Stephan Köhler
Georges Adéagbos Installationen –
ein Labor der Begegnungen

Rien ne sert de courir – il faut partir au point
(Rennen hilft nicht – man muss rechtzeitig loslaufen…)
Untertitel von La Fontaines Fabel Der Hase und die Schildkröte

Auf einer mannshohen Trommel mit zerrissener Membrane liegt ein Taschenbuch über Joseph Beuys. Daneben ein rosa Kinderschlüpfer. Auf der Kante des verwitterten und von Insekten benagten Holzes lehnt gegen die weiße Wand des Ausstellungsraumes ein Buch mit dem Titel: Steppentage-Dschungelnächte. Sein glänzender Umschlag zeigt ein Foto von einem mit Lendenschurz bekleideten Afrikaner, der auf eine Trommel schlägt, ähnlich der, auf der das Buch steht. Eine zerknüllte Lucky-Strike-Zigarettenschachtel kommentiert die Konstellation.

In einem alten Fischerboot, das die Hälfte der Längsachse des Raumes einnimmt, liegen Bücher, viele Bücher, wie Kai in Kamerun oder Erlebtes und Erlauschtes aus dem Inneren Afrikas. Das größte unter ihnen, ein archäologischer Bildband Tutanchamun mit einem Foto seiner Büste auf dem Cover, steht auf der für Ruderer bestimmten horizontalen Sitzplanke. Ein angeschlagenes Emailschild mit rostigen Rissen »Eisabgabe nur auf Anweisung vom Versand« sitzt weiter hinten zwischen den Büchern mitten im Boot.
Auf einem Vorsprung des Bugs steht eine kleine helle Figur aus Holz. Darunter klemmt ein zerbeultes Nummernschild: »P KS CW 443.«

Abb.1 Kassel 2002

Zahlreiche Bilder, grob gezählt um die sechzig Stück, geben dem großen Raum einen Grundrhythmus. Sie sind alle im gleichen Format, wie Poster mittlerer Größe, und alle von der gleichen Hand gemalt. Sie sind in zwei Ebenen versetzt aufgehängt, so dass sich der Ansatz von einem Schachbrettmuster ergibt. Die Bilder sind alle mit »Esprit« signiert, wohl ein Maler, der sich von der Modemarke zu seinem Alias inspirieren ließ. Eines von ihnen stellt einer Epitaph ähnlichen, steifen, aber sorgfältig eingesetzten Legende, Arnold Bode, den Gründer der Documenta in Kassel dar. Ein anderes Bild, ausnahmsweise quadratisches, den Boxer Muhammad Ali. Das Format und der Text verraten, dass es sich um die Kopie eines Filmmusik-Plattenumschlags handelt. Links und rechts davon hängen in ähnlichen Rot- und Orange-Tönen mit Pailletten bestickte Beinschoner und darüber ein etwa vier Quadratmeter großes Textilobjekt, karminrot mit eingesetzten türkisblauen Teilen. Ein Gazefensterchen, nur 20 x 15 cm groß in der Mitte, lässt vermuten, dass das Ganze als Kostüm getragen wird.

Abb.2 Detail-Kassel 2002

Vor dem Boot liegt ein verrosteter und muschelverkrusteter Anker, wohl eine Tonne schwer. Auf dem empor gestreckten Arm mit Kugelfaust hängt eine Matrosenmütze. Zwei blaue Bänder pendeln von dieser herunter, von dem eines eine goldene, ankerförmige Anstecknadel trägt. Vor dieser Zusammenstellung liegen zwei Teppiche, deren Muster schwer zu erkennen sind, da sie als Grundlage einer weiteren Bücher- und Zeitschriftenschau dient. Hier sind einige Titel über die Stadt Kassel und Seefahrt bzw. Navigation zu finden. Die Aneinanderreihung der Drucksachen, auch entlang der Wände, wie zum Beispiel in sequentieller Folge leicht lesbare Photokopien aus einem Buch über Das Leben Christi, wird unterbrochen von handgeschriebenen Texten auf A 4-Bögen – alle auf Französisch in einer altmodischen, schönen, lesbar geführten Schrift.

