Martin Schulz
Präsident des Europäischen Parlaments

Die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europaparlament als Schritt zur weiteren Parlamentarisierung oder zur Entparlamentarisierung der Europäischen Union?

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich wurde gebeten, in meinem Eröffnungsvortrag mit Ihnen gemeinsam über die Frage nachzudenken, ob die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament die Parlamentarisierung der EU vorangetrieben hat. Nun bin ich im Gegensatz zu den meisten von Ihnen kein Verfassungsrechtler und möchte diese Frage deshalb auch nicht aus verfassungsrechtlicher Sicht erörtern. Es heißt ja, hier solle es einen Austausch geben zwischen Wissenschaft und Politik, und Sie haben in den nächsten zwei Tagen Redner zu Gast, die das sicherlich besser können als ich.

Ich bin Politiker und ich bin einer der Mitinitiatoren ‒ und auch ein Akteur ‒ dieses sogenannten Spitzenkandidaten-Prozesses. In gewisser Weise bin ich vielleicht auch ›befangen‹. Daher möchte ich mich der Frage, ob das Modell der europäischen Spitzenkandidaten einen Gewinn für die europäische Demokratie gebracht hat, politisch annähern, und Ihnen auch meine Erfahrungen aus dem letzten Europawahlkampf vortragen.

Zunächst zur Geburt der Spitzenkandidaten-Idee. Einleitend ist festzuhalten, dass Europa nach wie vor eine Konstruktion sui generis ist. Die EU ist in meinen Augen der Versuch, eine Antwort auf die globalen Herausforderungen im 21. Jahrhundert zu finden. Zu den Antworten, die gefunden werden müssen, gehört auch die Antwort auf die Frage: Kann angesichts der Globalisierung von Ökonomie, Wissenschaft, Kultur und Politik Handlungsfähigkeit und Demokratie zugleich bewahrt werden? Ich glaube: ja. Wir können in der EU erreichen, dass der Verlust an demokratischer Selbstbestimmung ‒ der einhergeht mit dem Verlust an Souveränität, weil wir längst Phänomene transnationaler Souveränität erleben ‒ nicht einhergeht mit dem Verlust des Einflusses von Parlamenten. Wenn transnationale Souveränität den Verlust von Parlamentarismus bedeutet, dann ist das ein Demokratie-Defizit dramatischer Art und deshalb glaube ich: Europa wird demokratisch sein oder scheitern. Im Umkehrschluss gilt: Ohne Europa ist unsere Demokratie ‒ insbesondere die parlamentarische Demokratie ‒ bedroht.

Ich glaube nicht, dass die EU ein Gebilde ist, das sich in enge staatsrechtliche Begriffe zwängen lässt. Der Blick durch die nationalstaatlich eingefasste Schablone lässt nur zwei Interpretationen der europäischen Integration zu: entweder Staatenbund oder Bundesstaat. Wir wissen, die EU ist aber keines von beidem und wird wahrscheinlich auch niemals vollständig in eine dieser Schablonen passen. Die EU ist ein Gebilde zwischen Staatenbund und Bundesstaat ‒ das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinem Maastricht-Urteil von 1993 mit dem Begriff des ›Staatenverbunds‹ auch ganz gut bezeichnet. Die EU ist etwas ganz Neuartiges, etwas ganz Einzigartiges. Manche sagen, sie sei etwas Eigenartiges, das kann man auch unterstreichen. Deshalb wären wir vielleicht auch gut beraten, die EU weniger als festgefügtes Gebilde zu betrachten denn als Prozess. Was wir erleben, ist etwas, was es noch nie gegeben hat: die Herausbildung einer transnationalen Demokratie. Europa lediglich zu diskutieren im Hinblick auf seine Finalität, vernachlässigt den Prozesscharakter, dem Europa unterworfen ist. Europa ist nicht, Europa wird. Und auch Demokratie ist niemals ein Zustand. Demokratien müssen sich immer neuen Herausforderungen ‒ und übrigens auch immer neuen Erwartungshaltungen der selbstbestimmten Bürgerinnen und Bürger ‒ stellen, was ihre Institutionen angeht. Die Parlamentarisierung z.B. in Finnland, auf die Peter Brandt hinwies, war eine unmittelbare Reaktion dieses Landes auf eine völlig neue Erwartungskultur der Bürgerinnen und Bürger ‒ höhere Partizipationswünsche gehen nicht einher mit Präsidialdemokratie.

Ein Blick zurück auf die Geschichte des Parlamentarismus zeigt, dass nationale Parlamente nicht mit ihrer heutigen Machtfülle geboren wurden, sondern sich ihre Rechte gegenüber der Exekutive erstreiten mussten. Gerade auch einer im Entstehen begriffenen transnationalen Demokratie sollten wir Raum und Zeit für eine vergleichbare Entwicklung einräumen. Im Rückblick lässt sich jedenfalls feststellen, dass im Zuge der europäischen Einigung mehr und mehr Kompetenzen nach Brüssel übertragen wurden, Kompetenzen, die national nicht mehr kontrollierbar sind.

