Jugendradikalisierung:
die Protestbewegung der späten sechziger Jahre

Vielleicht könnte man sagen: Willy Brandt ist Ende 1966 gerade noch rechtzeitig aus Berlin weggekommen und Außenminister geworden. Die dramatischen Ereignisse seit dem 2. Juni 1967, die Erschießung Benno Ohnesorgs und der Mordanschlag auf Rudi Dutschke am 11. April 1968, gingen nicht mehr auf sein politisches Konto als verantwortlicher Regierender Bürgermeister. Sonst wäre es schwer vorstellbar, dass sich sein öffentliches Image vom »rechten« Sozialdemokraten so reibungslos zu dem eines Förderers der kritischen Jugend wandeln konnte.

Tendenziell Abgrenzung und Abwehr: So lässt sich Willy Brandts Haltung zur Jugendradikalisierung bis 1966/67 beschreiben. In späteren Jahren öffnete er sich, äußerte sich ambivalent, mit einer optimistischeren Note. Bei den Wirkungen, die er von den Protestbewegungen für die Sozialdemokratie erwartete, fiel die Note allerdings auch in späteren Jahren manchmal weniger optimistisch aus. Das, was er anerkannte, und das, was er unbedingt ablehnte, blieb sich im Wesentlichen gleich. Aber die Akzente verschoben sich zum Teil erheblich übers Jahr 1968. Im Januar 1969, auf einem jugendpolitischen Kongress der SPD, sprach Brandt schon von »einem im ganzen positiven Prozess«. Das »Aufbegehren der Jugend« habe bereits viel bewirkt, »vor allem den Abbau obrigkeitsstaatlichen Denkens«. Neben der »Bereitschaft zur Vorausschau« sei der »Wille zur Reform« in der Gesellschaft stärker geworden. Ich musste oft daran denken, wie Willy Brandt zeitlebens über seine eigene linkssozialistische Vergangenheit sprach und schrieb: Er hat sie nie als »Jugendsünde« oder Unfug abgetan, sondern als ein aus den objektiven und subjektiven Umständen erklärbares Stadium politischer Entwicklung verstanden. Trotz der ganz anderen historischen Konstellation erinnerte ihn das Geschehen der Jahre vor und um 1968 durchaus in merkwürdiger Weise an seine eigene Jugend.

Nun war mein Vater aufgrund seiner eigenen Geschichte offenbar der Meinung – oder vielleicht tendierte er auch unbewusst dazu –, dass ein junger Mensch von fünfzehn oder sechzehn, allemal von achtzehn oder neunzehn Jahren im Wesentlichen seine Orientierung selbst finden solle und, vor allem, seine Erfahrungen selber machen müsse. Seine viel gescholtene und viel gerühmte Toleranz war bis zu einem gewissen Grad ein Verzicht, sich einzumischen und ständig Auseinandersetzungen zu führen. Auch im Privaten und in der Familie.

Seinen ältesten Sohn kannte er gut genug, um zu wissen, dass er mich mit Drohungen und Repression vielleicht oberflächlich disziplinieren könnte, solange ich zur Schule ging – da war ich rational genug. Aber gleich danach wäre er mich los gewesen. Ohne elterliche Geldzuwendungen hätte das Studium dann eben etwas länger gedauert. So war ich bestrebt, die finanzielle Abhängigkeit, die mir unangenehm war, durch einen zügigen Studienabschluss nicht länger als nötig auszudehnen und das Jobben in der vorlesungsfreien Zeit auf gelegentliche Zuverdienste für die eine oder andere Ferienreise zu beschränken. Was mein Vater mir monatlich überwies, war in der Summe nicht fürstlich, aber mehr als ausreichend. Durch das gemeinsame Leben mit meiner Freundin, die deutlich weniger erhielt, ergab sich für uns beide unter dem Strich so etwas wie der normale studentische Lebensstandard.

Mein politisches Engagement war für den Vater aus drei Gründen recht erträglich: Erstens hegte Brandt Junior keinerlei Sympathien für den Sowjetkommunismus und die SED – im Gegenteil. Auch der Marxismus-Leninismus chinesischer Observanz, wie er die meisten »K-Gruppen« beseelte, die 1968/69 entstanden, war nicht mein Ding. Dennoch wurde verbreitet, Peter Brandt oder gar beide Brandt-Söhne würden in Moskau – wahlweise auch mal Peking – studieren. Dieses kuriose Gerücht hielt sich lange. Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts bin ich darauf angesprochen worden, wie es denn zu dieser Zeit in Moskau so gewesen sei. Zweitens gab es auf meiner Seite keine Neigung zu gewalttätigen Aktionen, die kleine Gruppen stellvertretend für die breiten Massen durchführten. Schon die ersten Anzeichen terroristischer Gewalt – im Sinne bewaffneter Anschläge – stießen bei mir auf schärfste Kritik. Drittens wirkte es für meinen Vater paradoxerweise eher entlastend, dass ich seit 1968 in kleinen Zirkeln und Kaderorganisationen tätig war und nicht innerhalb der SPD, der Jusos oder der Falken. Denn dort wäre jegliche Konfrontation viel direkter ausgetragen und schneller öffentlich geworden, so wie bei Peter Kreisky und seinem Vater, dem österreichischen SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky.

Meine Politisierung nach links begann schon als Vierzehnjähriger. Anfang 1963 trat ich den Falken bei. Innerhalb der Berliner Sozialdemokratie, die vollkommen auf die Konfrontation mit dem SED-Staat fixiert war, standen die Falken, die damals noch überwiegend eine Organisation der arbeitenden Jugend waren, auf dem linken Flügel. Innerhalb des Verbandes gab es eine konspirative trotzkistische Gruppierung, die der kleinen Vierten Internationale angeschlossen war. Ich sympathisierte mit ihr und wurde Ende 1966 schließlich »rekrutiert« (so hieß das damals im militärischen Jargon).