»Ma personne de Georges Adéagbo n’est pas artiste: c’est l’art qui fait l’artiste..!« »Il faut faire, et laisser les autres venir voir ce que tu as fait, et parler de ce que tu as fait: C’est l’art qui fait l’artiste (L’art est dans la nature) ce n’est pas l’artiste qui fait l’art..!« steht auf einem von ihnen. Der Autor dieser Arbeit, »Meine Person Georges Adéagbo«, betrachtet sich nicht als Künstler. Vielmehr sagt er: Die Kunst macht den Künstler. Man muss etwas machen, und dann die anderen schauen lassen, was du gemacht hast, und von dem sprechen was du gemacht hast. Es ist die Kunst, die den Künstler macht. (Kunst ist in der Natur) es ist nicht der Künstler, der Kunst macht.

Auch auf den Wänden tauchen Adéagbos Handschriften auf. Mit Reißzwecken an allen vier Ecken befestigt. Die Texte des Künstlers beinhalten viele Selbstverständlichkeiten, die zudem noch auf einem Blatt mehrmals wiederholt werden: überflüssige Informationen, wie »Paris-France« oder »Kassel-Allemagne«. Das weiß doch jeder, und es einmal zu sagen, reicht doch eigentlich. Warum diese Redundanz? Die Flut der Worte mit ihren richtungsgebundenen Erzählungen – die Texte, in gedruckter Form wie auch handgeschrieben, wird ausgeglichen durch dreidimensionale Objekte – zahlreichen hölzernen Statuen und Masken, aber auch kitschigem Nippes aus Plastik und Gips, die auf andere Weise eine Geschichte erzählen. (Eine Statue aus glattem glänzendem Holz spaltet sich schulteraufwärts in zwei Menschen, zwei Hälse und zwei Köpfe – vielleicht einer, der Text verarbeitet, der andere Form. Vor den drei Beinen ruht ein hellgelbes Buch Brüder Grimm. Die Y-Form der zwei Hälse wiederholt sich in der Verzweigung am oberen Ende zweier mannshoher Stämmen, deren grob gehauene Stufen verraten, dass es sich um rudimentäre Leitern handeln müsste.

Herausragend vier geschnitzte Totempfähle, welche alle gut zwei Meter hoch sind und die Eckpunkte eines imaginären Rechteckes um das Fischerboot markieren. Sie bestehen aus hellem, frisch geschnittenen Stämmen und sehen daher neu aus im Vergleich zu den vielen dunklen Statuen und Masken. Die zahlreichen filigranen Darstellungen entsprechen keinem traditionellen Motivrepertoire: Szenen der Entdecker und Kolonialgeschichte, Wappen, aber auch Bilder des Zeitgeschehens sind zu sehen: z.B. weinende Verwandte von Opfern des 11. Septembers.

Die zahlreichen Objekte liegen nicht richtungslos umher, sondern kristallisieren sich symmetrisch entlang deutlich erkennbarer Achsen. So, wie Eisenspäne auf einem Blatt Papier, unter dem ein Magnet liegt, Kraftlinien folgen: In dieser Installation wird das Boot in der Mitte des Raumes mit den in regelmäßigen Abständen aufgestellten Bildsäulen zur Achse, an der Verzweigungen ansetzen, die verschiedene Objekte andocken lassen. Es finden sich altarartige Verdichtungen in der Mitte der zwei Stirnwände. Zwischen dem Boot und seinen Beibooten, den Totempfählen und belegten Teppichen und den Wänden gibt es genug Platz nur für ein dutzend Personen, frei zu schlendern, zu verweilen und zu entdecken. Eine Richtung ist nicht vorgegeben. Während der Ausstellung entstand daher vor diesem Raum eine Schlange.

An den beiden Eingängen zu dem in der ehemaligen Binding Brauerei konstruierten Saal steht jeweils ein Schild mit dem Titel: »›L’explorateur et les explorateurs devant l’histoire de l’exploration‹..! – Le théâtre du monde..!« und dem Namen des Künstlers. Dieser Raum beherbergt den Documenta 11-Beitrag von Georges Adéagbo. Nach einer langwierigen Behandlung gegen gefährliche Termitenarten, wurde die Installation vom Museum Ludwig in Köln auf Wunsch des Direktors Kasper König angekauft. Adéagbo ergänzte die Arbeit mit zahlreichen neuen Elementen, einige bezogen sich auf Köln, und baute das Werk im größten Raum des Museums (16 x 19 m mit ca 12 m hohen Wänden, im Verhältnis zu etwa 14 x 9 x 6 m wesentlich größer als der Documenta-Raum), 2004 wieder auf. Diese Arbeit stand im Zentrum von Kerstin Schankweilers Dissertation über Adéagbo, die sie 2008 abschloss, und auf die ich später zurückkommen werde: Le théâtre du monde..! Ortsspezifik und Kulturtransfer in den Installationen von Georges Adéagbo.