Der Deutsche Bundestag überwacht die deutsche Bundesregierung. Aber der Bundestag und die anderen nationalen Parlamente können nicht 28 Mitgliedsregierungen und eine existierende europäische Exekutive, nämlich die Kommission, mandatieren, überwachen oder gar an die Kette legen. Das kann nur eine Instanz, die dafür geschaffen wurde: Das sind wir im Europäischen Parlament. Diejenigen, die über unser Parlament herziehen und stänkern ‒ die gibt es ja in Hülle und Fülle ‒, verkennen, dass das Europaparlament seit der Einführung der Direktwahl 1979 einen erheblichen Machtzuwachs erfahren hat, dass es de jure ein starkes Parlament und eigentlich in der Pole Position ist. Kein Parlament hat so viel Machtzuwachs erstreiten können wie wir im letzten Jahr.

Wir sind ‒ ich weiß, das klingt mutig, aber ich sage: Wir sind eines der mächtigsten Parlamente der Welt. Welche Institution schafft bindendes Recht für 507 Millionen Menschen, die in 28 souveränen Staaten leben? Dass wir auch unsere internationale Rolle ernst nehmen und dort, wo zum Beispiel der Grundrechteschutz der einzelnen Bürgerinnen und Bürger auch unseres Landes durch den nationalen Gesetzgeber nicht mehr ausreichend geschützt werden kann, als Parlament eintreten, haben wir hinreichend bewiesen anlässlich des SWIFT-Abkommens, des Bankdatenabkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika. Wo der Anspruch der datenrechtlichen Selbstbestimmung oder gar der nationalstaatlichen Definition der Zulässigkeit der Verwendung von Daten von Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik Deutschland durch US-amerikanische Organe nicht mehr durch den Deutschen Bundestag, nicht einmal mehr durch die Bundesregierung zu gewährleisten war, ist das Europäische Parlament in eine Ersatzvornahme eingetreten. Damit ist meiner Meinung nach nachdrücklich bewiesen, dass wir ein mächtiges Parlament sind.

Doch in den letzten Krisenjahren in Europa haben wir eine Entwicklung erlebt, die mir große Sorgen macht. Wir haben Rückschritte hinnehmen müssen bei der allmählichen Demokratisierung der Europäischen Union, beim Erstreiten von mehr parlamentarischen Rechten. Auf europäischer Ebene haben wir erlebt, was ich eine beunruhigende Re-Nationalisierung und eine ›Vergipfelung‹ nennen will, durch die ‒ gerade in zentralen Bereichen der Politik ‒ eine schleichende Entparlamentarisierung droht.

Zeiten der Krise sind Zeiten der Exekutive. Krisen verlangen schnelles Handeln und schnelles Entscheiden. Einmalig mag das hinnehmbar sein. Ganz klar: In den Nächten, in denen es um die Euro-Rettung ging, kann ich nicht erwarten, dass die Regierungschefs sich zunächst einmal in die Textexegese um die Zulässigkeit ihres Handelns begeben. Deshalb: Einmalig mag das Handeln ohne nationales oder europäisches Parlament und ausschließlich nach dem Willen der Exekutive ‒ und manchmal auch neben der vertragsrechtlichen Zulässigkeit ‒ akzeptabel sein. Aber wir erleben in Europa den perpetuierten Ausnahmezustand. Der Trend zur ›Vergipfelung‹ hält an. Die Inflation der Gipfeltreffen in der Europäischen Union des Europäischen Rates hat zu mehr als 30 ›Krisengipfeln‹ geführt – ich hatte die Ehre, Frau Merkel zum 25. Krisengipfel gratulieren zu können, sozusagen dem Silbergipfel –, bei denen die Staats- und Regierungschefs vertragswidrig immer mehr Entscheidungen an sich zogen und sich zugleich in immer mehr Details der Gesetzgebung einmischten. Jürgen Habermas hat dieses Vorgehen als die ›Selbstermächtigung des Europäischen Rates‹ bezeichnet und das Resultat ‒ ich finde sehr zutreffend ‒ ›Brüsseler Exekutivföderalismus‹ genannt.

Mich erinnert das, ehrlich gesagt, mehr an den Wiener Kongress. Damals lautete die Maxime, hinter verschlossenen Türen und ohne demokratische Kontrolle nationale Interessen durchzudrücken und hinterher den erstaunten Untertanen mitzuteilen, worauf man sich verständigt hatte. Nach einer ganz ähnlichen Methode wurde bis zum vergangenen oder bis zu diesem Jahr der Kommissionspräsident im Hinterzimmer ausgekungelt und anschließend den Bürgern ein Kandidat präsentiert, den ‒ das kann man, glaube ich, wohl so sagen ‒ niemand in Europa auf einem Zettel hatte. Wer wissen will ‒ ich vermeide das Wort ›Geschachere‹ ‒, wer wissen will, wie diese Verhandlungen ablaufen, dem empfehle ich das Buch der Brüsseler Korrespondenten Cerstin Gammelin und Raimund Löw (SZ und ORF) mit dem Titel Europas Strippenzieher. Ein spannendes Buch über die Frage, wie in der Vergangenheit die höchste Exekutivfunktion, die die EU zu vergeben hat, die des Kommissionspräsidenten, besetzt wurde.

Ich mache an dieser Stelle einen Einschub. Der Vorgänger von Jean Claude Juncker war José Manuel Durão Barroso. Im Jahre 2004, als er Kommissionspräsident wurde, war der eigentlich von allen gesetzte Kandidat Guy Verhofstadt, der belgische Premierminister, auf den sich die meisten geeinigt hatten. José Manuel Durão Barroso war der Gastgeber des sogenannten ›Azorengipfels‹. Der Azorengipfel war das Treffen von Aznar, Bush, Blair unter der Gastgeberschaft von Barroso am Vorabend des Beginns des Irakkriegs, die ›Koalition der Willigen‹ ‒ Sie erinnern sich. Verhofstadt war der deutsch-französische Kandidat, der bis dato eigentlich immer in der Pole Position war: Jacques Chirac und Gerhard Schröder hatten ihn vorgeschlagen.

