Untragbar/Unübertragbar
Gedanken über das gedankenlose Manifest des rechtsradikalen Massenmörders Breivik

Am 22. Juli 2014 jährt sich zum dritten Mal der Massenmord, den Anders Breivik in Oslo und auf der Insel Utøya beging. Zu dieser monströsen Tat und zum wirren Manifest des Massenmörders möchte ich einige Überlegungen vorstellen.

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Ein befreundeter Strafrechtler erzählte mir, dass sich ein hauptberuflicher Dieb, der sich sonst nicht durch hohe Emotionalität auszeichnete, sichtlich und sittlich empört mit einer Bitte an ihn wandte. Was denn los sei? Er, der Profidieb, sei nachts seiner harten Arbeit nachgegangen, die auch nicht leichter werde, er sei nicht mehr der Jüngste, überall neue und schwer zu knackende Sicherheitssysteme, das Leben werde immer härter, man habe es nicht leicht. Aber seine kompetente Arbeit habe doch endlich wieder mal was eingebracht. Und als er am frühen Morgen nach Hause gekommen sein, habe er entsetzt feststellen müssen, dass da so ein Schwein seine Wohnung ausgeräumt habe – während seiner durch harte Auswärtsarbeit bedingten Abwesenheit. Ob der Anwalt mit seinen guten Kontakten nicht helfen könne, den Kerl zu stellen und dingfest zu machen, so ginge das ja wohl nicht. Für den naheliegenden Einwand, dem Berufskriminellen sei doch nur das passiert, was er systematisch anderen antue, hatte dieser nicht den Ansatz von Verständnis.

Der Fall ist von komischen Elementen nicht frei. Es gab keine Toten, nur einen sich selbst bemitleidenden Kriminellen, der sich um die Früchte seiner harten Arbeit gebracht sah. Dem entsetzlichen Fall des rechtsradikalen Massenmörders Breivik kommt man mit Kategorien wie ›grotesk‹ nicht bei. Dennoch hat er – ins trostlos Unerträgliche gesteigert – strukturelle Ähnlichkeit mit dem geschilderten Fall. Und dies nicht nur wegen des völligen Mangels an Empathie für die Opfer. Sondern wegen der gespenstischen Nähe zu denen, die er in einer entsetzlichen Mischung von heißem Hass und Kaltblütigkeit mit allen Mitteln bekämpft. Breivik wollte mit den islamistischen Terroristen gleichziehen, ja sie überbieten. Er hat die paranoisch herbei projezierten Lebensumstände geschaffen, die er bekämpfen wollte: eine Lebenssphäre, in der ein gottnaher, die reine und rechte Kulturtradition inkarnierender, das Authentische erkannt habender, in einem Manifest seinen universellen Durchblick dokumentierender Mann (mit für Rechtsradikale und militant Fromme typischen misogynen Zügen) über Leben und Tod von Mitmenschen, Verrätern, Ungläubigen, Toleranten entscheiden kann.

Es verschlägt einem den Atem und es wäre, wenn die Kontexte nicht so monströs wären, ein Anlass für homerisches Gelächter, wenn man auf Seite 1394 von Breiviks Manifest die Sätze liest: »Oslo used to be a peaceful city. Thanks to the Norwegian cultural Marxist / multiculturalist regime they have transformed my beloved city into a broken city, a bunkered society, a multiculturalist shit hole where no one is safe anymore, to use blunt language.« Der rechtsradikale Massenmörder ist selbst der Typus, vor dem er seine Mitmenschen in apokalyptischen Tönen gewarnt hat. Er und nicht eine islamistische Terrorbande hat aus der friedlichen Stadt Oslo und der noch friedlicheren Insel Utøya einen Ort des Grauens gemacht. Breivik erfüllt mit diesen Sätzen ein rechtsradikales Dispositiv: Rechtsradikale kompensieren mit ihrer gewalt- und terrorbereiten Kaltblütigkeit immer auch ihre Lächerlichkeit, die ihnen selten, ganz selten selbst aufblitzen dürfte. Es wäre zu schön, wenn man Rechtsradikale so weglachen könnte, wie Chaplins Film Der große Diktator es nahelegt. Wie lächerlich sind ein dunkelhaariger und dunkeläugiger österreichischer Gefreiter, ein adipöser Drogenabhängiger und ein klumpfüßiger Gnom, die von der blonden und blauäugigen deutschen Herrenrasse, flinken Windhunden und hartem Kruppstahl delirieren – und wie trostlos bereit sind sie, ihre Lächerlichkeit durch Massenmord auszublenden.

