Thomas Körner
Eine nicht vorhandene Gegenwart

 

Wir wissen nicht, ob und was andere Wesen über die Welt herausgefunden haben.
Ungewiss auch, was wir darüber noch in Erfahrung bringen werden.
Sicher scheint nur, dass wir uns seit dem Ursprung der Welt – wenn es einen gab – mit unseren Theorien darüber gut runde siebzehn Milliarden Jahre Zeit gelassen haben.
Was Wunder also, wäre während und nach der Entstehung auch dieser neuen, kleinen, zusätzlichen Neben- oder Hinterwelt kein Mensch zum Theoretisieren aufgelegt gewesen – und hätte die Frage »Wie alles seinen Anfang nahm und fortging bis auf den nämlichen Tag und fürderhin noch werden will« getrost auf später verschoben werden können.
Das Gegenteil war der Fall.
Nicht nur die Ereignisse überstürzten sich; auch die Erklärversuche.
Die Ereignisse gleichsam vorwegnehmend durch das Begreifen ihrer Entstehung, versuchte man sich mitten im Geschehen zu erklären, was geschah.
Man suchte nach Erklärungen und wurde von der Klarheit überholt und überrascht, die sich unerklärlicherweise einstellte – dass in zu kurzer Zeit einfach zu viel geschah, als dass auch nur irgendetwas länger als einen Augenblick bestehen konnte.
Danach wurde es von unübersehbaren, weiteren Ereignisfolgen außer Kraft gesetzt, umgestürzt, und jede Erklärung verlor so ihren Wert, bevor sie aufgestellt und begründet war.
In der Inflation des Geschehens war die Inflation seiner Begreifbarkeit enthalten und selbst diese Immanenz war nicht sofort und für jeden ohne weiteres einzusehen – gar als gegeben hinnehmbar.
In ihrer ersten Rat- und Hilflosigkeit schien es den meisten Betroffenen, als ob es Haufen von Ereignissen wären, oder Ereigniswolken, die unter der Turbulenz ihrer eigenen Massenhaftigkeit wieder zerfielen, nur um sich sofort in einer gemeinsamen Ebene erneut und systematischer anzuordnen; und die sich schließlich doch entweder ganz von selbst auflösten oder unter der Einwirkung neuer Ereignismassen in einzelne Ereignisgruppen oder Geschehensfragmente zerbrachen, die dennoch keinen Sinn ergaben.
Systematischere Naturen beobachteten voller Aufmerksamkeit, wie die Nachrichten, Berichte, Meldungen, Maßnahmen, Befehle, Anordnungen, Bestimmungen, Vorschriften, Hinweise, Verbote, Gerüchte und Vermutungen sie gleichsam als Schockwellen durcheilten – wie in einem geschlossenen Universum aber immer wieder in sich selbst zurückkehrten, und so an ihrem Ausgangspunkt erneute Erschütterungen auslösten.
Und die Sachverständigsten von allen erklärten, dass von einem inflationären Prozess hinsichtlich des Gesamtgeschehens gar nicht die Rede sein könne, da es sich ja mitnichten um eine stark beschleunigte Ausdehnung handele, so dass auf Grund der immer stärker sich beschleunigenden Zusammenziehung und Abschließung stattdessen von einem deflationären Entstehungs-Modell der neuen Verhältnisse zu sprechen sei...
Das diesen und vergleichbar ähnlichen Überlegungen Gemeinsame war nun nicht, dass sie zutrafen oder daneben lagen – es war sowieso nicht die Zeit recht zu haben – sondern ihr Verhältnis zur Kausalität, welcher Vorgang wiederum an den Zeitbegriff gebunden ist.
Dieses Prinzip wurde zwar beibehalten und die Kausalität im Sinne der zeitlichen Folge blieb erhalten – Vergangenheit und Zukunft besaßen weiterhin ihren absoluten Charakter – aber der Begriff der zeitlichen Dauer erfuhr insofern eine Relativierung, als die Gegenwart in jedem Fall gegen Null tendierte.
Die Formel dafür lautete: Es muss wieder werden, wie es war. Darum kann es nicht sein und bleiben, wie es ist.