Zwischen den beiden Gruppen verlief damals die Spaltung der Europäischen Union. Die Koalition der Willigen wollte nicht den Kandidaten der nicht am Irakkrieg teilnehmenden Staaten. Mit der Frage, ist einer kompetent die EU zu führen, hatte das nichts zu tun. Das war ein Machtspiel. Die heutige Bundeskanzlerin war damals Oppositionsführerin in unserem Land und hat sich gerühmt, dass sie an diesem Verfahren entscheidend mit beteiligt war ‒ was sie war. Auf ihren an mich adressierten Vorwurf, ich würde mit dem Spitzenkandidatenprozess den Kommissionspräsidenten politisieren, habe ich die Gegenfrage gestellt: Wer hat welchen Posten politisiert? Wenn sich Regierungschefs hinter verschlossenen Türen auf rechtlich nicht so fassbare Verfahrensweisen einigen, ist das für die Regierungschefs nett. Ich bin dafür, dass wir uns auf eine andere Verfahrensweise einigen, nämlich uns an Vertragstexte zu halten, die für alle verbindlich sind. Wir haben heute die Situation, dass sowohl bei den politischen Absprachen außerhalb als auch bei rechtlich verbindlichen Vereinbarungen innerhalb des Vertrages in Brüssel permanent Probleme auftreten.

Der Europäische Rat entscheidet de facto nur im Konsens ‒ wenn er im Konsens entscheidet. Manchmal gibt es Mehrheitsentscheidungen ‒ ich komme nachher auf eine zurück ‒, aber in der Regel entscheidet der Rat der Staats- und Regierungschefs einstimmig. Wenn der Rat der Staats- und Regierungschefs aber, wie ich das eben beschrieben habe, in zunehmendem Maße alles auf seine Ebene zieht, selbst die Details der Gesetzgebung, dann führt er faktisch das Einstimmigkeitsprinzip durch die Hintertüre wieder ein, weil in einem solchen Konsensorgan am Ende der Unwilligste und der Langsamste das Tempo vorgibt.

 Zu welchen Verrenkungen das führt, konnte man übrigens sehr gut beim Fiskalpakt sehen. Da wurde am Ende, weil sich die Staaten nicht einigen konnten und zwei ihr Veto einlegten ‒ Großbritannien und die Tschechische Republik ‒ eine abenteuerliche Hilfskonstruktion entwickelt, unter Ausschluss des Europäischen Parlaments, auch der nationalen Parlamente. Übrigens: Auch die Organe des Europäischen Stabilitätsmechanismus unterliegen keiner parlamentarischen Kontrolle ‒ keiner nationalen und keiner europäischen. Übrigens die Troika auch nicht.

All diese außerparlamentarischen Eskapaden gilt es in den kommenden Jahren wieder einzufangen und der parlamentarischen Kontrolle zu unterwerfen. Auch beim Europäischen Semester zeigen sich die Negativfolgen eines solchen Vorgehens. An sich ist das Europäische Semester eine gute Sache. Die Abstimmung der Wirtschaftspolitiken, insbesondere auch der Haushaltspolitiken, die Einhaltung der Haushaltsdisziplin, das sind wichtige Sachen. Und dass die Einhaltung der Haushaltsdisziplin gemäß dem Wachstums- und Stabilitätspakt überwacht werden muss, ist genauso wichtig wie der Ausgleich der makro-ökonomischen Ungleichgewichte.

In der Praxis sieht es aber so aus: Der Finanzminister eines Landes schickt seinen Haushaltsentwurf erst einmal nicht an sein nationales Parlament, sondern gleich an die EU-Kommission. Die EU-Kommission analysiert den Haushaltsentwurf ‒ und zwar zunächst auf Beamtenebene, nicht auf der Ebene des Kollegiums der Kommissare. Und dies nach Kriterien, die Kommissionsbeamte in Richtlinien, die sich Jahreswachstumsbericht oder broad economic guidelines nennen, definiert haben. Diese Kriterienkataloge, nach denen die Haushaltsentwürfe beurteilt werden, haben noch nie ein nationales oder europäisches Parlament erreicht. Verkürzt ausgedrückt: Beamte schicken Beamten Entwürfe, die Beamte nach von Beamten gemachten Kriterien bewerten.

Auszubaden haben das Parlamentarier und Regierungen. Dass Regierungen darauf unwillig reagieren, kann ich verstehen, denn wir sind dabei auf dem Weg zur Gefahr, dass das Königsrecht des Parlaments verletzt wird, nämlich das Haushaltsrecht.