Anders Behring Breivik (geb. 1979, also zum Zeitpunkt seines Massenmordes 32 Jahre alt) war Kind eines Diplomaten und einer Krankenschwester und wurde in einer der reichsten, friedlichsten, freundlichsten und großzügigsten Ecken der Welt groß. Am 22. Juli 2011 beging er eine monströse, zweiteilige (bzw. siebzigteilige) Tat. Die erste Tathälfte entspricht dem üblichen Muster terroristischer Anschläge auf Regierungseinrichtungen, wie unter vielen anderen mehr die RAF, die IRA, baskische Separatisten, der Unabomber, Timothy McVeigh in Oklahoma-City oder die Islamisten von 9/11 sie zu begehen pflegen. Er zündete im Regierungsviertel von Oslo eine überdimensionale Autobombe; allein Problemen mit dem timing ist es zu verdanken, dass die Explosion und die gewaltigen Gebäudeschäden »nur« acht Tote hinterließen. Die zweite Tat weicht vom terroristischen Standardschema ab, das beliebige und jeweils möglichst viele »Bullenschweine« (RAF), Kreuzzügler, Imperialistenknechte, Zionisten oder Ungläubige in den Tod reißen soll. Breivik ermordete, sich anfangs in schwer zu überbietender Niedertracht als hilfsbereiter Polizist ausgebend, auf der Oslo vorgelagerten idyllischen Insel Utøya in 69 Einzeltaten je einen Jugendlichen, der der sozialdemokratischen Nachwuchsorganisation Norwegens angehörte. 69mal nacheinander hat Breivik Aug in Aug mit seinem wehrlosen Opfer ein junges Leben ausgelöscht.

Das ist neu, es übersteigt terroristische Üblichkeiten. Ungewöhnlich ist auch, dass der Massenmörder, der zugleich ein 69-facher Einzelmörder ist, seinem Leben nicht selbst ein Ende setzte, um sich dadurch einen Märtyrerstatus zu verschaffen. Neu ist überdies der Umfang des Manifests, dem er durch seine Untaten Aufmerksamkeit verschaffen wollte – das übertrifft allein durch die Buchstabenmenge alles, was die RAF, Atta in seinem Testament oder der Unabomber Theodor Kaczynski von sich gaben. Mithalten kann da nur Hitlers Mein Kampf. Wer in Breiviks 1518 Seiten starken Manifest 2083: A European Declaration of Independence zu blättern beginnt, wird bald feststellen, dass der in weiten Teilen mit copy&paste-Technik zusammengewürfelte Text intellektuell nicht ansatzweise satisfaktionsfähig ist. Wer in der Hoffnung auf Durchblicke, die eine solche grauenhafte Tat künftig blockieren können, dennoch die Lektüre auf sich nimmt, wird unter vielen anderen Aspekten mehr drei Probleme bedenken müssen.

