Vorwort

Hegels These vom Ende der Kunst steht, allen vordergründigen Widerlegungen und allem Beharren auf einer Modernität nach Hegel zum Trotz, als Menetekel über allem künstlerischen Gewerbe. Das erstaunt, nachdem der dialektische Weltprozess längst in einen Prozess der Verwesung übergegangen ist. Posthistoire, Postmoderne, Moderne ›danach‹ sind Schlagworte, in denen, neben manchen anderen, auch das Ende der Kunst nistet – nicht als Abschluss, sondern als ausgedehnter Endzustand, als Veralten des Neuen in Permanenz, als ritueller ›Zirkus‹. In diesem Zustand ›danach‹ sind, wie viele zu wissen glauben, alle Fragen offen, was wenig mehr bedeutet, als dass es zur Routine geworden ist, sie in der einen oder anderen Weise zu beantworten und gleichzeitig offen zu lassen. Was immer man sagen könnte – und wirklich ohne Unterlass sagt –, es reicht nicht aus, um die enorme Lücke zu füllen (oder zu schließen), die der Verlust der Moderne, ihrer ›großen Erzählungen‹, wie man sie allzu pauschalisierend nennt, gerissen hat. Wer so denkt – und agiert –, der ist nicht wirklich am Danach interessiert, er hört nicht auf, das Verlorene zu bedenken, weil es noch als Verlorenes gegenwärtiger ist als das Gegenwärtige, oder er lügt sich die Welt zurecht, in der es weder das eine noch das andere gibt, weder den Verlust noch das Verlorene. Immerhin liegt es im Schema der Moderne, irgendein Danach auszurufen und zu sehen, was geschieht: mit dieser Art Revolution beginnt und endet sie, wenn man den Interpretationen glauben darf.

Dass darin eine Schwierigkeit steckt, haben Historiker immer empfunden. So ist die ›Moderne danach‹ vor allem ein Anschreiben gegen den Mythos der Moderne, und so ist die Kunst danach vor allem ein Nachtrag all dessen, was in den hochfahrenden Gesten der Modernen verborgen, verschwiegen, weggebogen oder allzu selbstgewiss denunziert wurde. Doch darin liegt, von vielen empfunden, eine zweite Schwierigkeit: da der Kunst das abgeht, was in der Geschichtsschreibung die Fakten sind, die unerbittliche Kontrollinstanz, die es erlaubt, den Sand des Geschehenen ein ums andere Mal durch den Engpass der Interpretationen laufen zu lassen, verfallen die Findigen unter ihren Vertretern auf ein Analogon: Sie verändern die Genealogien, heben Nebenlinien hervor, negieren offenkundige Abhängigkeiten und beharren, dies vor allem, darauf, es selbst dort anders zu meinen, wo sie die alten Formen und Formeln gebetsmühlenhaft wiederholen. Wir sind anders – die alte Pathosformel der Moderne, gegen die Moderne gewendet, erzeugt, wie sollte es anders sein, nichts Neues, sie zeugt von einer leeren Aufgabe, einer black box, um einen Lieblingsausdruck der Theorie zu verwenden, in der man, vorsätzlich oder nicht, Ideen, Menschen und Dinge verschwinden lässt, die vor kurzem noch von äußerster Wichtigkeit zu sein schienen. Man kann in solchen Künsten ein ausgebreitetes Tabusystem erkennen, das es erlaubt, sich zwischen den Möglichkeiten der Kunst zu bewegen wie Marodeure auf einem verlassenen Schlachtfeld: immer bereit, sich angesichts all der Toten die Taschen vollzustopfen und hier und da einem Sterbenden den letzten Stoß zu versetzen, bereit auch, Kräften einer wie immer beschaffenen Ordnung mit der Waffe in der Hand entgegenzutreten oder ihnen elastisch auszuweichen, falls ihre Stärke dies ratsam erscheinen lässt.

