Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, aus dem Engl. von Martin Richter, München (C. H. Beck) 2011, 523 S.

Wissensfiktionen durch empirische Verallgemeinerung

Mit Bloodlands ist, anders als der Buchtitel vermuten lässt, nicht Europa zwischen der Hitler- und Stalinzeit gemeint, sondern bloß Mittelosteuropa zwischen der Weichsel und dem Don. Warum nur dieses Gebiet? Es ist offensichtlich eine von der europäischen Kriegs- und Bürgerkriegsgeschichte (1914-1944) exemplarisch geschädigte Landschaft, aber beileibe nicht alle großen Massenmorde der beiden Totalitarismen fanden hier statt, zumal der interne permanente Bürgerkrieg im Bolschewismus gar nicht auf dieses vergleichsweise kleine Gebiet (zwei – bzw. zwischen 1940/44 – fünf von 16 Sowjetrepubliken!) beschränkt war.

Damit ist ein konzeptionelles Problem des Buches angesprochen: es sollen die – ›exogenen‹ – Kriegs- und Völkermordverbrechen des NS-Regimes während der Kriegszeit (1940-1944) im Osten mit der – ›endogenen‹ – Selbstzerstörung der Sowjetgesellschaft (1924-1944), die (sowjetsprachlich) »ein Sechstel der Erde« umfasste, sozusagen ›synchronisiert‹ werden.

Damit aber läuft der Autor Gefahr, sich wirkliches Verstehen jenes Mordgeschehens (das eben nicht totalitarismus-übergreifend homogen, symmetrisch oder auch bloß motiv-verwandt war) zu versagen. Die grundlegende Paradoxie dieser Bloodlands wurde einmal – 1940 – an ihrer Wasserscheide, am Bug, so beschrieben: »diesseits beteten Millionen sowjetischer Sklaven für ihre Befreiung durch die Hitlerarmeen, und jenseits lebten Millionen in deutschen Konzentrationslagern, deren letzte Hoffnung die Rote Armee war.« (Herling, S. 223)

Wenn man diese inversen Motivlagen der Opfertäter in den Bloodlands nicht gründend wahrnimmt, bleiben die schrecklichen Phänomene dieser Geschichtslandschaften (Julien Gracq) unbegriffen. Oder es bleibt die Trivialität, es sei den Opfern egal, welche Kokarden die Mörder trugen … (und so werden sie – wie hier – empirisch lokalisiert und addiert) und Erklärungen über sie mäandern in geopolitischen Ungereimtheiten. Beispielsweise der, dass »der mörderischste Teil der UdSSR ihre nichtrussische Peripherie« (13) gewesen sei. Abgesehen davon, dass man streiten könnte, ob nicht die Kolyma, das Norilsker Oblast, die Solowetzki-Inseln oder das KarLag (Hedeler, S. 363; allein das KarLag ›beheimatete‹ 1930-1950 rund 18 Millionen Sträflinge!) viel evidenter solche – geographisch völlig kontingenten – Areale des Todes innerhalb des Archipel GULag seien, war es doch der stalinistischen Sowjet-Mentalität völlig fremd, ihr Herrschaftsgebiet – die ›Union der sozialistischen Sowjetrepubliken‹ – ethnisch-völkisch zu hierarchisieren und dies womöglich noch administrativen Entscheidungen zugrunde zu legen. Es gab innerhalb der Sowjetgesellschaft kein macht- oder repressivtechnisches Sondergebiet!

1.

Das Bemühen um ›homogene‹ Erklärungen von Schreckensereignissen der Bloodlands wird besonders problematisch bei den Erörterungen der Hungerkatastrophen in Sowjetrussland bzw. der UdSSR (1921/22 und 1933/34).