Was hieß, der augenblickliche Zustand, oder die momentanen Gegebenheiten hatten ihre Daseinsberechtigung nur in ihrer Änderung und diese ihre Abschaffung zum Ziel.
Da eine Gleichzeitigkeit von einst und jetzt sich aber von selbst ausschloss, ergab sich aus diesem Kausalitätsverständnis paradoxerweise, dass man sich nur noch und ausschließlich mit der Gegenwart befasste, um aus ihr und nur aus ihr zu verstehen, wie man sie loswerden könnte.
Und kurioserweise waren sich alle darin einig: weil sich die Gegenwart, ihrer absolut inakzeptablen Beschaffenheit wegen, in diesem Sinne weder begreifen, geschweige denn überwinden ließ, gab es sie eigentlich gar nicht.
Mit dem Erfolg, dass diese doppelt negierte Gegenwart, faktisch durch die Hintertür ihrer Nichtexistenz sich zwischen Vergangenheit und Zukunft schob, oder wieder hinein schlich und dort allmählich in ihrer Unumkehrbarkeit breit machte, als eine Tatsache, die der Affirmation nicht bedurfte, dafür aber sofort für sich die unangemessenste aller Bezeichnungen beanspruchte, die sich in dieser Situation denken ließ – nämlich die der Normalität!
Was man alltäglich und leichthin Normalität nennt, ist genau genommen nichts anderes als eine Abfolge von Ereignissen, bei der die Art und Weise, wie die Dinge ihren Lauf nehmen, unseren Erwartungen und unserem Verständnis entsprechen.
Es gibt kaum Überraschungen, und wenn, bleiben sie im Rahmen des Üblichen – die Normalität bezeichnet somit einen Geschehensstrom, in welchem mitzutreiben wir gewohnt sind; in ihm gehen wir baden oder ganz unter, oder wähnen uns trockenen Fußes an seinem sicheren Ufer.
In ihrer Gewöhnlichkeit ist diese Normalität eher ereignisarm. Sie findet in einer uns so gemäßen Form statt, die uns eigentlich der Mühe enthebt, sie noch besonders wahrzunehmen.
Wir verlassen uns darauf, dass bei dem, was passiert, nichts passiert.
Dann geschieht das vermeintlich oder tatsächlich nicht Vorhersehbare, unerwartet, unvorstellbar, unverständlich – eine Explosion des Geschehens oder der Zustände – ein ursächlich ausgelöster Ereignisknall, und die sogenannte feste Gesichertheit und Gerichtetheit des Daseins stürzt wie ins uranfängliche Chaos, in eine, im Bruchteil des Augenblicks vor sich gehende, schlagartige, im Moment des Geschehens schon nicht mehr zu ändernde Veränderung.
Doch mag diese auch noch so folgenschwer und verheerend sein, sobald in dieser sich auch nur der kleinste Anschein einer planvollen Weltentstehung erkennen lässt, wird bereits wieder Normalität mitbegründet, obwohl diese naturgemäß mit dem vorherigen Zustand zunächst nicht einmal den Namen gemein hat.
Aber jede Erschütterung schüttet letzten Endes mit den Trümmern dessen, was sie mit sich in den Abgrund gerissen hat, diesen wieder zu – und so – wie vielleicht das frühe Universum eine gewisse Mutlosigkeit befallen haben mag, als es einsehen musste, dass bei dem Zusammenprall oder Aufeinandertreffen von Materie und Antimaterie eben nicht alles und gänzlich vernichtet worden, sondern der Rest oder Überhang es selbst war – allein gelassen, zurückgeblieben und gezwungen, ins Unabsehbare nun fort zu existieren und bestehen zu müssen – so schien die im Schlaf Überraschten, schuldlos Betroffenen, die mutwillig Ahnungslosen, wissentlich Unwissenden, die Verspäteten, Zurückgekehrten, zu spät Entschlossenen, Unentschlossenen der Verdacht zu beschleichen – ein verzweifeltes, erstes, insgeheimes Abfinden mit dem fatalen Umstand, immer noch da zu sein – plötzlich sehr allein zu sein, irgendwie übrig und hängen- oder sitzen geblieben, und einfach nicht mehr fort oder weg zu können und war zwar noch keine Einsicht oder Eingeständnis, aber doch schon eine Urform der beginnenden, sogenannten ›neuen‹ Normalität.