Die Moderne wird vergessen werden – sie wird schon vergessen, so wie allem kulturellen Tun das Vergessen beigegeben ist und es irgendwann überwältigt. Schon deshalb ist jedes Ende ein Anfang, schon deshalb ist jedes Ende ein Ende unter anderen und unter anderem: eine Zuspitzung, eine Stilisierung, eine Handreichung, die es eine Zeitlang erlaubt, dem Einerlei zu entrinnen, das nicht nur in der Kunst – aber hier mit großer Sicherheit – den Tod bedeutet. Die Affinität der Kunst zu jeder Art von Anfang und Ende ist offenkundig. So wie sie eine Art institutioneller Totenwache darstellt, die dort ihre Aufgabe erfüllt, wo die unmittelbaren Erregungen abklingen und sich Widerwille breitmacht, ihnen weiterhin zu Diensten zu sein, so steht sie für die Gegenwart der Anfänge inmitten aller ausgebreiteten und ausgebildeten Verhältnisse. Damit ist auch gemeint, dass ihre jeweils ältesten Zeugnisse leuchten wie vielleicht nie zuvor, auch nicht zum Zeitpunkt ihrer Entstehung. Vor allem jedoch bedeutet es, dass jede Art anfänglichen Sprechens und Gestaltens in ihr im Recht ist, so wie es durch den Anpassungsdruck der Institutionen immer ins Unrecht gesetzt wird. Die Kunst ist nur partiell Institution wie jede andere auch. Man wird ihr erst gerecht, wenn man das stets Individuelle der Anfänge, die sich aufs Neue herstellende Bewegung des Findens und Erfindens in den Köpfen hinzudenkt, denen es nichts nützt, dass andere an dieser Stelle bereits erfolgreich agierten. Soweit die künstlerische Moderne, das Markenzeichen einer Geisteslandschaft, die man heute mangels treffender Begriffe ›den Westen‹ nennt, dieses Moment zu monopolisieren unternahm, ist sie weniger gescheitert als in einer vergeblichen Anstrengung sistiert.

Das bedeutet nicht, dass ›alle Fragen offen‹ sind. Wer fragt, erwartet Antworten, oder er heuchelt. Es gibt viel Wissen in der Kunst und über sie, vom handwerklichen Gewusst-wie bis zu den subtilsten Motivationen derer, die in ihr groß geworden sind. Es gibt auch ein Wissen um die Kunst, das sich in atemberaubenden Prozessen bei denen bildet, in denen sie neu entsteht. Wer durch notorisches Offenhalten, Beiseitetreten oder Beiseitestehen dieses Wissen abweist, den nennt die Tradition einen Dilettanten. Der Dilettantismus gehört zu den Künsten, er ist ihr ständiger Begleiter. Auch sind die Übergänge fließend und es bleibt von außen oft unentscheidbar, ob im Abweisen ein produktives Moment steckt, das es verständlich, vielleicht sogar unabdingbar macht, oder ob es auf Ignoranz und banale Vorteilsnahme hinausläuft. Kunst ist Aneignung – ob rechtmäßig oder unrechtmäßig, ob kontinuierlich oder disruptiv, tut nichts zur Sache. Der ›Stand der Technik‹ ist genauso ein wirksames oder unwirksames Phantasma wie der Stand der Ideen oder der Verhältnisse und in steter Gefahr, für eine andere Technik, eine andere Idee oder ein anderes Verhältnis, aus dem weitere hervorgehen, pulverisiert zu werden. Was innerhalb einer Kultur gilt, gilt auch zwischen den Kulturen. Der Mechanismus der Aneignung fremder ›Kulturleistungen‹, den man den Westen nennt, hat lange funktioniert. Damit war nie nur das routinierte ›Aufbrechen‹ gemeint, das sich politisch im Kolonialismus und seinen Wurmfortsätzen der Ausbeutung und des nation building bekundet. Es ist aber möglich, dass der gewaltige Potlatsch des globalisierten Kulturbetriebs hier die Verhältnisse schwieriger macht.

März 2008
Die Herausgeber

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