Aus den trotzkistisch beeinflussten Kreisverbänden der Falken und einer Schüler-, Lehrlings- und Studentengruppe, die sich um die Zeitschrift »Neuer Roter Turm« bildete, entstand unter meiner Mitwirkung im Herbst 1968 die Organisation »Spartacus« (nicht zu verwechseln mit der DKP-Studentenorganisation »MSB Spartakus«). Sie sah sich als Initiative für eine breitere revolutionär-sozialistische Jugendorganisation. Hinsichtlich Organisations- und Politikvorstellungen war der »Spartacus«, der sich 1970 bundesweit ausdehnte, aber nie mehr als wenige hundert Mitglieder zählte und schon 1971 von der ersten Spaltung heimgesucht wurde, eher links-traditionalistisch als antiautoritär, dabei allerdings Moskau- und Peking-kritisch. Ich selbst schied 1973 wieder aus und verstand mich von da an als unabhängiger Sozialist, gehörte dem Sozialistischen Büro, später einige Jahre der Berliner Alternativen Liste an. Erst 1994 trat ich wieder der SPD bei – frei nach dem Motto Paul Levis, der 1921 aus der KPD ausgeschlossen worden war: Mein Bedarf an Spaltungen ist gedeckt.

Es liegt auf der Hand, dass das Verhältnis zur DDR für junge Linke in West-Berlin von zentraler Bedeutung war. Die DDR war ja nicht irgendein sowjetkommunistisch geführter Staat, sondern ein Regime direkt vor der Haustür, das die eigenen Ideale permanent beleidigte und diskreditierte. »Geht doch rüber«, war eine beliebte Reaktion auf die Kritik an Zuständen oder Vorgängen westlich der Mauer. Mit heftiger öffentlicher Kritik an westlichen Regierungen, so am Algerienkrieg der Franzosen oder an der mörderischen Kriegsführung der Amerikaner in Vietnam, machten sich schon die Falken unter den staatstragenden Parteien WestBerlins wenig Freunde. Für meine Entwicklung hatten der Protest und die Solidarisierung mit dem kommunistisch geführten Unabhängigkeitskampf der Vietnamesen eine kaum zu überschätzende Bedeutung.

Die tiefenpsychologische Dimension meines politischen Engagements, für das die Studentenbewegung eher ein Verstärker war als ein Auslöser, kann ich selbst nicht wirklich ermessen. Wer kann das schon für seine eigene Person? Mir scheint aber, dass Formeln wie »Protest gegen den Vater« meine Haltung nicht treffen. Natürlich hatte ich wie jeder erwachsen werdende Jüngling das Problem, unter dem Gewicht einer Vatergestalt – in diesem Fall einer überragenden, gleichzeitig meist abwesenden oder nicht leicht zugänglichen – eine eigene Identität entwickeln zu müssen. Soweit ich mir dessen bewusst war und bin, gab es neben den ideologischen Differenzen ein persönlich relativ gutes Verhältnis. Ich empfand auch die berufsbedingten Kränkungen und Erfolge des Vaters stark mit. Im Sommer 1968  – ich hatte gerade mein erstes Semester an der Freien Universität Berlin hinter mir – schrieb ich ihm einen Brief. Darin bat ich ihn um Verständnis dafür, dass ich meinen politischen Überzeugungen folgte – ich sprach von »Pflicht« – und sagte, ich hoffte, dass es nie zum persönlichen Bruch kommen müsse und es mir möglich sein werde, in Zukunft zu vermeiden, was ihm direkt schaden könnte.

Eine meiner ersten politischen Einmischungen, die öffentlich wurde, war die Unterschrift unter einen Aufruf, der sich gegen die Bombenangriffe der USA auf Nordvietnam und die militärische Intervention mit Bodentruppen in Südvietnam wandte, im Sommer 1965. Ich unterschrieb bedenkenlos. Ich hatte mich sachkundig gemacht und zudem die Namen der ASTA-Vorsitzenden der Freien Universität, Wolfgang Lefèvre und Peter Damerow, auf der Liste der Unterstützer entdeckt. Beide gehörten zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Es hätte mich schon stutzig machen können, dass die initiierende Organisation »Ständiger Arbeitsausschuss für Frieden, nationale und internationale Verständigung« hieß, das klang nach dem damaligen Jargon der SED. Allerdings wusste ich nicht, dass Lefèvre und Damerow bewusst unterschrieben hatten, um im Zuge des Vietnam-Protests auch den Antikommunismus zurückzudrängen. Ich wiederum hielt es für verkehrt, beides auch nur indirekt zu verbinden: Das taten ansonsten vor allem die Apologeten des amerikanischen Krieges, um den Protest zu diskreditieren.

Meine Unterschrift hatte ich schon fast vergessen, da wurde sie ein paar Wochen vor der Bundestagswahl bekannt und hatte einen zornigen väterlichen Anruf vom Autotelefon aus der Wahlkampfkolonne zur Folge. Mein Vater warf mir in selten eindeutigen Worten vor, ihm in den Rücken gefallen zu sein. Später hatte ich Egon Bahr am Apparat. Er sprach von einem »Sturm im Wasserglas«, bat mich aber, wenn ich mich recht erinnere, die Unterschrift zurückzuziehen. Ich sagte zu, darüber nachzudenken, unterstrich jedoch, dass ich mit dem Inhalt des Aufrufs völlig einverstanden wäre. In einem knappen, aber fein austarierten Brief an den »Arbeitsausschuss« verband ich die Rücknahme der Unterschrift mit der ausdrücklichen Bekräftigung der in dem USkritischen Aufruf genannten Forderungen. Und ich nahm mir vor, nie mehr in eine solch demütigende Situation zu kommen. Lieber verbale Prügel einstecken, als noch einmal eine öffentlich gemachte Äußerung widerrufen zu müssen.

Einige Monate später nahm ich an einer der ersten nicht genehmigten Vietnam-Demonstrationen teil. Öffentlich bekannt wurde meine Teilnahme meiner Erinnerung nach nicht. Mein Vater muss aber auf anderem Wege davon erfahren haben. Eines Abends drohte er zu Hause mit Rücktritt. Wenn ich mit meinen Aktivitäten fortführe, könne er sein Amt nicht mehr ausüben. Ganz ernst war das wohl nicht gemeint, sondern eher seine Art, Unmut zu äußern. Natürlich waren meine abweichenden Positionen für ihn lästig, wenn sie öffentlich ruchbar wurden. Ich war erst siebzehn. Niemals kam mein Vater mehr auf seinen verbalen Ausfall an diesem Abend zu sprechen. Dabei wäre es gar nicht aussichtslos gewesen, mich um Zurückhaltung unter bestimmten Umständen oder für die Zeit meiner schulischen Ausbildung zu bitten; jedenfalls solange es nicht darauf hinausgelaufen wäre, mein politisches Engagement einfach zu unterbinden. Mitstreiter von damals berichten, sie hätten mich stets mit Achtung über meinen Vater sprechen hören. Von außerhalb der Familie hat er sich Ratschläge, wie er mit seinem Sohn umgehen sollte, stets verbeten. Vor allem auf dem Höhepunkt der außerparlamentarischen Protestbewegung im Frühjahr 1968 wurde ihm im Parteivorstand nahegelegt, mich an die Kandare zu nehmen oder außer Landes zu schaffen. Von solchen Anmutungen erfuhr ich damals erfreulicherweise nichts.