Genauer hingesehen, gab es diese Normalität deshalb nicht, weil sie zunächst nur aus Gegensätzen bestand, die sich zu keiner Einheit zusammenfinden konnten, sie verhielten sich mindestens wie zwei Seiten ein und derselben Sache, die sich weigerten, deren Vor- und Rückseite zu sein.
Keine hielt sich für die Kehrseite der anderen – und die eine Seite hieß Resignation und die andere Aggressivität.
Die Resignation war dabei nichts anderes als ein Realitätssinn, der unter Schock stand und die Aggressivität war dessen oppositionelle Entsprechung auf der verbalen Ebene.
Zunächst, wie geblendet, hatten alle die Augen zugemacht und jedem hatte es die Sprache verschlagen.
Als man anfing, den Tatsachen wieder ins Auge zu blicken, fand man auch wieder Worte.
Denn im Gegensatz zur Resignation wurzelte der Sinn für die Realität tief in der Vergangenheit und hatte eine lange Tradition, und im Gegensatz zur Aggressivität blühte die Opposition stets weit voraus in die Zukunft – sollte werden, was wollte, man war schon vorher immer dagegen gewesen.
Berliner Herz und Berliner Schnauze fanden auf diese Weise wieder zusammen und die Berliner allmählich ihre Fassung wieder.
Man konnte zwar noch so sehr dagegen sein, ohne etwas zu ändern. Doch vermochte man auch nichts zu ändern, man konnte den Mund aufmachen.
Resignation deshalb, weil es so ist und Opposition dagegen, wie es ist – zwangsläufig geriet man so in Opposition zu seiner eigenen Resignation – und genau an diesem Punkt gaben die Gegensätze ihren Widerstand auf und bequemten sich zur Einheit.
Plötzlich ging das Leben nicht nur de facto weiter, sondern in Wirklichkeit.
Und zwar nicht aus Trotz, sondern aus Überzeugung. Denn das Absurde selbst war es, das zum ersten Mal normal schien.
Merkwürdigerweise ließ sich das von der Normalität Gesagte nun auch von der Absurdität behaupten.
Jedes Ereignis hatte nur dank seiner Absurdität einen Bezug zum nächsten.
Diese Absurdität zog sich zusammen, wurde dichter, schloss ein, wurde Faktum, statt Gleichnis zu bleiben.
Mochte zum Schluss eine Normalität von der anderen verdrängt sein – die Absurdität blieb dieselbe. Man empfand das als normal.
Die Ereignisse brachten ihre eigene Normalität hervor, indem sie ihrem Sich-Ereignen den Anschein des Normalen gaben.
In dieser Scheinbarkeit des Normalen entlarvten sie alsbald die alte Normalität ihres Scheins und brachten eine neue Normalität zum Vorschein.
Hatte die alte Normalität sich zu den Ereignissen aufgebauscht – zu der neuen glätteten sie sich wieder.
So gab es auf einmal zwei Arten der Normalität.
Die eine, verordnete, erstarrte unter der Glut der Ereignisse.
Die andere, gewohnte, glomm unter der Asche der verglühenden Ereignisse weiter.
Man lebte in zwei Normalitäten und natürlich war das absurd.
Da war vorhersehbar, dass beide Normalitäten sich aufeinander zu bewegen würden und bemerken ließen, dass bis auf die veränderten Umstände auch alle Normalitäten sich irgendwie glichen.
Es sollte noch lange Zeit unmöglich bleiben, sich mit diesen veränderten Umständen abzufinden oder gar anzufreunden. Aber es wurde normal, unter ihnen zu leben. Was hieß, es wurde die unnormalste Folge der Ereignisse aus ihrer ursächlichsten Unnormalität heraus als Teil der Normalität hingenommen.
Die Grenzmauer war eine Tatsache. Sie wurde auch nicht normal. Sondern sie blieb absurd. Aber im Angesicht dieser Absurdität zu leben, es zu versuchen, wurde Teil der Normalität und Realität. Und erst daraus entstand die wirklich neue Wirklichkeit, die eine vakuolische war, eine hermetische...