Gabi Rüth
Die Kästen des Herrn K. –
(K)eine Handreichung zu Thomas Körners Fragment vom Buch

1. Vor der Tür

Dieses Fragment ist anders. In jeder Beziehung. Es hat dem Autor eine Menge abverlangt (und die Arbeit ist nicht zu Ende) – nun ist der Leser gefragt. Wer in Thomas Körners ›Fragmentroman‹ Das Land aller Übel zu lesen beginnt, stellt nach wenigen Seiten fest, dass die gängigen Romankategorien hier außer Kraft gesetzt sind. In den bis heute teils gedruckten, teils im Internet veröffentlichten Teilen des Romans gibt es kein Thema im herkömmlichen Erzählsinn, keine Erzählstränge, keine handelnden Figuren, ebensowenig ein klar umrissenes Figurenensemble, das sich auflisten ließe. Es existiert ein Erzähler, ein Ich-Erzähler, aber nur im weitesten Sinn. Auch er fungiert nicht auf tradierte Weise. Er erzählt nicht, er ist Sammler, Sortierer, gewiefter Arrangeur. Sein Material besteht aus Beobachtungen, Zitaten, Schautafeln, Sottisen, Skizzen, Versen, Momentaufnahmen, Aperçus. Zweifellos ist es straff organisiert, komponiert nach Schemata, die sich im unmittelbaren Akt des Lesens wohl kaum erschließen. Das Fragment vom Buch schafft hier Abhilfe. Sein Erster Kasten Der schreibende Arbeiter oder Das Karteiprogramm ist ein Arbeitsbuch. Aus ihm geht hervor, dass es Thomas Körners Ziel ist, das neue buch zu kreieren, das zugleich eine neue art des lesens erfordert: buch ist raum (0295a). Diese Suchbewegung, das Tasten nach neuen Schreib- und Publikationsformen sowie nach einer neuen Weise der Rezeption zieht sich durch den gesamten Text und findet seine Auflösung, vielleicht auch Erlösung, in der vorliegenden Gestalt im Netz.

2. Die Statik

Mitte der 60er Jahre hat Thomas Körner sein Romanprojekt Das Land aller Übel in Angriff genommen. Auf neun Teile soll es irgendwann anwachsen. Bis heute liegen vor (im Netz): Fragment vom Wort, Fragment vom Mensch, Fragment vom Staat – das Fragment von der Weltanschauung ist unter dem Titel Das Grab des Novalis als gedrucktes Buch erschienen – und eben der Erste Kasten des Fragments vom Buch. Ein gigantisches Romankonstrukt, das Körner auf höchst ungewöhnliche Weise präsentiert: in Form von Karteikästen. Körner hat sich gänzlich von der linearen Erzählweise verabschiedet. Stattdessen schreibt er all das, was er für bewahrenswert hält, auf Karteikarten. Diese werden nummeriert, sorgsam in Karteikästen sortiert, Vor- und Rückseite erhalten eine akkurate Beschriftung. Eine Vorgehensweise, an der der Autor geradezu stoisch seit Jahrzehnten festhält und die an tief bürokratische Akte erinnert. So gesehen scheint sich das Romanprojekt formal jeder Modernität zu verweigern. Doch ist, was da entsteht, auf andere Weise innovativ: Ausfluss eines avantgardistischen Programms, das bis heute nicht eingeholt wurde.

Körner, ein Mann mit Juradiplom, hat Stücke für das Musiktheater geschrieben, zeitweise arbeitete er als Dramaturg am Hamburger Schauspielhaus. Daneben wuchs der Fragmentroman. Eine wahre Fleißarbeit – nicht nur in intellektueller Hinsicht. Bis heute schreibt Körner auf einer mechanischen Schreibmaschine, einem Schätzchen aus frühen DDR-Tagen, das die Mühen des Schreibens und Korrigierens mit einem charakteristischen, unverwechselbaren Schriftbild belohnt. Thomas Körner ist ein haptischer Mensch, eben ein Mann des Theaters, der kräftig in die Tasten greift, um die Bühne für den Leser zu bereiten:

sprache
theater des sprechens
text
theater der wörter

(0414)