Gelegenheiten, Schwierigkeiten zu machen, gab es genug. Horst Mahler, einer der damals führenden APO-Leute, meinte zum Beispiel während der Osterunruhen 1968, ich solle öffentlich den Rücktritt meines Vaters fordern. Ich fragte mich, ob dieser aberwitzige Vorschlag sein Ernst war. Ein anderes Mal traf ich den Reporter der britischen Boulevardzeitung »Sun«, die ich damals mit einer linksgerichteten Zeitung ähnlichen Namens verwechselte, sonst hätte ich den Herrn nie empfangen. Er begleitete mich im Bus auf dem Weg zur Uni, sprach mit mir und dichtete sich am Ende zurecht: Ich hätte den Sturz des Systems und die Beseitigung der ganzen Führungsschicht »einschließlich meines Vaters« propagiert. Das war Quatsch. In der Tat hatte ich diverse radikale Parolen von mir gegeben. Aber den gierig gewünschten familiären Bezug hatte ich bewusst nicht hergestellt. Deshalb lag die hämische Sottise des »Spiegel«, Filius Brandt hätte von den Berufspolitikern gelernt und flugs dementiert, daneben: Ich hatte das »Interview« der »Sun« in der Grundtendenz bestätigt, zugleich aber wahrheitsgemäß darauf beharrt, keine Äußerungen gegen die Person meines Vaters gemacht zu haben.

Das war mir eine lehrreiche Erfahrung. Das Letzte, was ich wollte, war, als Profilneurotiker oder Skandalnudel wahrgenommen zu werden. Von denen gab es in der APO ja auch welche. Nur noch in Ausnahmefällen äußerte ich mich öffentlich. Ich wurde ziemlich vorsichtig und vermied nach Möglichkeit, fotografiert zu werden.

Zunächst musste ich unter den Augen der medialen Öffentlichkeit noch zwei Gerichtstermine hinter mich bringen. Der Vorwurf lautete: Zusammenrottung einer Menge trotz dreimaliger Aufforderung der Polizei, sich zu zerstreuen, in zwei Fällen. Dieses Delikt des »Auflaufs« gibt es heute nicht mehr. Insbesondere ging es um den Ostersamstag 1968, als ich zusammen mit zweihundert weiteren Demonstranten verhaftet, erkennungsdienstlich behandelt und erst nach etwa 30 Stunden wieder freigelassen worden war. Vor Gericht vertrat mich Horst Mahler, der ein brillanter Jurist und als APO-Anwalt schon berühmt-berüchtigt war. Ich wäre auch grundsätzlich bereit gewesen, den Rechtsanwalt zu beauftragen, den mir ein Mitarbeiter des Vaters empfahl. Die Bereitschaft währte aber nur eine halbe Stunde. Der gute Mann schlug mir allen Ernstes vor auszusagen, ich sei jeweils nur zufällig am Ort der Demonstration spazieren gegangen. Diese geniale Anregung zeigte, dass hier nicht die geringste Vorstellung von der Person des Angeklagten existierte. Am Ende bezahlte mein Vater sogar Mahlers vergebliche Bemühungen, was ich so nicht einkalkuliert hatte. Es gab für solche Fälle nämlich einen Rechtshilfefond der APO; der sollte aber, fand ich, so wenig wie möglich in Anspruch genommen werden.

Der Prozess wurde erstinstanzlich vor dem Jugendgericht verhandelt, da ich zu den »Tatzeiten« neunzehn Jahre alt und nach damaligem Recht noch nicht volljährig war. Die Richterin sah »Auflauf« in beiden Fällen als erwiesen an und verhängte zwei Wochen Dauerarrest. Für den Heranwachsenden hielt sie Jugendstrafrecht für angezeigt. Zwar fehle dem Angeklagten nicht die geistige, aber die »sittliche« Reife – angeblich hätte ich eine von mir als Schutzbehauptung vorgebrachte juristische Meinung des Rechtsanwalts Mahler kritiklos übernommen. Ferner unterstellte sie eine Auflehnung gegen den Vater, die im Prozess gar nicht thematisiert worden war.

Das war ausgesprochen diskriminierend. Nicht nur ich und die APO-Leute empfanden das so. Auch mein Vater war sehr verärgert. Ohne dass ich irgendwas zu ihm gesagt hätte, erklärte er: »Wenn eine Richterin die vermutete Protesthaltung eines Sohnes gegen seinen Vater als kindliche Unreife betrachtet, dann frage ich mich, wie wir bei solcher Weltfremdheit zu einem besseren Verständnis der Jugend kommen können.« In der Berufungsverhandlung im Oktober 1968 vor einem ordentlichen Gericht wurde der Schuldspruch bestätigt, diesmal nach Erwachsenenstrafrecht, denn auch die Staatsanwaltschaft hatte Einspruch erhoben, und zwar gegen meine Einstufung als Jugendstraftäter. Die verhängte Geldstrafe fiel 1970 unter eine allgemeine Amnestie für Demonstrationsdelikte.

Bei der Eröffnung des Nürnberger SPD-Parteitags Mitte März 1968 wurden während einer Demonstration führende SPD-Politiker körperlich attackiert. Auch Willy Brandt musste einen Schirmhieb auf den Kopf einstecken. In seiner Empörung erzählte er seiner Ehefrau, »Peters Gesinnungsgenossen« hätten ihn tätlich angegriffen. Nun sei er mit seiner Geduld am Ende. Mutter, die stets zu vermitteln versuchte, rief mich an und schlug vor, ich solle mit Vater sprechen. Nun hat mich die Aussicht, dass es mit seiner »Geduld« zu Ende sei, nicht geschreckt. Was immer das hätte bedeuten können  – meine Mutter hatte mir die Drohung auch wohlweislich verschwiegen. Vielmehr bedrückte mich die Vorstellung, er könnte meinen, ich hätte für die Rempler und Schläger vor der Kongresshalle irgendwelche Sympathien. Leute, die so agierten, waren in meinen Augen Provokateure im Interesse der Reaktion.