Ganz früh habe der Bolschewismus entdeckt, was dann auch der Nationalsozialismus zwanzig Jahre später gezielt eingesetzt habe: »dass der Hunger eine Waffe war« (33). Dafür hätte man gern ein zeitgenössisch relevantes Dokument! – Hinreichend dokumentiert ist dagegen die ökonomisch-politische Wende der Lenin-Administration, das Land nachhaltig aus dieser Hunger-Misere nach 1921 herauszuführen: die Wende hin zur sog. Neuen Ökonomischen Politik (NEP). Selbst in einer namhaften Antikomintern-Schrift zur Sowjetunion von 1936 wurde festgehalten: »Um das Jahr 1926 herum waren die Schicksalsschläge des Bürgerkriegs in den Schwarzerdegebieten der Sowjetunion, den einstigen Kornkammern der Welt, bereits fast verheilt. Eine sich vorwärts entwickelnde Landwirtschaft war unverkennbar.« (Dittloff, S. 216) Getragen und begründet wurde diese Entwicklung von namhaften leninistischen Partei‑ & Staatsführern (Bucharin, Rykow, Tomski, Ejchenvald, Preobrashenskij, und – überraschenderweise – vom späten Dshershinskij – 1926†) [vgl. dessen letzte Rede vom 20. Juli 1926, in: Inprekorr, 98/1926, S. 1597. – Nach dieser Rede brach er tot zusammen. Bucharin im Nachruf: Nicht selten sprach er die Wahrheit aus, wie sie niemand sagen konnte, außer ihm.], die sich aber just in dieser Zeit, weil sie der herkömmlichen, einzelbäuerlichen, sog. ›privatkapitalistischen‹ Landwirtschaft auch mittelfristig eine versorgungstechnische Zukunft einräumten [Bereichert Euch, entwickelt Eure Höfe, so Bucharin 1925!], als – rechte – Abweichler vom Kommunismus angeprangert sahen. Diese Gruppe kam tatsächlich immer mehr von der orthodoxen Überzeugung ab, derzufolge »der entfaltete Sozialismus keine Marktwirtschaft kennen würde.« (Löwy, S. 286)

Eine so robuste These, wie die der geplanten Hungerkatastrophe als Genozid (am ukrainischen Volk) – als Holodomor (in Assoziation zu Holocaust) – konnte wohl nur entstehen, wenn, wie im vorliegenden Band, die Ursachenbeschreibung in zeitgenössischen Berichten von Betroffenen und Kritikern der Kollektivierung im Diskurs unterbelichtet bleibt bzw. bloß Schreckensphänomene auflistet werden. Teilnehmer an jenen Geschehnissen kommen kaum zu Wort. Einer derjenigen, die als junge Stalinisten diese Enteignungskampagne überzeugt mittrugen, Lew Kopelew, beschreibt in seinen Memoiren den parteiinduzierten und ideologietechnischen Weg in die Hungerkatastrophe. (Kopelew, S. 338-369) Und auch der absurde Alltag des Eigentumstransfers, die verschwenderische Improvisation und Inkompetenz im Umgang mit Lebensmitteln durch paramilitärische Beschaffungskommandos, wurde deutlich dokumentiert (z. B. von einem Wolgadeutschen, Fast, S. 64-68). – Es ist zunächst auffällig, dass in jener Zeit voller Gerüchte nicht einmal gerüchteweise eine solche Genozid-Verschwörung gegen ein Volk der UdSSR die Runde machte. Dasjenige, was die Runde machte, war die Losung: »Die Liquidierung des Kulakentums als Klasse.« [Gleichnamiger Artikel in: der Zeitung Krasnaja Swesda, Jg. 7 (1930), Nr. 16, v. 19. Jan. 1930 ] – Die Kulaken als Klasse zu beseitigen, das aber hieß nach der sozialistischen Lehre: die Kulaken zu expropriieren. Damit war keine (lebens)biologische, sondern eine soziale Statusänderung verbunden. Die Kulaken sollten enteignet, nicht exterminiert werden! Denn ›Kulak‹ ist man nicht ›von Natur‹ aus, nicht ›fremdvölkisch‹, sondern durch die kapitalistische Lebensweise.