Wenn unter dem Ereignisdruck von Krisenmanagement die Parlamente ‒ die nationalen ebenso wie das Europäische ‒ immer mehr an den Rand gedrängt werden, kann man das, wie gesagt, ein Mal hinnehmen. Aber wir erleben die Tendenz ‒ übrigens auch stark medial ‒, dass Parlamente als Zeitverschwendung betrachtet werden, als Störfaktoren, die bei der Entscheidungsfindung umgangen werden müssen, weil sie zu langsam sind, dass Parlamente nur mehr als nachvollziehende Organe bereits getroffener Exekutiventscheidungen betrachtet werden. Wer denkt, man könne ein Mehr an Europa, die Überzeugungsarbeit von Bürgerinnen und Bürgern für mehr und intensivere und stärkere Zusammenarbeit auf transnationaler Ebene, mit einem Weniger an Parlamentarismus gewinnen, gefährdet die Demokratie. Die Parlamente müssen genau das sein, was manche ihnen nicht mehr zugestehen wollen: Sie müssen schwierig sein, sie müssen unbequem sein, sie müssen Zeit haben, sie müssen langsam sein dürfen, sie müssen politische Entscheidungen aus den Hinterzimmern an das Licht der Öffentlichkeit zerren, sie dort beraten, sie verändern und sie manchmal sogar verwerfen. Dafür brauchen sie Zeit. Demokratie braucht Zeit. Und wenn wir uns diese Zeit nicht mehr nehmen, dann verändern wir schleichend unser Gesellschaftsmodell. Dann haben wir tatsächlich die marktkonforme Demokratie ‒ und nicht den demokratischen Instanzen unterworfenen Markt.

Verfahren Regierungschefs dazu systematisch nach dem, was ich das ›blame game‹ nenne (und zwar nach dem Muster: »Alles Gute kommt aus der nationalen Hauptstadt, der Blödsinn kommt aus Brüssel«), dann unterminieren sie in dramatischer Weise die Basis für unsere europäische Zusammenarbeit. Dann wird die Skepsis bei den Menschen immer größer, denn die Leute lernen das und glauben es. Ich bin ja ein regelmäßiger Teilnehmer dieser Europäischen Räte.

Mich werfen sie immer nach dem Vorwort raus, ich weigere mich in zunehmendem Maße zu gehen. Bisher ist es ohne physische Gewalt abgegangen. Aber ich schaue mir die Pressekonferenzen an. Und ich muss sagen, mir steigt die Zornesröte ins Gesicht. Denn es ist in 23 Amtssprachen immer das Gleiche. Haben sich die Staats- und Regierungschefs auf irgendetwas geeinigt, dann kann man das im sogenannten ›de-briefing‹, also bei der Pressekonferenz danach, auf 28 Kanälen in 23 Sprachen besichtigen. »Ich habe meine Kolleginnen und Kollegen überzeugt, den Vorschlägen der Bundesregierung zu folgen«, heißt das auf Deutsch. Ich könnte es auch auf Französisch sagen: »Pour une fois, ici à Bruxelles, je les ai convaicus de suivre la position de la France.« Herrn Cameron zu imitieren weigere ich mich. Und auch auf Italienisch können sie es hören. Die Botschaft lautet: »Ich habe mich durchgesetzt«. Das sagt sogar der maltesische Ministerpräsident. Im Misserfolgsfalle können Sie davon ausgehen, dass es ‒ in vornehmeren Worten ‒ heißt: »Sie kennen ja diesen verlotterten Laden hier«. Wenn wir glauben, wir könnten mit dieser Strategie – der Erfolg ist national und der Misserfolg europäisch – eine transnationale Demokratie stabilisieren, dann täuschen wir uns. Wir machen genau das Gegenteil, wir destabilisieren die Europäische Union, die wir aber mehr denn je brauchen.

Im Europaparlament haben wir uns deshalb gefragt: Was können wir tun, um diesen Negativtrend umzukehren? Wir können ja nicht den Europäischen Rat abschaffen. Er ist ja da ‒ und er ist auch nötig. Wir müssen mit den Verträgen so leben, wie sie sind, und wir müssen zunächst auch einmal mit den realen Machtverhältnissen umgehen, wie sie sind. Ich glaube, in diesem Kreis verrate ich nichts Neues, wenn ich sage: 28 Regierungschefs, die zusammenkommen und einen gemeinsamen Willen entwickeln, sind eine starke Macht.

Was können wir tun? Wir haben angesetzt ‒ ich selbst habe mich daran stark beteiligt ‒ bei der Idee, dass die höchste Exekutivfunktion in den Gemeinschaftsorganen, der Kommissionspräsident, zunächst als europäischer Spitzenkandidat einen Wahlkampf bestreiten und dann im Parlament gewählt werden sollte. Ich habe viel Verständnis für die Vertreter der sogenannten ›reinen Lehre‹, welche sagten: Was Sie da gemacht haben, das ist nicht hundert Prozent kompatibel mit den Verträgen, die kann man auch anders auslegen, eigentlich müsste man am Vertrag etwas ändern und den Verfassungskonvent einberufen, wir müssen sowieso den Konvent einberufen, wir müssen den Vertrag sowieso ändern, er ist nicht mehr zeitgemäß, er enthält viele Unklarheiten. Ich habe dafür volles Verständnis. Aber diese Überlegungen finden nicht in einem gesellschaftspolitischen Vakuum statt. So sehr ich Verständnis dafür habe, über Vertragsänderungen zu reden, so sehr müssen wir uns auch vor Augen halten, dass Politik die Kunst des Möglichen ist. Und dazu zählen Vertragsänderungen zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Ich glaube, dass wir uns mit den fortgesetzten Institutionen-Debatten denjenigen ausliefern, deren erklärtes Ziel die Zerstörung der Europäischen Union ist. Der am Veto Großbritanniens und der Tschechischen Republik gescheiterte Versuch, die Verträge zu ändern ‒ Stichwort Fiskalpakt ‒, ist ein eklatantes Beispiel dafür und Mahnung zugleich vor dem, was uns bevorsteht, wenn wir wirklich heute versuchen würden, den Vertrag zu verändern. Die institutionellen Debatten, die wir mit großer Begeisterung seit Jahren in Expertenzirkeln führen ‒ ich entschuldige mich, wenn ich das hier sage ‒, sind notwendig, aber sie greifen in der aktuellen Krisensituation, in der wir sind ‒ ich habe gerade eine Reihe von Ursachen, auch für die Entfremdung, aus meiner Sicht genannt ‒, zu kurz. Wir sind beständig dabei, zu schrauben, nachzujustieren, zu reparieren, da wird der Abriss erwogen, der Neubau ‒ seien wir ehrlich: Kein aktuelles Problem wird dadurch gelöst ‒ weder die Jugendarbeitslosigkeit noch die Ukraine-Krise noch die Euro-Krise. Vertragsdebatten sind zunächst einmal Expertendebatten, sie haben möglicherweise sogar etwas Avantgardistisches und sie machen sicher Spaß.