Von einem Telefonanruf nahm ich aber Abstand, weil ich befürchtete, ins Stammeln zu kommen. Einen Anlass, von meinen politischen Positionen abzurücken, sah ich nicht. In einem längeren und entsprechend teuren Telegramm distanzierte ich mich aufrichtig scharf von dem Geschehenen und äußerte noch einige Freundlichkeiten. Allerdings unterstrich ich die grundsätzliche Berechtigung, gegen die SPD-Vorstandspolitik zu demonstrieren und zu versuchen, den Parteitag zu beeinflussen, damit das Ganze ja nicht als Anbiederung oder politische Kapitulation erschien. Das bizarre Telegramm fiel auf fruchtbaren Boden. Vater nahm es sogar mit und zeigte es anderen Führungsgenossen, wie ich erfahren konnte.

Möglicherweise war Willy Brandt überrascht, im Jahr 1968 auf seinen Reisen als Außenminister gelegentlich ganz anders auf seinen ältesten Sohn angesprochen zu werden als in den heimischen Gefilden. Sein chilenischer Amtskollege, der der christdemokratischen Partei angehörte, brachte im November 1968 auf einer Lateinamerikareise des deutschen Außenministers bei einem Essen einen Trinkspruch auf »unsere rebellischen Söhne« aus. Und jugoslawische Spitzenpolitiker richteten sogar Grüße ihrer Söhne und Töchter an mich aus.

Bei einem Besuch in Norwegen fragte mein Vater seinen alten Freund Vogel: »Was sagst du zu Peter?«
Vogel: »Er imponiert mir.«
Willy: »Mir auch.«

Das hat J. N. J. Vogel mir erzählt. Mein Vater hatte nicht einmal eine Andeutung in diese Richtung gemacht. Ich kann nur vermuten, was er dachte, nämlich dass das Engagement des Sohnes nicht in Klamauk und jugendlichem Ungestüm stecken blieb, sondern von einem ernsthaften Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse wie auch der sozialistischen Theoretiker begleitet war. Er hielt nichts von dem Diktum des Zynikers Winston Churchill, der gemeint hatte: Wer mit zwanzig kein Sozialist ist, hat kein Herz, wer es mit dreißig immer noch ist, keinen Verstand. Er sah durchaus die Möglichkeit, dass der Radikalismus junger Jahre sich verfestigen und im Lauf des Lebens zu einer fundierten Position weiterentwickeln kann. Andererseits wird er gehofft haben, zu Recht, dass ich mein universitäres Studium und meine wissenschaftlichen Ambitionen ernst nähme und damit ein Gegengewicht zum politischen Aktivismus entstünde.

Was meinen Vater von vielen anderen, auch manchen Linken, unterschied, war der Respekt gegenüber Standpunkten, die er für falsch hielt, selbst dann, wenn sie ins Grundsätzliche gingen. Ich erinnere mich, dass er mir Anfang der sechziger Jahre einmal den Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD gegenüber dem SDS erklärte. Dort seien, meinte er, ganz überwiegend zwar keine Anhänger des Sowjetkommunismus, aber doch großenteils Leute versammelt, die ein System wie den jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus befürworteten. Das sei zwar eine ehrenwerte Position, nur habe sie keinen Platz in der SPD. Gelegentlich zweifelte er auch daran, ob die führenden Falken-Funktionäre um Harry Ristock in der richtigen Partei wären, was er später revidierte.

In der Vor- und Frühphase der Jugendradikalisierung war Willy Brandt Regierender Bürgermeister in West-Berlin. Die Sicherung der Halbstadt gegen äußere Bedrohungen hatte absolute Priorität. Diese Perspektive speiste seine Loyalität gegenüber den westlichen Besatzungs- und Schutzmächten. Die SED sah in ihm zeitweise sogar den Vertreter eines proamerikanischen Flügels in der Sozialdemokratie.

Es liegt auf der Hand, dass er den aufkommenden studentischen Protest vorwiegend aus dem Blickwinkel der Ämter des Regierenden Bürgermeisters und des Vorsitzenden der erneuerten Sozialdemokratie sah. Deren Erscheinungsbild sollte nicht leiden. Zudem konnte die deutschlandpolitische Auflockerung, wie er sie mit der DDR anstrebte, seines Erachtens ständige Proteste und Demonstrationen in West-Berlin nicht gebrauchen. Als im Dezember 1964 der kongolesische Politiker Moïse Tschombé WestBerlin besuchte, war ihm das gewiss nicht angenehm. Dennoch hatte er Repräsentationspflichten gegenüber »seiner« Stadt, und die wollte er wahrnehmen. Als beim Tschombé-Besuch dann erstmals einige hundert Demonstranten Polizeiketten durchbrachen und Tomaten warfen, fühlte er sich in seiner Amtsführung beeinträchtigt. Die Frage nach der sachlichen Berechtigung der Demonstration stellte er dahinter zurück.

Weitaus gravierender war die Auseinandersetzung über den Vietnamkrieg, der als Bürgerkrieg schon einige Zeit in Gang war. Mit regelmäßigen Bombardements im Norden dieses Landes und mit der Verstärkung der amerikanischen Interventionstruppen im Süden im Frühjahr 1965 kam eine schreckliche Eskalation. Während der SDS ein »Vietnam-Semester« vorbereitete, stellten sich die Bundesregierung und weite Teile der Öffentlichkeit demonstrativ hinter die USA. Selbst die Entsendung von Bundeswehrtruppen schien nicht ganz ausgeschlossen. In West-Berlin führten Weihnachten 1965 sämtliche Tageszeitungen eine Geldsammlung zum Wohle der Familien gefallener US-Soldaten durch, um ihnen Nachbildungen der Freiheitsglocke übersenden zu können. Was für ein kurioses Treuebekenntnis! Als dann am 5. Februar 1966 plötzlich 2.000 Menschen gegen den »schmutzigen Krieg« der Amerikaner auf die Straße gingen, meist junge Westberliner, überwiegend Studenten, und am Rande der Demonstration Eier auf das Amerika-Haus flogen und die amerikanische Fahne auf Halbmast gesetzt wurde, da brach in der Stadt ein Sturm der Entrüstung los. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt machte sich zum Sprachrohr der Empörten, als er vor dem Abgeordnetenhaus den linken Studenten vorwarf, angegriffen zu haben, was den Bürgern West-Berlins heilig sei: die Freundschaft mit den amerikanischen Beschützern.