Jedoch: Die stalinistische Gewalt-Kampagne, diese Mittelbauern in kürzester Zeit und massenhaft von ihrem Eigentum zu trennen, hatte unter Sowjetbedingungen allerdings sofort einen Verwaltungs-, Verkehrs- und Ernährungskollaps zur Folge, der von ›oben‹ her kaum noch zu beherrschen war; da kam auch Stalins – »des Sowjetvolkes großer Ernteleiter« (Brecht) – Bremsversuch mit seinem Appell Vor Erfolgen von Schwindel befallen (Stalin, S. 168ff) von 1930 zu spät. Die grauenhafte Folge mit Millionen von Hungertoten (Anfang der Dreißiger) hatte natürlich das ganze Land zu tragen und nicht etwa ›nur‹ die Zielgruppe der Enteigneten, oder gar ›nur‹ in der Ukraine. Dieser Vorgang eines im Grunde genommen ›inneren‹ Bürgerkriegszustandes ist im Ganzen von den Gründen, Umständen und Ausmaßen her in keiner Weise kopiegleich mit dem gezielten Verhungernlassen jüdischer Ghettos in den von Deutschland besetzten fremden Ostgebieten (zu Beginn der Vierziger). Zumal jene verhängnisvollen politischen Entscheidungen in der Sowjetunion gegen die Bauern von damals das ganze Land seither (nicht nur in Kriegszeiten) in einen anhaltenden Zustand universeller Mangelversorgung, regional auch schon immer wieder einmal an die Grenze des Hungers, gebracht haben.

Diese Umstände chronischer Unterversorgung seit damals – versprochen worden sind Äpfel, ausgeblieben ist Brot – hielten an bis zum Ende des Kommunismus (1990) und trafen auf fast alle Länder des Kommunismus zu. Das Verhungernlassen der Juden in den Ghettos hatte dagegen keinerlei Versorgungsauswirkungen auf das Nazi-Reich, die Grenze zwischen hungrig und satt war immer die Grenze des Ghettos.

Wenn man also wirkliche Gründe zu diesem gewaltigen Elend (mit mehreren Millionen Toten) finden wollte, muss erstens auf die sowjet-ideologische Herrschaftsphilosophie (d.h., dass alle Menschen unbedingt vom Eigentum zu entbinden seien) verwiesen werden und zweitens auf die verwaltungstechnisch und infrastrukturell völlig unzureichenden Mittel, solche Massenverschiebungen (Umsiedlung ehemaliger sog. ›Kulaken‹) effektiv so zu bewerkstelligen, dass diese danach noch einigermaßen sinnvoll wirtschaften konnten. Weil es eben zu den geistigen Dispositionen stalinistischer Herrschaft gehört, immer das ›Politische‹ über das ›Ökonomische‹ zu stellen. Im August 1942 hat das Stalin einmal Churchill gegenüber verdeutlicht, als er sagte: »[D]ie Kollektivierung hat uns einen viel schrecklicheren Krieg aufgezwungen. Wir hatten zehn Millionen Bauern [Bauern, nicht Nationalitäten!-St.D.] gegen uns. Das war ein furchtbarer Krieg, er dauerte vier Jahre.« (Herling, S. 291 [Eintrag v. 23. Febr. 1992]

Kurzum:
Man begreift den antizivilisatorischen, menschenfeindlichen Charakter des Bolschewismus gerade im Umgang mit sozialen Krisen- und Katastrophenlagen nicht, wenn man a) seine gründende Spiritualität nicht sieht: »Hinter 1917 stand lange – die ganze Zwischenkriegszeit hindurch – das heute lächerliche und damals überzeugende Bild einer Christusnation, die sich für die Erlösung der Menschheit opfert« (Gracq, S. 201) sowie b) die alltägliche Verkehrsform dieser Hybris aus dem Blick verliert – »eine Art unauflöslicher und grandioser Wirrwarr zwischen dem, was sie tun wollten, dem, was sie zu tun glaubten, dem, was sie getan hatten, und dem, was das, was sie getan hatten, bewirkte.« (Ebd., S.197)

2.