Schon seit Anfang der siebziger Jahre legt Adéagbo Dinge mit seinen handgeschriebenen Texten in ausgedehnten Netzwerken in dem Hof des Familienhauses aus. Damals wie heute war es ein tägliches Ritual, nur wusste damals niemand, weder Adéagbo noch die Familie oder Nachbarn, dass diese komplexen Netzwerke aus – von Außenstehenden als ›Müll‹ betrachteten – Objekten eines Tages in Museen, öffentlichen Plätzen, und Galerien als ›Kunst‹, sogar ›afrikanische Gegenwartskunst‹ oder ›wichtige postkoloniale Position‹ betrachtet werden würden.

Adéagbo wurde 1942 in der Küstenstadt Ouidah in Dahomey (Name von Benin bis 1976) geboren. Sein Vater erhielt als Veteran der französischen Marine einen Verwaltungsposten bei der Eisenbahn und war so gut abgesichert, dass er drei Ehefrauen und Familien unterhalten konnte. Adéagbo studierte in den späten sechziger Jahren Jura und Betriebswirtschaft in Abidjan-Elfenbeinküste und Rouen-Frankreich. Während dieser Studienzeit interessierte er sich nicht für Kunst, sondern machte mit Erfolg Praktika bei großen französischen Konzernen, die ihn nach seinem Studium fest angestellt hätten. 1971 wurde er von seiner Familie zurückgerufen, um als Ältester von elf Geschwistern die Rolle des Clan-chefs an Stelle des verstorbenen Vaters zu übernehmen. Da er den unvernünftigen Umgang seiner Mutter und zahlreichen Geschwister mit dem beträchtlichen Erbe kritisierte, wurde er als in-Europa-verrückt-Gewordener von seiner eigenen Familie geächtet und, obwohl im gleichen Haus lebend, als Fremder und Minderwertiger behandelt. Niemand sprach mit ihm. Nach einem Fluchtversuch wurde sein Pass vernichtet, also konnte er nicht nach Frankreich zurückkehren, um sein Studium abzuschließen und sich zu seinem Nutzen und letztendlich sogar dem der Familie, zu qualifizieren. Er begann aus Einsamkeit, Texte zu schreiben und neben die gefundenen Objekte zu legen, um mit seinen »Nächsten« und Nachbarn über die Verkettung von Handlungen und ihren Folgen, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu sprechen. Nach dem Tod seiner Mutter 1973 wurden alle Zimmer um den Hof vermietet, Adéagbo zog in einen Wellblechschuppen und bekam die Hälfte der Mieteinahmen seines Zimmers, 25 französische Francs im Monat. Durch vorsichtiges Wirtschaften konnte er sich sogar ab und zu ein Buch leisten, welches eine Schlüsselrolle in seinen Welten am Boden einnahm.

Die immer größer werdenden Netzwerke von Dingen und handgeschriebenen Texten, die sich im Familienhof ausbreiteten, waren den Geschwistern und Mietern ein Dorn im Auge und eine Stolperfalle. Diese freie Fläche ist traditionell in Benin vom einzigen Tor zur Strasse der Zugang zu mehreren einzeln vermieteten Räumen, die sich entlang der Außenmauern aneinanderreihen. Adéagbos tägliche Praxis führte dazu, dass er von seinen Nächsten als verrückt erklärt wurde. Achtmal sperrten ihn seine Brüder und Halbbrüder in die geschlossene Abteilung der berüchtigten psychiatrischen Klinik »Jacquot« am Rand der Millionenstadt Cotonou. In seiner Abwesenheit wurden seine Sammlungen drastisch reduziert und seine Anteile an den Mieteinahmen nicht für ihn aufgespart. Die von Adéagbo geschilderten Episoden aus einer menschenunwürdigen Anstalt, in der viele nicht aus Versehen um ihren Verstand und ihr Leben gebracht wurden, verdienen ein eigenes Buch oder eigenen Film. Adéagbo spricht davon regelmäßig in den Texten seiner Installationen.