Ich für meinen Teil hatte dem Vater im Frühjahr 1965 schwere Vorhaltungen gemacht, weil er sich auf einer USA-Reise mit Fritz Erler auf die Seite der Amerikaner gestellt hatte, weniger nachdrücklich als Erler, aber trotzdem. Was die Einschätzung des Vietnamkriegs betrifft, hat er später behutsam und eher implizit Selbstkritik geübt, zum einen, weil er sich nur unzureichend mit den inneren Verhältnissen Südvietnams beschäftigt, zum anderen, weil er die internationalen Wirkungen des Konflikts nicht richtig eingeschätzt hätte. 1965/66 ging es ihm, mit Blick auf Berlin, um die Glaubwürdigkeit amerikanischer Garantien. Und er wollte die kommunistischen Hardliner aller Länder, die er auch in der SED vermutete, entmutigt wissen, damit sich die Voraussetzungen globaler Entspannung verbesserten. So jedenfalls lautete seine damalige Analyse. Insofern stand er in einem scharfen inhaltlichen Gegensatz zu denjenigen, die in West-Berlin und Westdeutschland gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam auftraten und für den Norden des Landes und die südvietnamesische Befreiungsfront Partei ergriffen.

Es war nur ein scheinbares Paradox, dass sich dieser Gegensatz in Willy Brandts Zeit als Außenminister abzuschwächen schien. In den USA selbst und unter den NATO-Verbündeten wuchs die Kritik an dem Krieg der westlichen Führungsmacht. Dies wurde seinerseits zu einem realen außenpolitischen Faktor. Für Willy Brandt kam erleichternd hinzu, dass er auf die Mehrheitsverhältnisse in der Berliner SPD – der »CSU der deutschen Sozialdemokratie« – sehr viel weniger Rücksicht nehmen musste als früher. Wichtiger war nun die Meinungsbildung in der Gesamt-SPD: Als Erwin Beck und Harry Ristock am 18. Februar 1968 in West-Berlin an der großen internationalen Vietnam-Demonstration teilnahmen, und dies ausdrücklich als Sozialdemokraten taten, exekutierte die Berliner Landesorganisation einen Sofortausschluss gegen die beiden. Die Bundes-SPD machte auf dem Nürnberger Parteitag den Ausschluss über eine Satzungsänderung rückgängig.

Seit den Übergriffen der Berliner Polizei während der Proteste gegen den Schah-Besuch im Juni 1967 breitete sich die APO flächenbrandartig aus. Das hielt bis zu den Osterunruhen 1968 an und setzte sich dann weniger spektakulär fort. An den Hochschulen geriet eine Organisation nach der anderen in den Sog der Protestbewegung, teilweise und zeitweise bis in die Reihen des RCDS  – des Rings Christlich-Demokratischer Studenten. Selbst waffenstudentische Korporationen konnten sich dem nicht ganz entziehen, ähnlich die etablierten Jugendorganisationen wie Pfadfinder und kirchliche Gruppen. Wie Meinungsumfragen belegten, sympathisierte im Frühjahr 1968 eine Mehrheit der Studenten und Oberschüler mit der Bewegung, wie immer sie im Einzelnen verstandenen worden sein mag. Viele waren demonstrationsbereit, erheblich weniger wurden auch regelmäßig aktiv. Nun machten diese jungen Menschen, die ihrer Herkunft nach weitgehend den bürgerlichen Schichten entstammten, Ende der sechziger Jahre nicht mehr als ein Zehntel der entsprechenden Jahrgänge aus. Willy Brandt wies immer wieder auf das Faktum hin: Es handelte sich um die Mehrheit der studierenden Minderheit und zusätzlich um eine ziemlich kleine, wenn auch nicht ganz bedeutungslose Minderheit der lohnarbeitenden Mehrheit. Das unterstrich er aus zwei Gründen: Zum einen wollte er die ansprechbaren Teile der APO auf die Gefahr eines völligen Auseinanderklaffens der Generationen und der Jugend in sich hinweisen. Zum anderen bat er um Verständnis dafür, dass eine Partei wie die SPD die Verbindung zur Mentalität der arbeitenden Bevölkerung nicht verlieren dürfe. Während des Wahlkampfs 1969 und davor sollte die SPD bei den Arbeitern »nicht waschlappig erscheinen«. Und ihren Gegnern sollte es unmöglich sein, sie mit Gewaltaktionen und Gesetzlosigkeit zu identifizieren. Outlaws waren die Sozialdemokraten lange genug gewesen. Nun wollten sie den Regierungschef stellen.

In manchen Momenten des Zorns über systematische Störungen von SPD-Veranstaltungen drohte Willy Brandt sogar damit, die »schweigende Mehrheit« zu mobilisieren. Sollten sich die »gutgesonnenen Bürger« gefallen lassen, dass der »demokratische Rechtsstaat ausgehöhlt und seine Einrichtungen zu einer Ruine gemacht« würden? Brandt verwies mehrfach auf seine Lebenserfahrung: das Erlebnis des Untergangs der Weimarer Republik. Doch – und das war ein charakteristischer Unterschied zu manch anderen auch innerhalb der SPD – zog er keine Parallelen zwischen APO und NSDAP. Er erinnerte vielmehr an die Hilflosigkeit des demokratischen Rechtsstaats, die seiner Entlegitimierung 1933 vorausging. Es war ihm durchaus bewusst, dass die Linksentwicklung der jungen Intelligenz Deutschlands anders zu sehen war als die antiliberal-rechtsnationalistischen Tendenzen in der Weimarer Republik und dass – nach der Indifferenz der »skeptischen Generation« in den Nachkriegsjahren – der Linkstrend in der jungen Intelligenz aus sozialdemokratischer Sicht nicht nur negativ zu sehen war. Aber als SPD-Vorsitzender fürchtete er zugleich stets, dass die Revolte von links einen Rechtsruck in der Bevölkerung auslösen könnte. Tatsächlich, der größte Wahlerfolg der rechtsextremen NPD, 1968 in Baden-Württemberg, kurz nach den Osterunruhen, ging per saldo fast ausschließlich zulasten der SPD.

Wenn Willy Brandt über die Radikalisierung der Jugend sprach, vermied er Bezeichnungen wie »sozialistisch« und »kommunistisch«. »Kommunistisch«  – das war fast so wie »Sowjetsystem« und wäre für jeden offiziellen Dialog mit den Jüngeren tödlich gewesen. Er bevorzugte Worte wie »Radikalismus«, »Anarchismus« oder »Neigung zur Revolution«, bei gewalttätigen und gewaltbereiten Gruppen sprach er von »Extremismus« und »Terrorismus« und vereinzelt von »Nihilismus«.

