Vorwort

Was opportun ist, misst sich an Zeit, Ort und Umständen. Dabei besitzen, wer wollte es leugnen, die Umstände ein gewisses Übergewicht. Zeit und Ort müssen sich fügen, sobald der Wille zum Handeln den Ton angibt und die Gelegenheit, wie die Sprache es nahelegt, sich ergibt. Eine ›Maßnahme‹ zum Beispiel ist an der Zeit, wenn die Verhältnisse sie entweder erfordern oder ›ihre Zeit gekommen ist‹. Handlungen, mit denen einer gebieterischen Not gesteuert wird, sind per se an der Zeit, gleichgültig, ob ihre Tauglichkeit außer Frage steht oder nicht. Gut oder schlecht, richtig oder falsch können sie dennoch sein. Dagegen ist eine unzeitige Maßnahme nicht allein falsch, sie bedient auch die falschen Parameter, sie geht an dem vorbei, was die Zeit fordert. ›Die Umstände sind nicht so‹ – wie sie sind, wie sie gewesen sind, dies zu wissen ist in der Regel das Privileg von Leuten, die den eingetretenen Schaden besichtigen. Sie haben den Überblick und besitzen den Vorteil, Ausgangsbedingungen und Handlungsfolgen korrelieren zu können, ohne damit den Unsicherheitsfaktor aus der Welt zu schaffen, der dem Handeln, jedem Handeln anhaftet. Manche Theorien historischer Abläufe bieten in diesem Licht wenig mehr als den Anblick eines rückwärtsgewandten, seiner Sache sicheren Opportunismus – diesseits oder jenseits des Handlungsdrucks weiß man es besser, aber nicht notwendig richtiger. Wer handelt, kann eine sich bietende Gelegenheit ergreifen, er kann sie auch, frei nach Clausewitz, suchen. Im zweiten Fall scheint ein vorhandener Wille darauf zu warten oder hinzusteuern, dass die Umstände sich seinen Inhalten fügen. Der Wille ist also bereits gegeben – ebenso wie das Konzept –: was aussteht, ist die realistische Chance oder auch nur die Möglichkeit, den einmal gefassten Gedanken planend und gestaltend umzusetzen. Nicht jedes Handeln, das eine Chance ergreift, ist opportun, sofern dabei an die Beistimmung aller oder einer Mehrheit oder auch nur einer gestalterischen Elite gedacht wird. Dem risikofreudigen Spieler genügt die bloße Aussicht auf Realisierung, er mobilisiert seine Möglichkeiten partiell gegen diejenigen, welche die Situation bereithält. Was leichtfertig erscheint, muss nicht leichtfertig gedacht sein: In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod. Im Idealfall gehen Güterabwägung und Risikoabwägung oder ‑berechnung Hand in Hand. Das muss keine ideale Beziehung sein.

›Zeitfenster‹ meint die Zeit, die für ein bestimmtes Ereignis, einen bestimmten Vorgang, eine bestimmte Aktion oder ein Aktionsbündel zur Verfügung steht. Jeder, der eine Straße überqueren will, ahnt, was damit gemeint ist. Der Zwang, der von gesetzten Parametern ausgeht, lenkt den Blick auf die setzenden Instanzen ebenso wie auf die systemischen Zusammenhänge, mit denen man es von Fall zu Fall zu tun hat. Biologische und Verwaltungsabläufe rücken hier eng zusammen: gemeinsam ergeben sie ein Weltmuster, das Büromenschen vor jeder Theorie vertraut vorkommt. Das ist cum grano salis gesagt, aber es öffnet den Blick auf das, was gerade ›geht‹ oder ›nicht geht‹. Im sozialen und politischen Feld gehört die Rede von sich öffnenden und schließenden Zeitfenstern zum begrifflich-rhetorischen Instrumentarium strategischen Denkens. Wer sich ihrer in der Öffentlichkeit bedient, der ist gewillt, eine Diskussion oder auch nur ein Zeitempfinden anzuschärfen, er spekuliert gleichsam auf den Risikogrund der menschlichen Existenz, der gewöhnlich sorgfältig bedeckt bleibt. Was in einer Legislaturperiode ›liegen bleibt‹, wird vielleicht in einer anderen ›behandelt‹ oder ›abgearbeitet‹. Das definierte Zeitfenster beendet diesen Schlendrian, es erzeugt einen das übliche Maß überschreitenden Termindruck: hat sich das Zeitfenster erst geschlossen, ist die Gelegenheit, vielleicht ein für allemal, vorbei – mit horrenden Folgekosten für alle, zumindest für die Betroffenen, wie jeder weiß oder mutmaßt.