Er hat die harte Zeit, etwa 23 Jahre, überlebt; mager und vereinsamt. Im Zuge der umstrittenen Ausstellung »Les Magiciens de la Terre« (1989, Paris, Centre Pompidou und Grand Hall de la Vilette, kuratiert von Jean-Hubert Martin mit Hilfe eines Teams von sechs Personen, darunter André Magnin) verstärkte sich das Interesse an ungewöhnlichen Kreationen aus außereuropäischen Ländern, insbesondere West-Afrika; es wurde sogar von Europäern der Begriff ›Contemporary African Art‹ geprägt. Es entstand ein Markt und es entstanden Sammlungen von Werken in dieser neuen Kunstkategorie. Einer dieser Sammler, der in Genf lebende Jean Pigozzi, beschäftigte den Kurator André Magnin als Direktor für seine Kollektion. Dieser entsandte wiederum Jean-Michel Rousset als Kundschafter 1993 nach Benin, um einen Maler namens Zinsou zu besuchen. Rousset stolperte aber durch Zufall, angeblich durch ein Missverständnis des Taxifahrers, in den Hof und somit direkt in eine Installation von Adéagbo. Er war fasziniert von Adéagbos Komposition mit Büchern, Texten, Kleidern und Masken über die Geschichte Frankreichs und insbesondere das Leben von Napoleon. Rousset erkannte sofort dieses Netzwerk als ungewöhnliche künstlerische Praxis, Wissen und Gedanken zu organisieren und mit Gegenständen und Texten darzustellen. Seine Fotos interessierten seine Arbeitgeber Magnin und Pigozzi nicht, da die losen Objektketten ihnen als Werk schwer zu handhaben erschienen. Rousset gab nicht auf und zeigte seine Fotos Regine Cuzin, einer unabhängigen Kuratorin in Paris, die damals eine Gruppenausstellung »La Route de l’Art sur la Route de l’ Esclave« vorbereitete (erste Station: Saline Royale d’Arc-et-Senans, Doubs bei Bésancon). So wurde Georges Adéagbo 1994 das erste Mal zu einer Ausstellung eingeladen und kehrte nach 23 Jahren nach Europa zurück, diesmal als ›Künstler‹.

Gut vernetzte Kuratoren wie Okwui Enwezor, Jean-Hubert Martin, Adelina von Fürstenberg und andere hatten »L’archéologie«, seine erste ausgestellte Installation, gesehen, oder Berichte darüber gelesen, waren daraufhin bewegt und neugierig, ihm und seinem Werk neue Gelegenheiten zu geben, sich zu entfalten. So ergaben sich weitere Einladungen zu thematischen Projekten, zum Beispiel »Dialogues de Paix« im Palais der Vereinten Nationen – Genf, 1995, »Big City« in der Serpentine Gallery – London 1995, »African Art towards the Year 2000« in Round Tower – Kopenhagen 1996 und schließlich die Johannesburg Biennale von Enwezor 1997 (siehe www.jointadventures.org).

Mit dem Eintritt des Kunst-Kundschafters Rousset in den Hof der Adéagbos und vor allem dem Akt des Fotografiert-Werdens wandelte sich die Einstellung der Mitbewohner und Angehörigen zu dem sonderbaren Familienmitglied Georges. Diejenigen, die ihn früher schikanierten und gefesselt in die Klinik brachten, baten zunächst um Mitbringsel, dann um finanzielle Unterstützung. Ich lernte Adéagbo 1998 in Sao Paolo kennen, als er für die Biennale, geleitet von Paulo Herkenhoff, die Installation »Le canibalisme« in situ komponierte und aufbaute. Nach dieser ersten Begegnung mit Werk und Künstler kam mir spontan die Idee, Adéagbo während der Eröffnung der 48sten Biennale zu einem orts-spezifischen Eintages-Projekt in Venedig einzuladen, auf dem Campo Arsenale, dem Eingang zur Marine, Machtzentrum der Serenissima über den Mittelmeerraum.

Abb. 3 Venedig Biennale 1999
Abb. 4 Venedig Biennale 1999

Das anfänglich privat geplante Projekt wurde durch eine Einladung von Harald Szeemann im letzten Moment zu einem offiziellen Teil der Biennale, ein Umstand, der dazu führte, dass Adéagbo von der Jury als erstem Künstler aus Afrika ein Preis der Biennale verliehen wurde. Seitdem arbeite ich regelmäßig mit Adéagbo. Meine Rolle ist schwer zu umschreiben – persönlicher Kurator, manchmal Co-Autor, Recherchehilfe, Archivleiter, Produktionsleiter, Übersetzer in verschiedenen Aspekten und Richtungen und nicht in Kategorien zu fassender Unterstützer.