Als nach dem Dutschke-Attentat Zehntausende von Demonstranten versuchten, die Auslieferung von Springer-Zeitungen zu verhindern, auch gewaltsam, und als dabei in München zwei Menschen den Tod fanden, wandte sich das SPD-Parteipräsidium am 14. April 1968 »mit aller Entschiedenheit gegen die flagranten, teilweise vorsätzlich organisierten Rechtsverletzungen« und beschwor »die Autorität des Rechtes und die Autorität des Gesetzes«, die »mit Besonnenheit, aber ebenso auch mit großer Energie« gewahrt werden müssten. Brandt war die Schwierigkeit durchaus bewusst, von außen einen Spalt in die Protestbewegung zu treiben. Sie funktionierte nach anderen Kriterien als denen, die die SPD vorgab. Man verweigerte zum Beispiel ein Bekenntnis zur verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik. Das machte die Sache komplizierter. Willy Brandt betonte immer wieder, dass es bei dem Versuch, »Extremisten« auszugrenzen, nicht um die Studenten ginge, auch nicht um die linken Studenten, ja nicht einmal um diejenigen, die »überkommene Werte und etablierte Ordnungen« vehement und radikal infrage stellten.

Mitte Februar 1969 diskutierte die Bundesregierung über einen Vorschlag von Innenminister Ernst Benda (CDU), der die NPD und den SDS gleichzeitig verbieten wollte. Das kam manchen Sozialdemokraten nicht ungelegen. Die SPD-Führung stellte sich hauptsächlich deswegen quer, weil die CDU/CSU außerdem die DKP verbieten lassen wollte, die Justizminister Gustav Heinemann, auch als freundliches Signal an den Osten, gerade erst mühsam legalisiert hatte.

Willy Brandts strategisches Ziel hieß, der »heimlichen Koalition zwischen Konservatismus und Revoluzzertum« eine »Koalition der Reformwilligen« entgegenzustellen, sowohl an den Universitäten wie auch in der Gesamtgesellschaft. Allerdings kamen er und die SPD damit nicht sehr weit, bis sich die Dauerrevolte mehr oder weniger totlief. Direkte Gespräche brachten wenig konkrete Erfolge. Auf dem jugendpolitischen Kongress der SPD im Januar 1969, der als geschlossene Veranstaltung abgehaltenen wurde, zeigte sich das Dilemma der Sozialdemokratie im Umgang mit der Protestbewegung in seiner ganzen Tragweite. Den SDS hatte man gar nicht erst eingeladen. Auch der scharf linksoppositionelle Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB) erhielt erst Zutritt, als öffentlich ruchbar wurde, dass man ihn bei der Kartenvergabe (angeblich irrtümlich) übergangen hatte. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen gelang es den APO-Sympathisanten unter den Teilnehmern doch noch, für mehrere SPD-kritische Resolutionen die Zustimmung der Mehrheit zu erhalten.

Brandt entwickelte nach und nach mehr Verständnis für die Positionen der radikalisierten Jugend. Das war unverkennbar. Seine Analyse wurde umfassender und präziser. Er bemerkte, wie gravierend die generationsspezifischen Erfahrungen auseinanderklafften – die der »Achtundsechziger« einerseits und der Altersgruppen, die die politische Führungsschicht stellten, andererseits. Und, das sagte er sich und anderen, Erfahrungen waren schwer übertragbar. Die Weigerung, die Anliegen der oppositionellen jungen Menschen als legitim oder gar berechtigt anzuerkennen, wich dem Werben um gegenseitiges Verstehen.

Es war auch der APO geschuldet, dass die SPD 1968/69 ihr progressives, reformerisches Profil schärfte und gegen den Konservatismus wieder härter Stellung bezog. Eine Modernisierung der Hochschulen zielte auch die Sozialdemokratie an. Willy Brandt anerkannte, dass die Forderung aus der Studentenschaft und dem Mittelbau nach einschneidender Reform sehr berechtigt war. Sicherlich spielte auch die Hoffnung mit, die studentischen Unruhen auf diesem Weg teilweise kanalisieren zu können. Brandt rief die kritische Jugend auf, sich stärker in den bestehenden Parteien zu engagieren, und das hieß konkret: in der SPD. Bekanntlich folgte sie dem Ruf in beträchtlicher Zahl.

Klarer als andere Politiker, auch klarer als viele Sozialdemokraten, erkannte Willy Brandt die elementare Kraft der Jugendradikalisierung. Vor der UNESCO sprach er am 6. November 1968 von einem »Aufbegehren gegen Phänomene der Entfremdung und Entseelung« in der modernen Industriezivilisation. Es gehe um einen Protest gegen das »Missverhältnis zwischen veralteten Strukturen und neuen Möglichkeiten«, gegen die »innere Unwahrhaftigkeit des Staates und der Gesellschaft«. »Die Jugend misst das, was ist, nicht an dem, was war …, sondern an dem, was sein könnte.« Man müsse sich der Jugend stellen, sich selbst infrage stellen und hinzulernen. Insbesondere von seiner Partei verlangte Willy Brandt, sie müsse fähig und bereit sein, sich inhaltlich mit der Jugend auseinanderzusetzen. Die Sozialdemokratie sei »diejenige politische Gemeinschaft, die alle wichtigen Impulse, auch die ihrer Kritiker, in sich aufnimmt«. Das schrieb er ihr wenige Wochen vor seiner Wahl zum Bundeskanzler ins Stammbuch.

Mit sicherem Gespür für Gemeinsamkeiten und Unterschiede begriff er die internationale Dimension der Studenten- und Jugendbewegung, die von Mexiko bis Japan und sogar in Osteuropa ihre Wellen schlug. Besonders Frankreich beeindruckte ihn, wo Studentenproteste im Mai 1968 den größten Generalstreik der französischen Geschichte auslösten – bis an die Schwelle des revolutionären Staatsumsturzes. Bei diesen Einschätzungen spielte ein Mann eine Rolle, der zu den Jüngeren in der SPD-Führung zählte: der Staatssekretär und frühere Freiburger Juraprofessor Horst Ehmke, damals um die 40 Jahre alt. Ehmke unterdrückte die scharfe Kritik am SDS zwar nicht, warb aber auf dem Nürnberger Parteitag für einen rationalen Umgang mit der APO. Sie sei »von guten Absichten, Enttäuschungen, Ängsten, berechtigter wie unberechtigter Kritik und auch von verstiegenen Ideen« getragen. Für ihn stand fest: Die Unruhe habe »gerade erst begonnen« und werde bald auch Schüler und Lehrlinge erfassen.