Die Bloodlands blenden einen entscheidenden Unterschied im Homonomie-Begehren bei der Beschreibung der Hitler-und-Stalin-Welt aus. Der Einzelne hatte es namentlich im Stalinismus mit ungleich unverlässlicheren Institutionen (etwa in Verwaltung, Partei, Recht oder Militär) zu tun, als in jeder anderen Partei-, Rasse- oder Religionsdiktatur. – Egal, ob man parteiloser Arbeiter, General, Bauer, Rückkehrer, Professor, Polarflieger oder Volkskommissar für Inneres war – es gab im Stalinismus keine kalkulierbare Lebens- oder Berufsform, mit der man sich vor dem gewaltsamen Tod (verursacht durch die eigenen ›Gleichgesinnten‹) bevorzugt hätte schützen können. Der Staatsterror hier war spätestens seit Stalins Triumph (1934), dem zweiten Bolschewismus (F. Furet), längst nicht mehr an soziologischen ›Klassen‹-Kriterien orientiert, sondern wütete übergreifend in allen Schichten jener unglücklichen Gesellschaft, in allen Berufen und Regionen, bei Privilegierten ebenso wie bei entlegenen sibirischen Ethnien, bei Siegern wie Besiegten im Bürgerkrieg, unter den ›Erbauern des Kommunismus‹ ebenso wie natürlich unter Abtrünnigen.

Gerade in der Zeit des Großen Terrors wurden hier Unwägbarkeiten, Unsicherheiten, Improvisationen und ein unübersehbares Täuschungschaos offenbar, von dem man nichts weiß, wenn man alles über die Justiz- und Verwaltungsformen in Nazi-Deutschland (besonders vor dem Krieg) wüsste. Das, was beispielsweise Roland Freisler bei seinem offiziellen Besuch des ersten Moskauer Schauprozesses 1936 hätte lernen können, war schlechterdings auf die zeitgleiche Prozesskultur im nationalsozialistischen Deutschland nicht anwendbar – weniger aus mentalen Gründen (er hatte sicherlich die gleiche kriminelle Energie wie Wyschinski), als aus Gründen einer völlig anderen, nämlich weitgehend noch – mit Ausnahme des Parlamentarismus – intakten und (von den Deutschen!) mehrheitlich freiwillig und als selbstverständlich akzeptierten autoritären Herrschaftsform, eines Lebens (für Deutsche!) in obrigkeitsstaatlicher Normalität und Sekurität. Der Nazijurist Freisler hätte niemals in Friedenszeiten die staats- und ideologietragende Militär-, Partei- oder Diplomatenelite des ›Dritten Reichs‹ »wie tollwütige Hunde allesamt erschießen« (Wyschinski, S. 543) lassen können.

3.

Zu all den schrecklichen Ereignissen in den Bloodlands – der Jeshowshina (1936/38), dem Molotow-Ribbentrop-Pakt, der nazistischen Endlösung (Holocaust), dem Antisemitismus als ›Volksfrömmigkeit‹ in den Bloodlands und bei Stalin nach dem Krieg – gibt es inzwischen international je eigene Standardwerke. Wo wollte unser Autor ein Forschungsdesiderat schließen?

Steffen Dietzsch

Literatur

DITTLOFF, FRITZ: Die Hungerkatastrophe in der Sowjetunion im Frühjahr 1933 und ihre Gründe, in: UdSSR, hrsg. v. A. Laubenheimer, Berlin /Leipzig 1936
FAST, GERHARD: Im Schatten des Todes, Versandbuchhandlung Wernigerode 1935, S. 64-68 u.
GRACQ, JULIEN: Der große Weg, Hanser Verlag München 1996
HEDELER, WLADISLAW: KARLAG. Das Karagandinsker›‚Besserungsarbeitslager‹ 1930-1959, Paderborn 2008
HEDELER, WLADISLAW / STARK, MEINHARD: Das Grab in der Steppe, Paderborn 2008
HERLING, GUSTAW: Welt ohne Erbarmen, Hanser Verlag München 2000
HERLING, GUSTAW: Tagebuch bei Nacht geschrieben, München 2000
KOPELEW, LEW: Und schuf mir einen Götzen, München 1981
LÖWY, A. G.: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht, Wien 1990
STALIN, IOSSIF W.: Vor Erfolgen von Schwindel befallen (in: Prawda, Nr. 60, v. 2. März 1930). Werke, Bd. 12, Berlin 1954
WYSCHINSKI, ANDREIJ J.: Gerichtsreden, Dietz Verlag Berlin 1951, S. 543 Das Sowjetdorf in Zahlen und Diagrammen 1917-1927, hrsg. v. Thomas Dombal u. Götz Kilian, Wien / Berlin 1928