1. Herostrat in der Mediengesellschaft

Aufmerksamkeit ist ein knappes und daher wertvolles und umkämpftes Gut. Das gilt besonders in der Welt-, Medien- und Informationsgesellschaft. Terroranschläge (und in unendlich kleinerer Dimension wohlfeile Skandalproduktionen um ihrer selbst willen) sind das Aufmerksamkeitserregungsmittel der intellektuell und ästhetisch Armen, die nichts Neues, Anregendes, Produktives, Originelles zu sagen haben. Aufmerksamkeit hätten die Ideen – sit venia verbo – von Breivik nie und nimmer gefunden, wenn sie ohne die Mordtaten vom 22. Juli 2011 im Internet oder selbstfinanziert in Buchform erschienen wären. Man billigt einer schlechthin diskussionsunwürdigen Figur wie Breivik zuviel Ehre = Aufmerksamkeit zu, wenn man sich mit ihm beschäftigt – wie dieser Beitrag es tut. Und man kritisiert diese Figur über ihrem unsäglichen Niveau, wenn man die Einzigartigkeit und Unvergleichlichkeit ihrer Tat herausstellt. Dennoch kann man diese unwerte Aufmerksamkeit schlechthin nicht vermeiden. Breivik ist als Typus eben nicht unvergleichlich, er ist vielmehr eine langweilige, weil kulturhistorisch bis zum Überdruss eingeführte Figur. Steht er doch in der jahrtausendealten Tradition des Herostratentums. Herostrat hatte in einem intellektuell wie ästhetisch ungemein produktiven Umfeld nicht viel zu bieten, litt darunter narzißtisch gekränkt und zündete deshalb im Jahr 356 v. Chr. eines der sieben klassischen Weltwunder, den Artemistempel von Ephesus, an – nur um der Berühmtheit seines Namens willen. Die Stadt reagierte darauf klug und doch erfolglos. Sie beschloss eine damnatio memoriae; niemand durfte, so das Verdikt, den Namen Herostrat nennen. Doch schon die klassische Antike musste fast zweitausend Jahre vor der Erfindung des Buchdrucks und fast 2500 Jahre vor der Erfindung des Internets die bestürzende Erfahrung machen, dass Programme nach dem Schema »dieser Name muss unbedingt vergessen werden« schlechthin paradox sind und sein müssen. Historiker wie Teopompos von Chios und weitere antike Autoren haben den Wunsch Herostrats erfüllt und seinen Namen mit Abscheu genannt – aber eben genannt.

Die Vorstellung, die Mediengesellschaft hätte mit einer Dreizeilenmeldung den rechtsradikalen Terroranschlag mit 77 Toten gemeldet und keinen Täternamen genannt, verbietet sich. Hätten sich alle Medien weltweit am damnatio-memoriae-Schema orientiert, so böten sie den Boden für eine blühende Massenparanoia – was soll da verschwiegen werden? Man kann gegen Herostraten nichts machen – das ist die einzige, nicht sonderlich originelle Einsicht, über die sie verfügen. Aber man kann ihnen, die hassen, Verachtung signalisieren, Verachtung dafür, dass sie Aufmerksamkeit nur um den Preis monströser Taten gewinnen können und ansonsten nichts, aber auch gar nichts zu bieten haben – außer eben ihrer ultimativen Destruktion.

2. Die üblichen Verdächtigen

Breivik hat offenbar gespürt, dass er nichts, aber auch gar nichts Relevantes und Bedenkenswertes zu sagen hatte. Und eben deshalb hat er logorrhötisch alles sagen wollen. Man kann die knapp bemessene Lebens- und also Lesezeit besser verbringen als mit der Lektüre von Breiviks Manifest. Zu den Charakteristika dieses trostlosen Textes gehört es, dass sein deutlich rechtsradikaler und paranoisch islamfeindlicher basso continuo von unendlich vielen Rauschsignalen begleitet wird. So als würde sein Autor selbst spüren, wie dumm der zusammenkopierte Grundtext ist, schmückt er ihn mit Lesefrüchten aus Sphären, die ihm offenbar nicht eigentlich zugänglich sind. Ein besonders krasses Beispiel dafür ist, dass er Kant und Kafka als prägende Lieblingsautoren anführt. Im Interview, das er mit sich selbst führte, nannte Breivik, liberalen Formaten und Medienüblichkeiten entsprechend, seine Lieblingsdinge, -künstler, -städte, etc. Das klingt dann so:

Q(uestion): Name your favourite; a. music, b. destination, c. possession or item with high affection value, d. clothing brand, e. au de toilette, f. ball sport, g. football team, h.comedian, i. food, j. movie, k. type of architecture and interior design direction, l. beer, m. drink, n. books
A(nswer): a. (…)
I also appreciate classical music.
Opera: Wagner, Verdi, Mozart
(…)
c. My Ipod + my Breitling Crosswind, chronograph.
(…)
d. LaCoste
e. Chanel Platinum Egoiste
f. Football or beach volley
g. Oslo’s Lyn and Bygdoy Ballklubb
h. Pat Condell
i. No favourite. All cultures have excellent dishes.
j. 300, Sci-fi, zombie, Lord of the Ring, Star Wars, Passion of the Christ
k. Futuristic classical minimalism or pure baroque depending on the designated
room/structure
l. Budweiser (the real Czech Bud, not the American piss water:P)
m. Red Bull + Absolute
n. George Orwell - Nineteen Eighty-Four, Thomas Hobbes Leviathan, John Stuart Mill - On Liberty, John Locke - Essay Concerning Human Understanding, Adam Smith - The Wealth of Nations, Edmund Burke - Reflections on the Revolution in France, Ayn Rand – Atlas Shrugged, The Fountainhead, William James Pragmatism, Carl von Clausewitz - On War, Fjordman – Defeating Eurabia
Other important books I’ve read (in random order):
The Bible, Avesta, Quran, Hadith, Plato - The Republic, Niccolo Machiavelli - The Prince, William Shakespeare - First Folio, Immanuel Kant - Critique of Pure Reason, Homer - Iliad and Odyssey, Dante Alighieri - The Divine Comedy, Karl Marx & Friedrich Engels - Communist Manifesto, Charles Darwin - The Origin of Species, Leo Tolstoy - War and Peace, Franz Kafka - The Trial, Arnold Joseph Toynbee - A Study of History. (1407)

Es gehört zu den abgründigen Paradoxien von Breiviks Manifest, dass er, der den Multikulturalismus hasst, selbst auf geradezu karikaturhafte Weise eine Multiidentitätsperson ist. Er mag alle Küchen der Welt (»All cultures have excellent dishes«), kann aber auch starke kulinarische Akzente setzen: das originale tschechische Budweiser-Bier ist klasse, das US-Imitat schmeckt wie Pisse. Spätkapitalistischer Markenfetischismus ist ihm, dem Kritiker westlicher Dekadenz, vertraut; er liebt und braucht sein iPod und seine Breitling-Uhr, sein LaCoste-Textil und sein Chanel-Egoist-Parfum. Solche Passagen klingen, als wolle sich jemand über einen Protagonisten eines Botho-Strauss-Stückes lustig machen. Ironie ist aber definitiv nicht die intellektuelle Sphäre eines rechtsradikalen Massenmörders. Ihm ist es ernst, gerade auch im Hinblick auf Aspekte, die einfach nur lächerlich und lachhaft sind. Die stilisierten Porträtfotos, die sein Manifest beschließen und die ihn als Tempelritter, Geheimlogenmitglied, Kampfmaschine und Schädlingsbekämpfer zeigen, wirken wie Casting-Fotos für einen Monty-Python-Film.

Wie man auf dergleichen reagieren soll? Soll man Hitlers Mein Kampf oder Breiviks Manifest ernst nehmen? Einige tun genau dies. Sie weisen z.B. darauf hin, dass Breivik ein entspanntes Verhältnis zum Internet-Surfen und zum sozialen Netzwerk Facebook hat und schließen daraus messerscharf, welche Gefahren und Verführungskräfte die neuen Medien mit sich bringen. Mit gleichem Un/Recht könnte man auf Hitlers Mein Kampf hinweisen, um vor Büchern zu warnen. Die schlichte Einsicht, dass sowohl Gutenbergs Medientechnik als auch die Postgutenberg-Galaxis Chancen und Risiken bergen und es darauf ankommt, was man mit ihnen anstellt, geht dann schnell verloren. Wer (und das sind nicht wenige) nun unter Verweis auf Breiviks Manifest seine jeweiligen ästhetischen, theoretischen, institutionellen oder kulturellen Antipathien bestätigt sieht, findet reiches Material. Wer Wagners Musik verachtet, kann darauf hinweisen, dass Breivik Wagner schätzt – aber eben auch Mozart. Wer Edmund Burkes Kritik der französischen Revolution für so gut wie alle rechtsradikalen Untaten des 19. und 20. Jahrhunderts (mit-)verantwortlich macht, kann darauf verweisen, dass Breivik Burke gelesen hat – aber eben auch erzliberale Theoretiker wie Mill und James. Wer Kafka als nihilistischen Autor verdammt, kann auf den Kafka-Leser Breivik hinweisen, wird dann aber zur Kenntnis nehmen müssen, dass Dante bei ihm in derselben Rubrik lesenswerter Bücher auftaucht.

»Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen!« Das Wort des Polizeipräsidenten Renault im Kultfilm Casablanca ist zum geflügelten Wort geworden (NB: warum nur tragen soviele Menschen in diesem Film Auto- oder Reifenmarken-Namen: Renault, Ferrari, Pirelli?). Zu den gar nicht lachhaften, sondern trostlos stimmenden Effekten des bizarren Manifests, das der rechtsradikale Massenmörder Breivik ins Internet gestellt hat, gehört es, dass sich nun viele auf die Suche nach den üblichen Verdächtigen machen, die Mitschuld und Mitverantwortung an der monströsen Tat haben sollen. Und fast jeder, der diesen oder jenen Autor schon immer verabscheute, wird findig – d.h. findet die, die er immer schon nicht mochte. Denn Breivik hat sich an prominenter Stelle auf den erzliberalen Philosophen John St. Mill, aber auch auf Kafka, Henryk M. Broder, das Christentum und viele andere Quellen mehr berufen. Wer aus welchen Gründen auch immer Mill oder Kafka oder die christliche Religion oder Israel nicht schätzt, kann nun darauf verweisen, dass ein Massenmörder diese Autoren und jene Konfessionen hofierte – und deren Werke und Gedanken deshalb verdammungswürdig seien. Man muss sich allerdings argumentativ sehr schwach fühlen, wenn man sich ex negativo auf Breivik bezieht, um Theorien, Kompositionen oder Belletristik von xyz abzuwerten.

Einer ähnlichen Logik bzw. einem ähnlichen Irrsinn ist verpflichtet, wer bedeutungsschwer auf den Vegetarier und Schäferhundliebhaber Hitler verweist, weil er was gegen Vegetarier oder Schäferhunde hat. Nun gibt es aber keine verbindlichen Algorithmen, die ausweisen, dass Vegetarier Nazis werden oder zumindest signifikant häufiger als der Rest der Bevölkerung rechtsradikalem Gedankengut anhängen müssen. Gerechtfertigt ist allenfalls der Umkehrschluss: es ist offensichtlich nicht auszuschließen, dass auch Vegetarier und Tierfreunde Nazis werden und industrielle Massenmorde organisieren. Preußische Gymnasien, deutsche Universitätskultur, die evangelische wie die katholische Kirche haben den Erfolg der Nazis nicht verhindert – das ist eine schwer zu bestreitende Aussage; die genannten Größen sind für die monströsen Taten der Nazis hauptveranwortlich – das ist eine heikle, schwer zu haltende Aussage. An ihr fällt sofort auf, dass sich fast jeder gerne auf die eine, ihm besonders verdächtige Größe konzentriert, die er eh nicht mag. Wer auch nur ein wenig näher hinschaut, dem fällt auf, dass es katholische und evangelische Nazis, aber eben auch katholische, evangelische und atheistische Widerstandskämpfer gab.