Ich habe mir erlaubt, dieses kontrastreiche und etwas mit-reißerische Portrait von Adéagbo als Einführung zu zeichnen, um auf die Probleme und Fallen hinzuweisen, die dem über Adéagbo Schreibenden begegnen können. Zum anderen versuche ich, eine Beziehung zum Thema ›Zeitfenster‹ herzustellen. Vor lauter Faszination angesichts von Leben und Werk Adéagbos vergisst man leicht, eine Quellenkritik vorzunehmen.

Ich zögerte bisher, über Adéagbo zu schreiben, da ich nicht nur in die Produktionen und die Aufbauten involviert bin, sondern auch das Auf und Ab des Alltagslebens, Freuden und Enttäuschungen von Adéagbo miterlebe. Daher glaubte ich lange, nicht objektiv und unbefangen, also ›wissenschaftlich‹ über Adéagbo arbeiten zu können. Schankweilers Gedanken zur offen dargelegten Subjektivität und präzisen Situierung bzw. Markierung der Position des Autors haben mich ermutigt, meine Erlebnisse, Beobachtungen und Eindrücke mitzuteilen. Wie sie in der Einführung zu ihrer Dissertation argumentiert, ist die unverhüllte Präsenz des Beobachters und des Autors durch die »Ich-Form« die einzige Art, die durch den Gebrauch der anscheinend neutralen »Man-Form« geschaffene Pseudo-Objektivität und dadurch herbeigeführte latenten Verzerrungen, zu vermeiden. (Schankweiler, S.12) Im Sinne des ethnologischen Konzepts des »teilnehmenden Beobachters« (S. 23, sie leitet mit diesem Begriff die Beschreibung eines einmonatigen Beninbesuch 2003 ein) bin ich seit 1999 mit kleinen Unterbrechungen im Umfeld Adéagbo in Benin, aber auch auf Ausstellungsreisen, Beobachter und beteiligter Akteur. Ich beziehe mich im Folgenden auf meine Tagebuchaufzeichnungen, die 1999 beginnen (UTSK = unveröffentlichtes Tagebuch Stephan Köhler), auf meine Produktionsprotokolle (UPPSK), die ich fast für jede Ausstellung während der Recherche-Produktions- und Aufbauphase geschrieben habe, auf Inventarlisten, die ich für jedes Werk anlege (UIL) sowie auf Texte von KunsthistorkerInnen über Adéagbo bzw. solche, in denen er erwähnt wird.

Wie in einem Oral History Interview bin ich auf die Angaben von Georges Adéagbo angewiesen, wenn es darum geht, seine Studienzeit in Frankreich und die Beziehung zu seiner Familie zu rekonstruieren. Es könnten Dinge geschehen sein, an die er sich nicht erinnert, aber auch solche, die er nicht erzählen kann oder will. Es wäre zu leicht, die Geschwister pauschal als Sadisten, böswillige, gierige Menschen abzustempeln, ohne ihre Erlebnisse gehört zu haben. Zahlreiche Berichte aus der Kunstwelt, in denen Adéagbo sich von KunstvermittlerInnen als betrogen, belogen und übergangen beschreibt, können stimmen, andererseits auch in ihrer Summe und seiner passionierten Beschreibungsart ein Indikator für eine Opferkultur sein, die er meines Erachtens ohne Zweifel pflegt. Obwohl ich einigen von diesen Personen aus der Kunstwelt auf Vernissagen und während Aufbauten begegnet bin, habe ich es nicht gewagt, sie mit den von Adéagbo erzählten Vorwürfen zu konfrontieren.