Mein Vater redete weder mir noch irgendeinem anderen jungen Linken jemals nach dem Munde, sondern warnte wiederholt davor, die Probleme der modernen Welt mit dem Griff in die ideologische »Mottenkiste« lösen zu wollen. Aber, und das galt sicher nicht nur für den rebellierenden ältesten Sohn: Wer mit ihm sprach, fühlte sich ernst genommen und respektiert, auch wenn die Positionen inhaltlich unvereinbar waren.

Es waren vor allem linke und linksliberale Intellektuelle wie Günter Grass und Kurt Sontheimer, die Willy Brandt ermutigten, auf die protestierende Jugend zuzugehen. Grass neigte dazu, den politischen Generationskonflikt zwischen Vater und Sohn Brandt, der natürlich große öffentliche Beachtung fand und vom politischen Gegner hochgespielt wurde, als eine exemplarische »pädagogische Lektion« hohen Ranges zu stilisieren. Grass hatte durchaus das richtige Gespür. Meinungsumfragen brachten einen interessanten Effekt ans Licht: Anders als allgemein vermutet, sah eine Mehrzahl der Westdeutschen Willy Brandts Toleranz gegenüber seinem ältesten Sohn positiv. Zugleich nahm diese Mehrheit an, entschieden in der Minderheit zu sein.

Die Motive für den partiellen Einstellungswandel Willy Brandts waren gemischt, wie meist in solchen Fällen. Man gewinnt im Nachhinein den Eindruck, als ob sich außenpolitische, innenpolitische und innerparteiliche Nützlichkeitserwägungen, intellektuelle Flexibilität bei gesellschaftlichen Fragen, Erinnerungen an die eigene Jugend und die Bereitschaft, nach sachlich und moralisch berechtigten Antrieben des Protests zu fragen, gegenseitig verstärkten. Was dabei herauskam, war typisch für ihn: »Wer vom Andersdenkenden annimmt, er könnte nur entweder dumm oder böswillig sein, mit dem ist schwer zu reden. Man muss wissen, dass man auch irren kann«, sagte er in seiner Rede auf dem SPD-Jugendkongress im Januar 1969. »Ohne Verständigung, ohne Ausgleich gibt es keine Demokratie.« Schon auf dem Nürnberger Parteitag hatten Günter Grass und seine Mannen ihm in die Feder diktiert: »Jugend ist kein Verdienst, Alter ist kein Verdienst. Nach meinen Erfahrungen ist Jugend ein Kredit, der jeden Tag kleiner wird. Die Selbstherrlichkeit junger Leute ist ebenso töricht wie die Besserwisserei der Alten. Das sollte man sich täglich als Vater sagen. Hoffentlich sagen sich das manchmal auch die Söhne.« Im ursprünglichen Entwurf hatte es noch geheißen: »meine Söhne«.

Der Ehrlichkeit halber muss man an dieser Stelle sagen, dass die direkte Auseinandersetzung im Familienkreis viel weniger intensiv war, als das nach außen den Anschein haben mochte. Vielleicht profitierte hier der Vater Brandt einmal vom Politiker Willy Brandt. Er betonte damals mehrfach, dass die Konfrontation mit den Gedanken und der Gefühlswelt der Jungen verhindert habe, das Gespür für die Anliegen der eigenen Söhne zu verlieren – und umgekehrt. Den zweitgeborenen Sohn Lars, der mit ihm weiterhin unter einem Dach lebte, rechnete er, in Abgrenzung zum Ältesten, übrigens eher dem Feld des freigeistigen Kulturradikalismus zu.

Nach den Osterunruhen und den Massendemonstrationen gegen die Notstandsgesetze 1968 zerfaserte der massive Protest allmählich. Im Gegensatz dazu gewann die radikale Linke von Jahr zu Jahr erheblich an Einfluss im Leben der Republik; dazu kamen die Neuerungen in der Alltagskultur wie Kinderläden, Wohngemeinschaften, autonome Jugend- und Lehrlingszentren usw. Das Bundesamt für Verfassungsschutz zählte 1971 rund 76.000 und 1975 rund 140.000 Linksextremisten in Hunderten von Organisationen. Jeweils mehr als die Hälfte entfielen auf die DKP und ihr Umfeld. Den westdeutschen Kommunisten mit MoskauOrientierung war es gelungen, viele Früchte der Jugendradikalisierung zu ernten, trotz der Niederschlagung des Prager Frühlings. Daneben entstanden maoistische Kleinparteien und spontaneistische Gruppierungen. Letztere führten am ehesten weiter, was 1967/68 entstanden war.

Die Neugründung einer kommunistischen Partei in der Bundesrepublik war während der Großen Koalition mit dem Einverständnis von CDU/CSU ausgehandelt worden. Für die Bundesregierung und namentlich für die SPD handelte es sich um ein Stück Realpolitik: Außerhalb der rechten Diktaturen in Portugal, Spanien und Griechenland war ein KP-Verbot in Westeuropa undenkbar. In der Bundesrepublik erschwerte es die Entspannung nach Osten, ohne dass von der bis 1956 zugelassenen Kommunistischen Partei je eine echte Gefahr für die Demokratie ausgegangen wäre. Tatsächlich bekam auch die DKP bei Wahlen nirgendwo einen Fuß auf den Boden, von einigen kleinen örtlichen Hochburgen abgesehen. Die Bundestagswahlergebnisse lagen im blamablen Promillebereich. Jahre später erzählte mein Vater mir mit sichtbarer Erheiterung von einem Zusammentreffen mit dem DKP-Vorsitzenden Herbert Mies 1980 in Belgrad, anlässlich der Beerdigung von Josip Broz Tito. Die Bundestagswahl stand bevor. Die CDU/CSU hatte Franz Josef Strauß zum Spitzenkandidaten gekürt. Mies nahm meinen Vater beiseite und erklärte, dass die DKP an einer eigenen Kandidatur vor allem deshalb festhielte, um den Antikommunismus »auf sich zu ziehen« – gewissermaßen als Opfer zugunsten der sozialliberalen Koalition, um Schlimmeres zu verhindern. So ähnlich hatte ich mir das immer vorgestellt … Ironische Äußerungen über die »staatstragende« Rolle von DKP-Leuten hörte ich in den siebziger und achtziger Jahren von meinem Vater häufiger. Vor allem in Gewerkschaften und Betriebsräten bekämpften sie vermeintliche linksradikale Chaoten, die auch gemäßigten Sozialdemokraten auf die Nerven gingen. Über die Interessen, die dahinter standen, machte Brandt sich keine Illusionen.