Aber es kann auch ganz schnell bei Bürgerinnen und Bürgern ‒ das ist eine Erfahrung meines Wahlkampfes ‒ ein ganz anderes Bild entstehen: ›Die Hütte brennt und die unterhalten sich über die Anschaffung eines neuen Feuerwehrautos.‹ Und das führt ganz schnell dazu, dass Menschen, die das nicht nachvollziehen können, sich abwenden, weil sie glauben, das sei institutionelle Nabelschau.

Deshalb hatte ich für mich einen anderen Weg gesucht und habe ihn auch beschritten. Der Charme der Spitzenkandidaten-Idee lag für mich darin, dass es ohne einen neuen Vertrag, ohne einen Konvent und ohne langjährige Ratifizierungsverfahren im Rahmen des Bestehenden möglich schien, eine Weiterentwicklung der demokratischen Strukturen vorzunehmen. Ich glaube, wir haben eine neue Verfassungspraxis begründet und neue Standards etabliert, indem sich die Auslegung des Europäischen Parlaments von Artikel 17 Absatz 7 des EU-Vertrages bei seiner ersten Anwendung nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages durchsetzte. Ich glaube, dass wir damit einen Präzedenzfall etabliert haben, der für die folgenden Wahlen, die 2019 und die danach, stilbildend gewesen ist und irreversibel bleibt. Das hoffe ich jedenfalls, aber ich bin mir dessen relativ sicher.

In welchen Punkten uns diese Weiterentwicklung der europäischen parlamentarischen Demokratie gelungen ist, will ich kurz skizzieren. Das Europäische Parlament hat eine neue Verfassungspraxis begründet und neue Standards etabliert. Ich komme nachher noch einmal auf die Auslegung dieses Artikels 17 Absatz 7 zurück.

Das Europäische Parlament ist sehr lange auch von seinen eigenen Mitgliedern als Konsensapparat wahrgenommen worden. Durch die institutionellen Rahmenbedingungen und die vertraglichen Vorgaben sind wir als Parlament vor allem dann stark, wenn wir mit breiten Mehrheiten beschließen. Qualifizierte Mehrheiten in erster und zweiter Lesung machen das Parlament stark gegenüber dem Europäischen Rat. Nur: Das schließt den politischen Streit oft aus, weil es zu permanenten supergroßen Koalitionen im Gesetzgebungsverfahren zwingt. Das wiederum entfremdet die Bürgerinnen und Bürger diesem Parlament. Das Parlament ist Ort auch der kontroversen Debatte, des politischen Streites. Da brauchst du klare Alternativen, da brauchst du Köpfe, die für Konflikte stehen. Das ist meine Spezialaufgabe.

Zum ersten Mal gab es bei den Europawahlen 2014 mit gesamteuropäischen Kandidaten die Chance, auf europaweiten Kongressen im Rahmen von Vorwahlen in den Parteifamilien eine Konfliktstellung zu präsentieren, die über den gesetzgeberischen Zwang zur Kooperation hinausgehend eine grundsätzliche Konfrontation zwischen zwei unterschiedlichen politischen Richtungen sichtbar machte. Die EVP hat ihren Kandidaten in Dublin gekürt, Herrn Juncker, die Sozialdemokraten haben mich in Rom gewählt, die Liberalen ihren Kandidaten Guy Verhofstadt in Brüssel, auch die Linken hatten einen Kandidaten aufgestellt, das ist schon vergessen, ganz interessant, Herrn Tsipras, den Führer der griechischen Syriza-Partei, und die Grünen hatten per Online-Abstimmung mit 1,2-prozentiger Wahlbeteiligung Frau Keller und Herrn Bové nominiert.