733 Karteikarten enthält der erste Kasten des Fragments vom Buch. Stand 2010 wohlgemerkt. Den jährlichen kärtchenausstoß hat er schon in den 60ern garantiert und hält ihn bis heute ein. Seinen Part erledigt er mit Akribie, dann sind die Leser gefragt. Sie dürfen, ja sollen zugreifen, mal hier, mal dort. Sie sollen sich aus dem Kastensystem bedienen und gewissermaßen aus Körners Fragmenten einen eigenen Roman (weiter-)schreiben:

der interessierte leser od teilnehmer könnte nun gleichzeitig in meiner
oder eigener technik die kartei selbst ergänzen sie weitersammeln
verändern und er hätte die möglichkeit mit allen beteiligten in einen
austausch zu treten was eine art neuer buchgemeinschaft ergäbe eben
das buch

(0004b)

Wer sich also Thomas Körners Roman, wie soll man sagen, hingibt, ist gut beraten, einige tief im Hirn verankerte Vorstellungen hinter sich zu lassen und diesem ungewöhnlichen Konstrukt möglichst vorurteilsfrei zu begegnen. Der Gewinn ist beträchtlich. Freiwillig tritt der Leser in ein Labyrinth ein – mit der rasch wachsenden Gewissheit, den Weg nach draußen nicht mehr zu finden. Ariadne ist in Körners Konzept kein Part zugedacht. Doch erfordert das Betreten der kunstvoll verschlungenen Wege weniger Mut (es handelt sich schließlich um Fiktion) denn Neugier, Beharrlichkeit und eine gewisse Lust an der Irritation. Der Labyrinth-Vergleich ist mit Bedacht gewählt, denn Thomas Körners Vorstellungen von einem Roman sind räumlicher Natur. Ihm schwebt als paradiesische gesamtanlage (0711a) so etwas wie ein begehbares Buch vor, eine

mischform aus museum 
und archiv wodurch es zum gegenstand und ort
wird zu welchem hin man sich begibt es
aufsuchend betretend begreifend um damit
zu arbeiten also wirklich zu lesen

Das Buch, verstanden als architektonisches Gebilde, das neue Lese-Räume bereitstellt und in dem statt eines fassbaren Erzählers (das Körnersche Ich ist trügerisch) zwei post-Erzähler-Instanzen die Fäden in der Hand halten: der kommentarlose Realist und der barbarocke Kabarettist. Das klingt nach einem literarischen Wurf, wie ihn Michel Foucault in Was ist ein Autor? skizziert: in Frage steht die Öffnung eines Raumes, in dem das schreibende Subjekt immer wieder verschwindet und der Schriftsteller die Rolle des Toten im Schreib-Spiel übernimmt. Das trifft’s in mancher Hinsicht. Bisweilen meldet sich Körners Ich-Erzähler  zu Wort, doch keinesfalls in narrativer, Kohärenz erzeugender Funktion, sondern als Objekt, das es – wie alles andere auch – im Hinblick auf seine Verwobenheit im System zu analysieren gilt:

es gibt dinge die mich ›machen‹ <…>
diese dinge sind materiell und ideell
natürlich und künstlich 
sie sind einfach und zusammengesetzt <…>

(0019a)

3. Das Material

Vor den Eintritt hat Thomas Körner zwei sperrige Seiten gestellt, die es blätternd zu überwinden gilt: eine verwirrende Auflistung von Abkürzungen – von a für Akt, ab für Arbeitsbuch und wb für Wörterbuch bis hin zu AE (Arbeitseinheit). Von alr, additiv-linearen Reihen, ist zu lesen, von Paragraphen wie § I/1-16 (Produzieren) und § II/1-4 (Konsumieren). Die Kürzel BWZ (Bewußtseinszustand) und SV (Seinssachverhalte) lassen auf ein bevorstehendes satirisches Spiel mit philosophisch oder soziologisch verbrämtem (offiziellem DDR-)Jargon schließen. Dazwischen finden sich tröstliche Hinweise auf andere Felder literarischer Betätigung: § 0/0 für Novalis (Frag v d Weltanschauung). Und form E (Formularer Essay) lässt sich als erster Gruß an den von Körner sehr geschätzten Herrn Musil verstehen.