Ein Verbot der DKP hätte der Regierung Brandt-Scheel nach innen wie außen beträchtliche Probleme bereitet. Hierin lag ein wesentliches Motiv dafür, dass Willy Brandt sich auf den berüchtigten »Radikalenerlass« einließ, der die Einstellung von Extremisten in den Öffentlichen Dienst verhindern sollte. Dieser Beschluss war von den Ministerpräsidenten der Länder ausgegangen.

Die Regierung Brandt sah sich damals genötigt, der Propaganda der Opposition etwas entgegenzusetzen, die behauptete, die neue Ostpolitik weiche die Trennungslinie zum Kommunismus auf und fördere tendenziell sogar Volksfrontbündnisse. Auch um eventuelle Unklarheiten in den eigenen Reihen zu beseitigen, hatte der SPD-Vorstand schon im November 1970 Richard Löwenthal beauftragt, klare Abgrenzungsrichtlinien für Parteimitglieder zu verfassen. Dieser hob die Unvereinbarkeit von Demokratie und Diktatur hervor und erklärte jede Art Mitgliedschaft oder Aktionsgemeinschaft mit kommunistischen Organisationen für unvereinbar mit der Politik der SPD.

Der sogenannte »Radikalenerlass« oder auch »Extremistenbeschluss« vom Januar 1972 sollte die innenpolitisch bedrohte Flanke der Ostverträge schützen. Obwohl Herbert Wehner und, mehr noch, Helmut Schmidt die vorhandenen gesetzlichen Bestimmungen für ausreichend hielten und vor dem »Radikalenerlass« warnten, scheint Willy Brandt dessen Tragweite in Deutschland mit seinen obrigkeitsstaatlichen Traditionen und seiner oftmals juristischen Regelungswut entgangen zu sein. Ihm schwebte eine pragmatische Praxis vor: Von sicherheitsrelevanten Bereichen sollten Verfassungsfeinde ferngehalten werden, sonst sollten sie ungeschoren bleiben. So handhabte man das in anderen Ländern Westeuropas auch. Doch dieses Arrangement kollidierte mit dem deutschen Beamtenstatus und mit dem Wortlaut des Radikalenerlasses. So gerieten kleine DKP-Angehörige ins Visier, die zum Beispiel Lokführer oder Postboten waren. Gesinnungsschnüffelei ließ sich kaum vermeiden. Das war gewiss nicht intendiert, aber unvermeidlich. Und obwohl die Ministerpräsidenten den Beschluss gemeinsam fassten, entwickelte jedes Bundesland seine eigene Praxis. Der bürokratische Aufwand einer sogenannten »Regelanfrage« beim Verfassungsschutz war enorm. Die Zahl der Bewerber, die daraufhin abgelehnt wurden, stand mit etwa einem Promille in einem grotesken Missverhältnis zu diesem Aufwand. Die SPD hatte Mühe, die Besorgnisse und Kritik ihrer Schwesterparteien zu besänftigen. Die von Willy Brandt und Herbert Wehner überlieferte flapsige Bemerkung, man könne als Revolutionär doch nicht gleichzeitig die Sicherheit des Beamtenstatus mit Pensionsberechtigung anstreben, traf nicht den Punkt. Sie ging an der Tatsache vorbei, dass in den Bereichen, wo der Staat das Ausbildungsmonopol besaß, bei Lehrern und Juristen zum Beispiel, die Ablehnung von tatsächlichen oder vermeintlichen »Verfassungsfeinden« de facto einem Berufsverbot gleichkam. Willy Brandt hat den »Radikalenerlass« schon bald nach seinem Amtsverzicht als Fehler bezeichnet und unumwunden eingeräumt, sich geirrt zu haben. Eine gewisse Nonchalance gegenüber juristischen Fragen, die er immer schon besaß, hat sich hier negativ ausgewirkt.

Als ich mich 1975 in Berlin erstmals auf eine universitäre Assistentenstelle bewarb, geriet auch ich in diese Schnüffelmaschinerie. Ich musste mich einem Anhörungsverfahren im Rektorat der Freien Universität Berlin unterziehen, nachdem die Regelanfrage diverse »Erkenntnisse« des Verfassungsschutzes erbrachte hatte. Sie bezogen sich ausschließlich auf den Zeitraum von 1968 bis 1971 und meine nicht unmaßgebliche Mitgliedschaft im »Spartacus«. Allerdings gehörte ich dem Verband 1975 schon nicht mehr an. Die Universitäten pflegten weniger inquisitorisch zu fragen als Schulen und Verwaltungen. Ich dufte einen Rechtsanwalt zur Anhörung mitbringen, mich mit ihm zwischendurch flüsternd beraten und schließlich sogar das Protokoll redaktionell bearbeiten.

Mir ging es darum, die Aussicht auf die angestrebte Stelle nicht zu zerstören, aber auch keine verbalen Unterwerfungsgesten zu machen und nichts zu äußern, was ich nicht auch gegenüber meinem politischen Umfeld vertreten konnte. Als man mir Zitate aus den Jahren um 1970 vorhielt, sagte ich wahrheitsgemäß, ich würde inzwischen manches anders sehen und jedenfalls anders formulieren, ohne dass ich das konkretisierte. Außerdem unterstrich ich meine durchgehend freiheitlichen Motive. Ferner dozierte ich über Begriffe wie »Diktatur des Proletariats«, die im Verständnis der klassischen Sozialdemokratie keinen Gegensatz zur Entfaltung der Demokratie bildeten. Das Protokoll geriet erwartungsgemäß in die Presse und wurde dort von Anhängern wie Gegnern des Radikalenerlasses unterschiedlich kommentiert. Der »Spiegel« meinte, nur wer so »geschickt und beschlagen« argumentiere, könne sich aus der Affäre ziehen. Meinen Vater bat ich am Telefon, sich keinesfalls zu äußern: Was immer er sage, es könne nur missverstanden werden. Am Ende hat mir »sein Erlass« beruflich nicht geschadet. Das war aber nur ein schwacher Trost.

Auszug aus dem Buch: Peter Brandt, Mit anderen Augen. Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt, Bonn 2013. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verlags J.H.W. Dietz Nachf. - Verlagsinformationen finden Sie hier.