Ganz sicher haben wir damit Neuland betreten. Niemand wusste, wo das endet. Wir sind mit dem Anspruch in den Wahlkampf gezogen ‒ und haben es den Leuten gesagt ‒: »Ich will Kommissionspräsident werden. Wenn sie mich wählen, dann werde ich das auch werden.« Wir haben in der Öffentlichkeit unsere Programme vorgestellt, wir sind als Konkurrenten in TV-Debatten gezogen, wir haben strittige Auseinandersetzungen geführt, wir sind von einem Ende des Kontinents zum anderen gereist und haben mit unzähligen Bürgerinnen und Bürgern gesprochen. Ich war an meinem nördlichsten Punkt in Umea, in Nordschweden, der diesjährigen Kulturhauptstadt Europas, und habe da an Haustüren geklopft, ich war in Brest in der Bretagne und habe da mit Fischern über ihre Probleme geredet, auf Schlachthöfen in Frankreich, die Pleite gingen auf Grund der Niedriglohn-Konkurrenz aus Deutschland, ich habe mit Familienunternehmern aus Verona über die Kreditklemme in Italien gesprochen, ich habe mit Betriebsräten in Mainz ebenso diskutiert wie mit Wissenschaftlern an der Universität von Bukarest, mit Startup-Gründern in Lissabon, mit Gewerkschaftern in Warschau und vielen anderen mehr. Ich habe einen europäischen Wahlkampf gemacht. Für mich war das eine tolle und bereichernde Erfahrung. Es hat mir gezeigt, dass es ungeheuer viele Erwartungshaltungen der Menschen gegenüber Europa gibt, aber dass sie mit diesen Erwartungshaltungen ins Leere liefen, weil sie nicht wussten, an wen sie sich wenden konnten. Zu mir haben sie dann gesagt: »Ach so, Sie sind das, Sie wollen da jetzt etwas zu sagen haben. Gut, ich sage Ihnen jetzt mal, was ich von Ihnen erwarte.«

Was wir da gemacht haben, ist noch kein europaweiter Wahlkampf, der diesen Namen verdient, aber es war ein Anfang. In vielen Ländern haben wir deutlich interessiertere, auch auf die Kontroverse einsteigende Medien erlebt, die erst als der Wahlkampf anlief zu realisieren begannen, dass es ihn gibt, und die ihn beim nächsten Mal sicher gleich eingepreist haben werden. Es gab eine deutlich stärkere Berichterstattung über die Europawahlen als zuvor. Bei ungezählten Wahlkampfveranstaltungen haben wir einen enormen Zulauf gehabt. Die vielbeschworene europäische Öffentlichkeit oder die häufig als inexistent betrachtete europäische Öffentlichkeit gibt es, wenn man sie herstellt.

Übrigens ist das zur Zeit wieder erkennbar: TTIP ist in allen europäischen Ländern das Thema und wird in allen europäischen Ländern entlang eines bestimmten Pro-oder Kontra-Schemas diskutiert. Es gibt eine europäische Öffentlichkeit. Wo wird TTIP am Ende entschieden? Wer verhandelt TTIP? Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft verhandelt und entschieden und ratifiziert wird im Europäischen Parlament. Migration ist ein anderes Problem. In allen europäischen Ländern wird über die Zuwanderungsfrage diskutiert und zwar mit den gleichen Parametern rechts-links, liberal-konservativ. Es gibt die europäische Öffentlichkeit. Die Frage von Schengen und der Freizügigkeit ist eine europäische Frage. Die Außengrenzen-Sicherung der Europäischen Union ist im Rahmen des Lissabon-Vertrages als Kompetenz auf die EU übertragen worden und die dazu notwendigen Entscheidungen werden in europäischen Organen getroffen. Es gibt sie, die europäische Politik, es gibt sie, die europäische Demokratie und es gibt die europäische Öffentlichkeit.

Wie bringen wir das zusammen?

Wir haben versucht, ein Stück mehr Europa dadurch zu erreichen, dass wir an die Spitze der Exekutive nach einem Wahlkampf die Person stellen, die aus diesem Wahlkampf als Sieger hervorgeht. In denjenigen Ländern, in denen dieser Europa-Wahlkampf kontroverser Art funktioniert hat, ist die Wahlbeteiligung im Schnitt um fünf Prozent gestiegen.

Sie ist in Europa insgesamt bei 43 Prozent geblieben. Das entsprach der letzten Wahl ‒ was übrigens schon ein Fortschritt ist, weil die Wahlbeteiligung insgesamt bei allen Wahlen abnimmt. In den Ländern, in denen es einen richtigen Europawahlkampf gegeben hat, ist sie im Schnitt um fünf Prozent gestiegen ‒ zum Beispiel in unserem Land, der Bundesrepublik Deutschland. Wir glauben, dass wir mit diesem Spitzenkandidaten-Prozess einen weiteren positiven Effekt erreichen können, nämlich den, einem Prozess entgegen zu wirken, der unser Demokratieverständnis bedroht. Zu unserem traditionellen Verständnis der parlamentarischen Demokratie gehört, dass die nationale Souveränität einen nationalen Verfassungsrahmen besitzt, das Gewaltenteilungsmodell, das die Verhältnisse von Legislative, Exekutive und unabhängiger Rechtsprechung regelt.

Nun machen wir aber Folgendes: Wir entnehmen diesem Rahmen, der auf nationaler Ebene existiert, seit Jahrzehnten einzelne Teile und übertragen damit Souveränitätsrechte auf eine transnationale Politikebene. Zum Beispiel Währungspolitik: Deutschland hat seine Währungssouveränität aufgegeben. Was wir nicht übertragen, ist das Gewaltenteilungsmodell. Wir entziehen der nationalen Ebene wesentliche Elemente, verlagern sie auf eine transnationale Ebene, schaffen aber kein transnationales Gewaltenteilungsmodell, sondern kleben das irgendwie zusammen.