Was daran richtig, was Kalkül ist, bleibt, als Kalkül, dem Publikum in der Regel verborgen. Dafür sorgt schon die Konkurrenz der Handelnden. Anders stellt sich die Situation einer Vormacht dar, die ihr Kalkül aufreizend zur Schau stellt, weil sie mit keinem ebenbürtigen Gegner rechnet. Doch das Problem reicht weiter: je monströser Pläne zur Umwälzung eines Weltzustandes klingen, desto gefahrloser lassen sie sich in der liberalen Öffentlichkeit ausbreiten. Ein Gedanke, der einmal in der Welt ist, kann von beliebigen Akteuren zu beliebigen Zeitpunkten aufgenommen und realisiert werden: wer möchte da mit dem unmaßgeblichen Verfasser eines Buches oder eines Aufsatzes hadern, der mittlerweile vielleicht längst gestorben ist und ›nicht im Traum‹ an eine Ausführung seiner Einfälle dachte – vor allem nicht an die faktisch unternommene? Der – potentielle – Akteur, der sich hinter der unverbindlichen Maske des Autors verbirgt, gehört zu den archetypischen Albträumen der Politik. Der bloße Gedanke bedarf dieses Zusammenhangs nicht: seine Zeit ist immer und nie, sie kommt, wenn sie kommt, sie kommt unter Umständen, die schwer oder gar nicht zu kalkulieren sind. Die Idee, dass alle Gedanken in der Welt sind, die ausreichen, die Welt zu zerstören, ebenso wie die Mittel, die zu ihrer Ausführung benötigt werden, bindet den Gedanken des Überlebens selbst an windows of opportunity: sie wird Ausdruck einer hysterischen, das Publikum fortwährend in seinen Lebensreflexen desorientierenden Öffentlichkeit.

Wer alle Zeit der Welt hat, kann warten, während derjenige, dessen Zeit, aus welchen Gründen auch immer, abläuft, ›in kürzeren Zeiträumen denkt‹. Das gilt für Großmächte, es gilt für Individuen. Es gilt in Bezug auf die Verfügbarkeit von Rohstoffen, auf die Projektion von Profit- und Umweltdaten in die nähere und fernere Zukunft und auf persönliche Heils- wie Unheilserwartungen. Es gilt in Bezug auf Machtträume, die sich auf hergebrachte oder auf künftig zu schaffende Verbundsysteme beziehen, und nicht zuletzt auf die Tätigkeit von Heilsbringern, die wissen, was der Menschheit frommt, weil sie den Auftrag dazu in der Tasche knistern hören. Es gilt auch für die Kunst und ihre Apologeten. Sie alle existieren zur gleichen Zeit, aber in unterschiedlichen Zeiten, teils nebeneinander, teils miteinander, teils aneinander vorbei, so wie Raum, Ökonomie und Mobilität es fügen, Gefangene ihrer Erwartungen und Prognosen. Sie alle ›denken sich ihren Teil‹ und halten das Denken der anderen, solange es sich halbwegs erfolgreich in den Köpfen hält, für eine Art Infektion, gegen die man sich zu schützen und die man mit geeigneten Mitteln zu bekämpfen hat. Das ultimative Mittel bleibt die physische oder soziale Eliminierung der Träger – eine verheerende Lockung für die allzu Mächtigen wie für die allzu Ohnmächtigen.


März 2010
Die Herausgeber