Diese Instruktionen verlangen dem Leser kein beckmesserisches Studium ab, eher augenzwinkernde Kenntnisnahme, die einen flotten Weitergang ermöglicht. Während man blätternd, lesend und denkend, Baupläne und Ordnungsschemata hinter sich lassend, tiefer in das Gebilde aus Wörtern eindringt, mal den (Ex)kursen des kommentarlosen realisten, mal denen des barbarocken kabarettisten folgend, die beide auf ihre Weise seinssachverhalte zu ergründen und zu beschreiben suchen, während man den sprachtheoretischen Ausblicken nachhängt, während man lachend über einem frechen Karteikartenspruch verharrt, schält sich allmählich Körners Kernthema heraus. Oberflächlich betrachtet geht es Körner um die Frage nach der Möglichkeit des Schreibens unter den Bedingungen der DDR. Doch das ist zu banal formuliert. Körner erkundet – am Beispiel der DDR und ihrer Bürger – die molekularen Strukturen einer Gesellschaft: der verstaatlichte mensch heißt / der FUNZE (0077). Diese Strukturen sucht er auf ästhetischer Ebene nachzubilden: der held ist das system. Und, möchte man hinzufügen, der bürokratische Wahnsinn sowie der aberwitzige Verwaltungsapparat der vakuole – Körners Synonym für die DDR.

Der fragmentarische Charakter ist in gewisser Weise dem Leben und somit buchstäblich der Zelle geschuldet, die sich mit anderen verbindet: Zellen verstanden als kleinste Bausteine des menschlichen Körpers, als Partikel zur Bildung des Bewusstseins, des Ichs oder auch als Glieder eines gesellschaftlichen Verbundes.

fragmentroman 
existenzroman
existenz ist fragment

(0667)

Körner unternimmt es, den wechselseitigen, bewussten und unbewussten, gewollten und oktroyierten Abhängigkeiten des soziokulturellen Verbundes mit Hilfe seiner Schreibweise Gestalt zu geben. Das heißt, er zergliedert nicht willkürlich ein kohärentes Ganzes, sondern beschreibt die Partikularitäten seiner Welt. Das führt zwangsläufig zur Absage an das lineare Erzählen. Hier fließt kein alles aufnehmender und sich einverleibender Textstrom. Stattdessen entsteht ein eckiges Textgebilde, vor dessen scharfen Kanten man sich hüten möge. Wenn Thomas Manns Bücher, wie Thomas Körner notiert, wie gut eingerichtete bürgerliche Salons wirken, dann ist Körners Fragment vom Buch eine Kerkerzelle: düster und karg. Allerdings auch überschaubar. Körner lotet die Position eines Schreibenden aus, der, eingelassen in dieses System, keine Chance einer Publikation besitzt, aber dennoch schreibt, weil er schreiben muss. Er sitzt fest in der Zelle. Das fragment vom buch ist das lesebild eines Ortes, der (auf den ersten Blick) jeder Kreativität abträglich ist, wobei der Schreibende Mitleid oder gar Selbstmitleid ob der Lebens- und Schreibumstände weit von sich weisen würde. Mit gutem Grund, wie sich zeigen lässt.

Körners Fragmentroman ist kein Fragment gebliebener Roman, der sich partout zu keinem Ende bequemen will oder über dessen Vollendung der Autor gestorben wäre. So geschehen bei vielen – bei Kafka, auch bei Musil. Thomas Körner hingegen lebt. Der Roman verfügt über ein klares, vom Autor gesetztes Ende. Fragmentarisch bleiben vielmehr die einzelnen Bauteile des Romans, seine Partikel. Die Folge der Karteiblätter in den Kästen ließe sich endlos weiter fortsetzen. Geht es nach dem Willen des Autors, so bleibt es nicht beim Konjunktiv, sondern die Leser legen – wie schon erwähnt – selbst mit Hand an, Produzent und Rezipienten im Schulterschluss, die Karteikästen füllend, den Roman (weiter) schreibend:

wennschondennschon
monsieur l’ensembleur

(0338)