Ich habe dies einmal provokant ein Frankenstein-Europa genannt, vor dem sich die Leute erschrecken, weil die Einzelteile hässlich sind und nicht zusammenpassen. Ich bin ein Befürworter eines Initiativrechts des Europäischen Parlaments. Aber dafür müssten wir jetzt die Verträge ändern und da ich mir hier nicht widersprechen will und wir die Verträge kurzfristig nicht ändern können, wäre es schon einmal gut, wenn wir den Kommissionspräsidenten verpflichten könnten, die Initiativen des Parlaments unmittelbar sich zu eigen zu machen und mit entsprechenden Richtlinien-Entwürfen zu kommen.

Das ist pragmatische Politik. Nur: wie verpflichte ich den Kommissionspräsidenten darauf, so etwas zu tun? Indem ich ihn abhängig mache von einer parlamentarischen Mehrheit, die ihn wählt. Und deshalb komme ich noch einmal auf den Artikel 17 Absatz 7 zurück. Der Rat wählt mit qualifizierter Mehrheit nach Konsultation einen Kandidaten, den er dem Parlament vorschlägt unter Berücksichtigung der Ergebnisse der vorausgegangenen Europawahl. Der Präsident des Europäischen Rates, Hermann van Rompoy, hat das in einem langen Gespräch mit mir so interpretiert: Es ist wie in Belgien, da hört der König die unterschiedlichen Parteienführer an und macht sich ein Bild der Wahl und schlägt dann dem Parlament einen Ministerpräsidenten-Kandidaten vor. Und da habe ich ihm gesagt: Hermann, beim letzten Mal hat das 571 Tage gedauert, das ist zu lang, außerdem bist du nicht der König und wir sind zwar in Belgien, aber die EU ist nicht Belgien. Ich schlage eine andere Interpretation vor. ›Nach Konsultation‹ heißt: Der Rat unterbreitet seinen Vorschlag, nachdem er das Parlament konsultiert hat. Das Parlament also sagt dem Rat, wen es gerne hätte, und dann ist der Rat gut beraten, dem Parlament diesen Kandidaten oder diese Kandidatin vorzuschlagen, weil andernfalls das Parlament ihn oder sie nicht wählen würde.

Mein Interpretationsvorschlag lautete also: ›Wir wählen im Lichte der Europawahlen‹ heißt ›Wir wählen im Lichte der Zusammensetzung des Parlaments‹. Der Ratspräsident fragt: ›Wer ist euer Kandidat?‹, wir sagen es ihm, der Rat beschließt und schlägt ihn vor, wir wählen ihn. ‒ Nein, haben die gesagt, so läuft das nicht. Doch am 15. Juli diesen Jahres ist Jean Claude Juncker mit großer Mehrheit im Europäischen Parlament als der siegreiche Spitzenkandidat gewählt worden. Zum ersten Mal gab es einen für viele Menschen sichtbaren kausalen Zusammenhang zwischen der Stimmabgabe bei der Europawahl und der Wahl des Kommissionspräsidenten. Auch wenn einige das sowohl im Vorfeld wie auch hinterher hartnäckig abgelehnt haben und sagten, es gebe keinen Automatismus ‒ es gibt für nichts im Leben einen Automatismus, aber eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass im Jahre 2019 der gleiche Prozess ablaufen wird.

Im Juni 2014 sagte Ulrich Beck sinngemäß in einem Interview mit der ZEIT: Wenn die Regierungschefs jemand anderen, der gar nicht zur Wahl stand, vorschlügen, dann wäre das ein Attentat auf die Demokratie in Europa. Ich finde, er hatte völlig Recht mit seiner Warnung. Es war übrigens keineswegs gesetzt, dass die Regierungschefs sich daran halten würden. Es war ein echter Machtkampf. Übrigens auch in unserem Lande. Und ganz viele Regierungschefs haben ‒ ich bitte Sie, ich bin ja nicht so diplomatisch, mir zu verzeihen, wenn ich das mal ganz salopp sage ‒, die haben gesagt: Die haben sie nicht mehr alle. Die haben einen an der Klatsche. Die ziehen sich ein Recht an Land, das uns zusteht, wo kommen wir denn da eigentlich hin? Mir hat ein Regierungschef gesagt: »Was du da machst, das ist eine fundamentale Veränderung der institutionellen Achse.« Da habe ich gesagt: »Ja klar, genau das will ich.«

Dass der Kommissionspräsident im Parlament eine Mehrheit fand, nachdem das Parlament sich vor der Wahl, übrigens mit weit über 500 Stimmen, in einer Resolution verpflichtet hatte, genau dies nach der Wahl zu tun, nämlich den, der an der Spitze liegt, auch als seinen Kandidaten oder seine Kandidatin zu benennen, das war nur ein Schritt. Den Sieg erreichten wir eigentlich erst ‒ und das ist für mich der Sieg der parlamentarischen Demokratie in Europa ‒ mit der Abstimmung im Europäischen Rat. Was nämlich vergessen wird, ist: Es gab im Rat der Staats- und Regierungschefs eine Kampfabstimmung. Der Rat hat tatsächlich abgestimmt, das gab es in dieser Form noch nie. Die Abstimmung ging mit 26 zu 2 Stimmen zugunsten des Vorschlags des Parlaments aus. Es waren David Cameron und Viktor Orbán, auch eine interessante Kombination, die gegen diesen Vorschlag stimmten. Aber 26 Regierungschefs erkannten den Vorschlag des Parlaments an.