Ein abgründiges Gedankenexperiment: was wäre, wenn der Massenmörder von Oslo seine Tat begangen hätte, um (wie etwa der berüchtigte Una-Bomber) gegen den Klimawandel, brutale Kriege, Atomkraftwerke und die Unsensibilität der ersten Welt für die übrige Welt zu protestieren, wenn er in einem Manifest erklärt hätte, er wolle mit seiner Tat aufrütteln und darauf hinweisen, wohin Religions- und Rassenhass führen würde. Wäre seine Tat dann weniger entsetzlich und verabscheuungswürdig? Kritikbedürftig ist das beliebte Spiel »Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen«, weil es den Blick auf wirkliche Zusammenhänge zwischen Gedankengut und widerwärtiger Tat verstellt. Breivik ist eben kein Sozialdemokrat und auch kein Liberaler in der Tradition von Mill, sondern ein Rechtsradikaler. Und der ist sich mit denen, die er hasst, etwa den Terroristen von 9/11, in einem entscheidenden Punkt (und vielen weiteren!) einig: dass man Hunderte, Tausende Menschen, darunter Kinder, Frauen, Zufallspassanten massakrieren darf, soll, ja muss. Dagegen hilft kein Hass, auch keine Suche nach Verdächtigen im Milieu derer, mit denen man immer schon eine Rechnung offen hatte, wohl aber Aufmerksamkeit. Zum Beispiel für den Vorschlag, diejenigen zu verhaften, die immer die üblichen Verdächtigen verhaften wollen.

3. Hass auf das sozialdemokratische Projekt

Es ist ein ebenso sinn- wie aussichtsloses Unterfangen, Breiviks Manifest für die Stärkung der jeweils eigenen Position im Kampf um Diskurshoheit ausschlachten zu wollen. Auch wer (wie der Autor dieser Zeilen) über viele, aber eben nicht alle Publikationen von Henryk M. Broder den Kopf schüttelt (und sich wundert, wie selbstgewiss ein Publizist auftritt, der so häufig sachlich eklatant danebenlag – etwa bei seiner Einschätzung des Irakkrieges), macht einen kapitalen Fehlschluss, wenn er nun argumentiert, der sich selbst als Kreuzritter stilisierende Breivik entstelle den heißen Kern westlicher Einstellungen gegenüber dem Islam zur Kenntlichkeit oder zeige, worauf Kritik am terroristischen Islamismus eigentlich herauslaufe. Auch hier ist intellektuelle Redlichkeit dringend geboten. Wer in den 30er und 40er Jahren einem Deutschen begegnete, hatte das Recht zu fragen und zu erfahren, ob dieser Nazi sei oder mit Nazis sympathisiere – nicht aber das Recht zu unterstellen, alle Deutschen seien per se faschistische Massenmörder. Wer militanten Muslimen begegnet, macht sich auch nach Breiviks Massenmord nicht unmöglich, wenn er sie nach ihrer Einstellung zu den Terroranschlägen von 9/11 und vielen weiteren Massenmorden fragt. Unmöglich macht er sich, wenn er unterstellt, alle Muslime hätten per se eine Neigung zum Töten von Andersgläubigen.

Machen wir noch einen Test auf die Versuchung, Breiviks Manifest für die Aufrüstung der eigenen Diskurse zu nutzen. Nach guten Gründen zur Kritik an der katholischen Kirche muss man nach all den Missbrauchsfällen, Ernennungen peinlicher Bischöfe und Skandale um die Pius-Brüderschaft nicht lange suchen. Dass der norwegische Protestant Breivik aber die katholische Kirche bewundert, ist nun kein Argument gegen diese – so wenig seine Lust an Mozarts Musik gegen Mozart oder seine antiislamistische und deshalb proisraelische Option gegen Israel spricht. Die liberale Versuchung etwa, die folgende Passage aus Breiviks Manifest gegen rechtskonservative Katholiken zu wenden, mag groß sein, wäre aber eher ein Zeichen der argumentativen Schwäche:

The Role of Tradition
A few important factors is the apostolic succession and to the antiquity of the Roman Catholic Church. However, Scripture was never intended to be the believer's sole guide for all of faith and practice; for all that he believes and does. Scripture and Tradition belong together as well.
Scriptures lack of relation to Church
Christ left a church, not a book, and that the Protestant doctrine of Sola Scriptura (by scripture alone) is illogical because the formation of the canon (i.e. what we recognise as Scripture) was itself a monumental act of the church. Thus, the Bible requires an infallible church.
Lack of guide to scripture
The church is a necessary guide to the meaning of Scripture. If the Constitution, as a relatively simple human text, needs the Supreme Court as its interpretive guide, then all the more does Scripture need the Catholic Church as its interpretive guide. (1132)
Lack of interpretational authority
The Protestant doctrine of Sola Scriptura leads to an "incipient subjectivism" since without Tradition, each man becomes his own authority and interpreter of Scripture. This has resulted in competing interpretations in the Protestant marketplace resulting in various directions of Protestantism.
Authority and Authoritativeness
Authority, in all of our daily experiences, means a person or institution empowered to enforce a rule. Sola scriptura is in a sense a philosophical sleight of hand. A book by its nature can only be authoritative, not an authority. Ironically, it was the first pope, the apostle Peter, who pointed out the rather obvious fact that Scripture is not necessarily self-explanatory; it can be twisted by the unscrupulous to support any theological position (2 Peter 3:16).
Protestantism leads to the disintegration of the Church
A liberal Protestant church with little or no authority results in chaos and therefore indirectly contributes to spawn a multitude of sects/denominations. There are now more than 25 000 Protestant sects and the number is growing![1]
Liturgical Longings
High church liturgy (much more dignified rituals known to Protestants as »service/communion«), is a common feature of Roman Catholic and Eastern Orthodox churches. The Reformed and Evangelical Protestant churches are missing out on an essential part, the fullness and richness of high church liturgy. The traditional Christian components such as the Mass and the Eucharist are essential.
To quote a Catholic:
»The splendour of Roman Catholic liturgy or the »vision« of the Roman Catholic Church is immense. It is full of glory and dignity. It is un-supportedly bright. But not only this: it is present in the Mass. ... But it is only in the liturgy ... that the whole drama is unfurled and the scrim of temporality is pierced, and we begin to see both the abyss and the Sapphire Throne. It is very hard to keep this vision alive in non-liturgical worship.« (1132 f.)

So etwa sagt es Martin Mosebach auch, nur mit ein wenig anderen, eleganteren Worten. Aber nein, noch einmal: Bewunderer der klassischen Messeliturgie sind nicht deshalb diskrediert, weil auch Breivik sich eine Rekatholisierung Europas wünscht (aus anderen Gründen sind sie durchaus kritikbedürftig). Haltbar ist allein die umgekehrte Feststellung: die Hochschätzung der alten Liturgie und die Orientierung an rechtskatholischen Mustern schließt (wie die Option für vegetarisches Essen) nicht aus, dass einer Massenmörder wird.

Kurzum: es kommt darauf an, aus all dem wirren Rauschen von Breiviks Manifest die Botschaft herauszudestillieren. Und die ist von faschistischer Klarheit. Breivik hat nicht die Zentrale einer linksradikalen Partei oder die Moschee eines Hasspredigers (wenn es die in Oslo geben sollte) in Schutt und Asche gelegt; er hat die Gebäude einer demokratisch gewählten Regierung zerbombt. Und er hat je einzeln 69 sozialdemokratisch orientierte Jugendliche (und nicht etwa Linksradikale oder militante Islamisten) ermordet. Also genau die Köpfe, die so herrlich ausgeglichen, sachlich, umsichtig und liberal auf die Erregungsdiskurse unserer Zeit reagieren. Leute also, die z.B. islamophobe Affekte und Dispositionen souverän verachten, aber sich deshalb nicht gleich den Blick auf Probleme verstellen lassen, die verstärkte Immigration nun einmal mit sich bringt. Menschen, die schon in jungen Jahren so reif sind, es nicht für eine Schwäche zu halten, entweder-oder-Diskurse zu vermeiden und sowohl-als-auch zu sagen. Köpfe, die sogar bereit sind, eine unsägliche Figur zu beschämen, indem sie auch ihm ein rechtsstaatlich untadeliges Verfahren und einen kompetenten Pflichtverteidiger zubilligen. Nicht auszuschließen, ja plausibel zu hoffen ist, dass Breiviks monströse Taten im Verbund mit seinem lachhaften Manifest und seiner lächerlichen Kostümpolitik dem Projekt einer sozial-demokratischen Politik dies- und jenseits aller Militanz neue Attraktivität verleihen.