Körner animiert zum munteren Ensemblieren. Dieser Kernbegriff des fragments vom buch umreißt das literarische Programm Körners: Ziel der Zergliederung, der Zerstückelung ist das Synthetisieren. Aus Vielheit soll Einheit entstehen, aus Diskontinuität Homogenität? Was ist diese neue Einheit wert? Markiert sie nicht mit ganzer Schärfe die Bruchkanten ihrer Teile? Entblößt der Akt des Ins-Verhältnis-Setzens nicht erst recht die wahnhaften und zwanghaften Ordnungsprinzipien, denen er sich verdankt? 

die ›dinge‹
zum mythos ensemblieren

(0025)

So formuliert Körner sein Ziel. Doch es entsteht keine mythische oder mythologische Erzählung, die von Generation zu Generation weitergegeben werden könnte, sondern, wie soll man sagen, eine Art Erlebnispark, in dem sich Autor und Leser immer auf Neue begegnen:

lesen als eine veranstaltung der freiheit

(0210)

Vielleicht gilt das auch fürs Schreiben.

4. Blick durchs Fenster

Körners Fragment vom Buch hat eine reale politische Dimension. Darauf deutet der Titel des Fragmentromans, Das Land aller Übel, ebenso wie der exakte Titel des Fragments: EGSS oder die Einheitskartei. System einer Lebensweise in fünf Karteikästen. Hinzu kommt, dass die Bausteine der Montagen Fragment vom Staat bzw. Fragment vom Wort u.a. aus Zitaten aus dem Gesetzblatt der DDR und der Tageszeitung Neues Deutschland  bestehen. Die lange Liste expliziter Bezüge legt eine politische resp. systemkritische Deutung nahe: Von der kopplung der schriftstellerarbeit mit dem produktionsprozess ist gleich in der Überschrift des Karteiblatts 0002 die Rede und das dauerthema, das Körner sich gewissermaßen selbst verordnet, lautet:

die arbeit der veraenderung einerseits
die paranoide verideologisierung andererseits

(0206)

Joachim Walther weist in einem Aufsatz Das »Archiv unterdrückter Literatur in der DDR« als mnemonisches Therapeutikum gegen die grassierende Diktatur-Amnesie Thomas Körner als treffsicheren Dekonstrukteur nicht nur der real existierenden DDR aus: Es ist eine General-Inventur der östlichen Teilwelt, eine literarische Dekonstruktion der staatstragenden, konkret genannten Utopie des Kommunismus, schreibt Walther zu den Fragmentromanen. Die pointierten kabarettistischen Verballhornungen offiziellen Sprachgebarens stärken diese Lesart. Bei Körner darf nicht nur, es muss gelacht werden. Das macht Lese-Laune und ist zudem, glaubt man Michail M. Bachtin, ein Indiz für Widerständigkeit: ein Rest mittelalterlichen karnevalistischen Treibens, das er als Rebellion gegen die Machthaber, als Ausdruck (ansonsten) Ohnmächtiger deutet, in der Form des abstoßend Komischen, in der Form umgestülpter Symbole der Macht und Gewalt, in den komischen Gestaltungen des Todes, in der fröhlichen Zerstückelung. Alles Bedrohliche wird ins Komische gekehrt. Bachtins Lachgestalten finden sich auch bei Körner. Ein weiteres Wortspiel scheint diesen Interpretationsweg zu untermauern: Nur ein Buchstabe muss getauscht werden, schon wird aus dem das Karteiprogramm das Parteiprogramm, aus dem Kartei- ein Parteimitglied, aus der Kartei- die Parteiführung. Doch Vorsicht: Wer dieser von Körner so mundgerecht dargebotenen Lesart vorschnell verfällt, sitzt einem Trugschluss auf. Das Fragment vom Buch – wie auch seine Pendants – sind nicht als reine Literatur des Widerstandes zu sehen. Da schreibt ein Autor nicht (oder nicht nur) gegen ein System an, sondern gewissermaßen mit einem System. Körner nutzt das System der DDR, nutzt seine bürokratischen Auswüchse, den Verordnungswahn, die offiziellen Phrasen, den kleinbürgerlichen Wahnwitz – nutzt die staatlichen Offenbarungen und Selbstentblößungen als Ausgangsmaterial. Anders formuliert: Er braucht die DDR, sie liefert den Stoff und das Material, die Schreibmaschine, die Karteikarten, die Schablonen, die Regelwerke, die Formulare und die Form für seine Notate gleich mit. Und so ist Das Land aller Übel Gift und Gegengift zugleich:

mein stoff
die sechziger Jahre
sind ganz und gar poetischer stoff geworden
real existiert davon fast nichts mehr

(0200)

5. Das Fundament

Körner ist ein Schriftsteller, der einen Transformationsprozess in Gang setzt, an dessen Ende lesebilder entstehen. So lässt es sich zusammenfassend festhalten. Sie sind noch in der biologischen, soziologischen, ökonomischen Realität verortet, zugleich emanzipieren sie sich, vielleicht vergleichbar mit Piranesis Zyklus Carceri d’Invenzione. Die Radierungen spiegeln gewiss Aspekte realer Kerkerwelten, sind aber zugleich phantastische Entwürfe (und nebenbei Ideenquelle für die Opernbühnenbildner): Imaginationen, die über einen eigenen Assoziationsraum verfügen, der die Realität weit übersteigt. Körner bildet ein autopoietisches System ab – im Sinn Luhmanns und seiner Art, den biologischen Begriff auf soziologische bzw. gesellschaftspolitische Verhältnisse anzuwenden. Das Ergebnis dieses Prozesses ist ein Kunstraum, der einerseits repräsentierenden Charakter hat, insofern er der paranoiden willkürlichen Abgetrenntheit des Lebensraums Rechnung trägt, aus dem er stammt, der andererseits die schiere Selbstbezüglichkeit dieses Lebensraums bricht und verwandelt. So verstanden ist Körner mehr ein Rekonstrukteur als ein Dekonstrukteur. Und zudem ein Vivisecteur.

Nicht ohne einen Anflug von Koketterie, die er sich selbst bescheinigt, notiert Robert Musil in Heft 4 seines Tagebuchs: monsieur le vivisecteur – ich! Mein Leben: – Die Abenteuer und Irrfahrten eines seelischen Vivisectors zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts! Was ist ein m.l.v.? Vielleicht der Typus des kommenden Gehirnmenschen – vielleicht? Thomas Körner ist ein solcher Gehirnmensch, der sich der Vivisektion eines Staats- und Lebenssystems verschrieben hat. Paradoxerweise ist es die Sektion, also die Zergliederung des (Staats-)Körpers, die die Konservierung als Ganzes gewährleistet. Körners Ziel ist es, theoretische literatur zu schreiben:

theoretische literatur
ist konsequent so nonverbal
wie ihre umgebung
nur ohne deren analfabetismus

(0322)

Für Körner sind Kunst und Theorie kein Gegensatzpaar. Vielmehr gehen sie in den formularen essays, die er wiederholt als Königsweg propagiert, auf. Das Statische, die Starrheit eines Rasters, das Formularhafte, wird bei ihm durch die Beweglichkeit und Lebendigkeit des Inhalts gebrochen. Zudem treibt Körner sein ironisches Spiel mit dem Formular selbst. Musil schreibt (Heft 25): So wie ein schlechter Mensch mit fremdem Geld kühner spekuliert als mit eigenem, will ich meinen Gedanken auch über die Grenze dessen nachhängen, was ich unter allen Umständen verantworten könnte; das nenne ich Essay, Versuch. Das sind die Beschreibungen, an denen Körner seine Freude hat. Sie treffen die innovative Konzeption seiner Kastenromane, die nicht nur formal, sondern auch inhaltlich über Grenzen gehen. Apropos Grenze: Ende 1979 bot sich Thomas Körner eine Gelegenheit zur Flucht aus der DDR. Er nutzte sie – behielt aber die kontinuierliche Karteikastenarbeit bei. Die gravierende Zäsur ist im fragment vom buch kaum spürbar. Es ist, als sei der (System)-Wechsel ohne Relevanz, als sei die prinzipielle, strukturelle Problematik, an der Körner interessiert ist, nicht ortsgebunden.