Ich glaube, meine Damen und Herren, dass wir mit der Spitzenkandidatur zugegebenermaßen die Möglichkeiten des Lissaboner Vertrags in umfassendem Maße ausgeschöpft haben. Wir haben eine neue Verfassungswirklichkeit in Europa herbeigeführt, und das ohne Vertragsänderung. Und wir haben sichtbar gemacht, dass das Europäische Parlament als Ort der europäischen Demokratie ernst genommen werden muss. Europa wird, auch die europäische parlamentarische Demokratie wird, aber sie wird stärker werden müssen, als sie bisher war ‒ aus den Gründen, die ich genannt habe.

Jürgen Habermas, wenn ich ihn noch einmal zitieren darf, hat gesagt, was da gemacht wurde, habe einen »Demokratisierungsschub« ausgelöst. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob dem so ist. Wir haben einen großen Schritt nach vorne getan. Aber ob wir einen Schub ausgelöst haben, wird sich erst in der Praxis dieser neu gewählten Kommission zeigen. Juncker hat sich vor dem Europäischen Parlament so erklärt: Ich bin der Kommissionspräsident dieses Parlaments. Ich bin den Staats- und Regierungschefs als den Vertretern der Mitgliedsstaaten voll verantwortlich, aber ich bin das Resultat eines Willensbildungsprozesses dieses Organs. ‒ Das heißt, auch Juncker als Kommissionspräsident hat sich unser Vorgehen für sich zu eigen gemacht.

Ich glaube nicht, meine Damen und Herren, dass wir in absehbarer Zeit die Vereinigten Staaten von Europa erleben werden. Als ich ein junger Mann war, habe ich davon geträumt, dass es diese Vereinigten Staaten von Europa geben sollte. Wie junge Leute so sind, habe ich mir über die konkrete Ausgestaltung keine präzisen Gedanken gemacht. Selbst als ich noch ein junger Abgeordneter war, habe ich das nicht getan und mir damit manchen Tadel des damaligen Parlamentspräsidenten Klaus Hänsch eingehandelt. Ich habe mir unter den Vereinigten Staaten von Europa so etwas vorgestellt wie eine Art USA auf europäischem Territorium. Nun weiß ich nach 20 Jahren im Europäischen Parlament, dass Sie aus einem Deutschen keinen Texaner und aus einem Franzosen keinen Kalifornier machen. Die nationale Identität ist stark. Sie wirkt stark, die Menschen möchten sie auch haben und sie möchten sie behalten, weil sie glauben, sie biete ihnen Schutz oder Identität oder Wärme – was auch immer.

Die Menschen möchten Franzosen, Deutsche, Italiener, Finnen, Iren oder Polen bleiben. Und das ist nichts Schlechtes. Eine der großen Verirrungen der pro-europäischen Bewegung in den letzten Jahren war es zu glauben, wenn Menschen eine nationale Identität bewahren wollten, seien sie schon gegen Europa. Das ist falsch. Wir müssen es umgekehrt sehen. Die kulturelle, die sprachliche, die historisch bedingte Vielfalt unseres Kontinents ist unser Reichtum. Kein Kontinent hat vielleicht mehr zu bieten, in dieser Vielfalt kultureller Entwicklungen über Jahrtausende, als unser Kontinent. Und das drückt sich in diesen nationalen Strukturen aus.

Aber wir müssen die Menschen dafür gewinnen, dass das Bild, das beim Asiengipfel vor etwa zehn Tagen über alle Bildschirme dieser Welt lief, für uns etwas bedeutet. Dass der chinesische Staatschef Xi Jinping Barack Obama über einen mit Rauch rot angestrahlten, als roten Teppich choreographierten Weg führte, war eine Ansage: hier die Vereinigten Staaten ‒ dort China. Wo ist der Platz von Lettland ‒ da war ich gestern ‒ zwischen diesen beiden Polen? Wo ist der Platz Italiens zwischen diesen beiden Polen? Wo ist der Platz Deutschlands zwischen diesen beiden Polen? Zwischen diesen beiden Polen werden wir politisch, ökonomisch und mit unserem demokratischen Gesellschaftsmodell nur überleben in der Gemeinschaft der europäischen Völker und Nationen, die über Grenzen hinweg Organe bilden, die helfen – nicht, um die nationale Identität aufzugeben, sondern um sie dadurch zu bewahren. Dass durch transnationale Souveränität gleiche Augenhöhe erreicht wird mit Weltregionen, die heute schon mächtiger sind als jeder einzelne Mitgliedsstaat, selbst das starke Deutschland, innerhalb der Europäischen Union.

Dieser Weg wird eigentlich von niemandem in Frage gestellt. Wenn wir ihn beschreiten, dann müssen wir ihn aber auch beschreiten unter Bewahrung einer der größten zivilisatorischen Errungenschaften, die dieser Kontinent besitzt, nämlich des Gewaltenteilungsmodells und der parlamentarischen Demokratie als der Grundlage der Verfassungsordnung. Das ist der Grund, warum ich so sehr dafür werbe, dass wir nicht zur Unzeit über den Bundesstaat diskutieren, aber darüber, wie wir den Staatenverbund als Instrument zur Wahrung unseres Sozial- unseres Gesellschafts- unseres Demokratiemodells so ausgestalten können, dass er parlamentarisch organisiert ist.

Vielen Dank.

Eröffnungsvortrag des Symposiums ›Parlamentarisierung und Entparlamentarisierung von Verfassungssystemen‹ des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften der Fernuniversität in Hagen am 5.12.2014. Es gilt das gesprochene Wort.

Videoaufzeichnung des DTIEV

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