem ein neuer Begriff von Gesundheit und Krankheit.

Siebtens wird Bonnets »lebendige Webmaschine« vorgestellt (S. 213-230), nach dem der Körper als Textur begriffen wird, die auf Keime zurückgeht, aus denen in einem sich selbst differenzierenden Produktionsprozess neue reproduktive Teile erwachsen. Dabei sind auch für Bonnet Fasern die Grundbestandteile der Lebewesen, so dass die Reproduktion der Körper und Körperteile mit der Mechanik der Webstühle verglichen werden kann (S. 222ff.). Diese Maschinen lassen sich, ähnlich wie Leibniz’ Maschinenmodell der körperlichen Substanzen, stets weiter zerteilen in immer kleinere Maschinen, deren Hierarchie das einheitskonstitutive Moment des Lebewesens ist.

Im achten Kapitel werden Lebewesen anhand von Bichat und Cuviers als Funktionssysteme vorgestellt (S. 231-256): Beide greifen die Theorie der mit je spezifischer Sensibilität ausgestatteter Organe auf und binden die Idee von verschiedenen Gewebetypen in diese bloß strukturellen Ordnungen ein. Auch hier erhalten die Organe eine körpereigene Harmonie der Aktivität, wobei physikalische und chemische Prozesse getrennt betrachtet werden können und Erklärungen durch Vitalkräfte nur dann nötig sind, wenn erstere Erklärungsarten versagen. Im systematischen Zusammenspiel entstehen wiederum die Lebensformen der Tiere.
Die Arbeit ist also insgesamt episodenhaft strukturiert und reflektiert diese Konzeption auch bewusst – die einzelnen Etappen werden nachgezeichnet, »ohne in zielgerichteter Entwicklung von einem Jahrzehnt zum nächsten fortzuschreiten« (S. 9). Diese methodologische Vorentscheidung mag in der Heterogenität und schieren Quantität der Quellentexte wohl begründet sein, doch vermisst der Leser gelegentlich erhellende oder erläuternde Querverweise, durch die diese immerhin zwei Jahrhunderte umspannende Darstellung mehr Einheit bekäme.

Dabei ist nicht klar, an welche Leserschaft sich das Buch wendet. Der Philosoph würde je nach eigener Ausrichtung eine größere historische Bezugnahme oder eine Rückbeziehung auf die Gegenwart erwarten; der Kulturwissenschaftler vermisst den Bezug zur (geistesgeschichtlichen) Kultur, etwa eine Skizze der ideengeschichtlichen Bedeutung von relevanten technischen Neuerungen, wie etwa der Erfindung des Mikroskops und dem Historiker mag es an einer Einbettung an Kontextbezügen und einer Darstellung der Entwicklungslinien, der Traditionen und Brüche der Denker des Organischen mangeln. Aber das ist einerseits vielleicht zu viel verlangt, andererseits liegt es auch im Wesen der behandelten Thematik, die sich einer eindeutigen disziplinären Zuordnung entzieht: Das Problem ist zu philosophischer Natur, um eindeutig der Wissenschaftsgeschichte zugeordnet zu werden; zu empirisch, um reine Philosophie zu sein; zu technisch, um im engeren Sinne Kulturwissenschaft zu sein.

Zudem hätte man sich eine nähere Erläuterung des Begriffs der umfassenden »Ökonomie der Dinge« gewünscht, der eine wichtige Rolle in der Kontextualisierung des Organismusbegriffs spielt – das Lebewesen ist als Teil einer strukturierten, geordneten Natur in diese harmonisch eingepasst und ihm kommt eine interne, ordnungsstiftende Struktur zu, die der äußeren Ordnung angepasst ist. Auch die den jeweiligen Thesen zugrundeliegenden Beobachtungen und philosophischen Auseinandersetzungen werden nur gelegentlich angeschnitten, so dass die Thesen für sich klar dargestellt sind, ohne dass der Leser etwas über ihre jeweilige Begründung oder zeitgemäße Plausibilität erfährt.

Auch enthält das Buch gleich zu Beginn eine steile Zielvorgabe: »Im Laufe der Untersuchung wird sich zeigen, wie eng sich die Geschichte der res vivens mit der Geschichte der res cogitans und der Geschichte der aufkommenden Wissensdisziplinen verbindet, deren zentrales Objekt das Lebendige ist.« (S. 9) Diesem Anspruch wird die Untersuchung jedoch nicht gerecht, da in ihrem Verlauf weder die Geschichte der res cogitans noch die der Wissensdisziplinen eine große Rolle spielen. Aber durch diese Fokussierung auf die res vivens wird die Qualität des Textes keineswegs geschmälert, im Gegenteil, man kann sich die Frage stellen, ob das skizzierte Projekt überhaupt in einem einzelnen Buch sinnvoll  durchgeführt werden kann.

Ohnehin ist die Darstellung streng genommen nicht vollständig: Es fehlen erstaunlicherweise gerade einige derjenigen Denker, die bis heute den größten Einfluss auf die Organismuskonzeption gezeigt haben, nämlich Leibniz, Kant und Cuvier. Dies ist allerdings keine dem Autor vorzuwerfende inhaltliche Vernachlässigung, hat er diesen drei Autoren doch bereits ein eigenes Buch gewidmet (Cheung, Tobias: Die Organisation des Lebendigen. Die Entstehung des biologischen Organismusbegriffs bei Cuvier, Leibniz und Kant, Frankfurt a. M., 2000).
All diese Monita sind angesichts der Errungenschaft, die dieses Buch darstellt, nur unbedeutend. Schließlich wurde hier zum ersten Mal in der deutschsprachigen Forschung eine umfassende und thematisch komplexe Entwicklung aufgezeigt, auf Grund deren die Entstehungsbedingungen des heutigen Organismusbegriffs verständlich werden. Die Darstellung ist klar, am Text begründet, zeugt von enzyklopädischer Belesenheit und ist vor allem auch dem thematisch ungeschulten Laien zugänglich. Zudem sind alle Zitate übersetzt, wobei die zentralen Begriffe in Klammern in der Originalsprache angegeben werden, was das Verständnis der oft fremden Terminologie erleichtert. Die Arbeit enthält eine reiche Bibliographie, die zu diesem Thema als maßstabsetzend gelten kann. Wer sich mit der neuzeitlichen Naturphilosophie oder der Geschichte der Medizin oder der Biologie auseinandersetzt, wird um dieses Buch kaum herumkommen; und wer sich in dem Gebiet erst orientieren muss, der findet hier einen besonders hilfreichen und wegweisenden Einstieg.

Ansgar Lyssy