Das fragment vom buch spricht also für sich. Weiter spricht es über sich hinaus in einen intertextuellen Zusammenhang, den Körner wiederholt freilegt: quellen / für die theoretische literatur bei musil / für die utopie vom leser bei schmidt. Mit beiden verbindet Körner die Auffassung, dass Kunst nicht Beiwerk zum Leben, sondern eine Form zu leben, eine menschliche Betätigung sei. Schreiben ist Existenz. Die sprachexperimentellen Exkurse Körners, z.B. das spielerische Ausloten der Möglichkeiten von Sprachlücken, erinnern an Arno Schmidt:

die führende rolle der
parteiundihresruhmvollenleninistischenz  kle  b  e  -  OCH
die lücke ist schon satire durch ihre artikulation als gedankenstrich

(0278a)

Beide verbindet eine ungewöhnliche Neigung zu formalen Strukturen. Schmidts Entwurf einer neuen siebenstelligen Logarithmentafel, die er in einem Brief (veröffentlicht in Arno Schmidts Wundertüte) dem Herrn Professor Doktor K. Bremiker vom Geodätischen Institut mit Verweis auf die bahnbrechende Einführung von sigma und tau sowie den neuen horizontalen Proportionalteilen andient, findet in Körners Faszination für vertikale und horizontale Reihungen einen Widerhall. Gemein ist beiden das kluge Spiel mit Skurrilitäten. In ihnen offenbart sich etwas über die Welt, was man weder der Welt noch den Ausdrucksformen zugetraut hätte. Plötzlich lauert es überall, das berechenbar Unberechenbare. 

6. Die Ansicht

würde man nun diese karteikarten nicht auf papier drucken sondern in
computern speichern und den verbund der beteiligten zum beispiel über
kabelfernsehen herstellen hätte man fürs elektronische
medium eine buchvision

(0004b)

Körners Zeilen aus dem Jahr 1969 haben sich als visionär erwiesen. Traditionelle Möglichkeiten des Buchverlegens waren und sind angesichts seiner prall gefüllten Karteikästen zum Scheitern verurteilt. Ein buchstäblicher Nachbau seines Romans (welch reizvolle Idee!) im Sinn eines begehbaren Buches ist bis heute nicht zustande gekommen. Das ist bedauerlich und verwunderlich, schließlich hat Kafkas Hinrichtungsapparat auch den Weg auf die Bühne gefunden. Die (vorläufige?) Lösung liegt im Netz. Das Internet liefert den nötigen Spielraum zur Präsentation. In der Simulation der Karten und Kästen, in der Möglichkeit, per Mausklick vor- und zurückzublättern, die Karten neu zu formieren, in dieser medialen Möglichkeit der aktiven Gestaltung, geht zumindest ein Stück weit der Wunsch nach einer neuen Sorte buchdeckel auf:

das neue buch
buchdeckel eins ist ein flüssigkristallbildschirm
buchdeckel zwei ist ein personalcomputer
mit schreibmaschinenfunktion

(0382)

So betrachtet, schreibt Körner in seinem Karteiprogramm auch ein Stück Mediengeschichte. Was der  Leser demonstriert bekommt, ist allerdings weniger die reale Entwicklung der neuen Medien als vielmehr ihre phantastische Begleitung im Kopf des Schriftstellers, dessen Werk in seiner Schreibgestalt von Anfang an über die gedruckte Buchform hinausdrängt. Die technischen Innovationen geben Anlass zu Spekulationen, die vor allem dort reizvoll erscheinen, wo sie bereits wieder einer versunkenen Zeit anzugehören scheinen. Insofern gilt auch für sie, dass sie ganz und gar poetischer stoff geworden sind. Es ist dieser Stoff, der neue Formen generiert.

 

Thomas Körner: Das Land aller Übel. Fragmentroman. In: Acta Litterarum, 2009ff.