Wie dem auch sei, ich arbeite mit den Informationen, die Adéagbo mir seit Jahren in seiner Selbstdarstellung in Gesprächen und seinen Installationen vermittelt, ohne genau nachzeichnen zu wollen, wo die Grenze zur Fiktion und Mythos verläuft. Zu versuchen, Fakten von Erfindungen oder Übertreibungen zu trennen, eine korrekte Biographie von Adéagbo mit ihm als Hauptquelle zu konstruieren, scheint mir in diesem Fall sinnlos. Adéagbo hat als Grundlage ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und erinnert sich sehr gut an Namen, Daten und visuelle Details. Aus den fast identischen Wiederholungen, die ich seit 1999 hörte, kann ich schließen, dass er einem Rhapsoden oder Griot ähnlich ein Standardrepertoire hat: Zum einen Episoden aus seinem Leben, zum anderen Fabeln mit moralischen Botschaften, die wahrscheinlich, was ich noch nicht nachprüfen konnte, zu einem bestimmten Grad aus dem kollektiven westafrikanischen Erzählungsschatz stammen. All diese teilt er großzügig mit Besuchern, oft mehrere Stunden am Tag. Die Selbstdarstellung und Inszenierung seiner Vergangenheit in Gesprächen und Texten ist meines Erachtens als Teil seines Mythos, und dieser als Teil seines Werkes anzusehen.

Es ist in diesem Rahmen prinzipiell nicht möglich und vor allem nicht nötig zu versuchen, alle Facetten von Adéagbos Vorgehensweisen und die Aufnahme seines Werkes darzustellen. Ich treffe eine Auswahl, und werde am Ende auf die noch auszulotenden Gebiete hinweisen. Da die Beschreibungen von Adéagbos orts-spezifischer Produktionspraxis und die Beschreibungen der Reaktionen verschiedener Publikumsgruppen auf seine Werke sich gegenseitig ergänzen, möchte ich sie in diesem Essay nicht voneinander trennen.

Die Installationen von Adéagbo verwirren oft das Ausstellungspublikum durch die Fülle und Heterogenität der Objekte. Sie enttäuschen diejenigen, die sich vom Ursprung des Künstlers her ein exotisches Erlebnis des ›Anderen‹ erwarten. Aus Zeitungskritiken, wissenschaftlichen Texten und Gesprächen konnte ich entnehmen, dass Adéagbos Arbeitsweise die durch den postkolonialen Diskurs Sensibilisierten anspricht und intellektuell kitzelt. Er macht genau das nicht, was viele von einem ›afrikanischen Künstler‹ erwarten: Adéagbo denunziert Sehnsüchte nach Exotischem, indem er den Konsum der ›fremden‹ Objekte durch Vernetzung mit Gegenständen aus dem Alltagsleben des jeweiligen Ausstellungsortes versalzt. Adéagbo verwickelt durch seine verwirrenden Arrangements aus Gegenständen diverser Herkunft die Betrachter in eine beständige Hinterfragung des Eigenen und des Fremden. Die festgesetzte Rollenverteilung ›Entdecker‹ und ›Entdeckte‹ geht bei ihm verloren. Alles kann exotisch sein, auch ein angeknabberter verloren gegangener Schnuller oder ein liegen gelassener Schirm, es kommt nur auf die Perspektive an.

Abb.5 Gefundener Schirm see history
Kunsthalle Kiel

Durch die Aufnahme von Alltagsobjekten des Ausstellungsortes in den Kontext eines lokalen Museums, in den sie nie ohne den Auswahlakt Adéagbos gelangen würden, wird er zum ›Entdecker‹ einer Kultur. Analog vollzieht sich die Einrichtung seines ethnologischen Museums nach seinen Regeln.

Adéagbo verweigert sich jeglicher Handwerklichkeit. Er lässt nach von ihm ausgewählten und modifizierten Vorlagen Illustrationen malen. Diese bestehen zumeist aus Fotokopien von Bildern in Lexika, Büchern und Zeitschriften, deren Untertitel er ergänzt oder durch eigene Texte ersetzt. Eli Adanhoumè , der mit seinem Alias »Esprit« signierte, malte von 1995 bis zu seinem Tod 2010 für Adéagbo, gefolgt von seinem jüngeren Bruder Benoit. Ähnlich lässt Adéagbo Figuren und Bildreliefs schnitzen. Zunächst von Edouard Kinigbè und seit ein paar Jahren auch von dem weit jüngeren Hugues Hountondji. Da diese Handwerker keine eigenen Ideen einbringen, sondern öffentliche, jedem zugängliche Dienstleistungsanbieter sind, erwähnt Adéagbo ihre Namen nicht als Autoren bei Ausstellungen. In ausführlichen Texten über Adéagbos Arbeitsweise werden sie aber immer genannt. Wie hier.

Esprit r. und Assistent l. im Atelier Adeagbo Benin

Immer wieder höre ich Adéagbo betonen: »Wenn ich alles für meine Installationen selber machen wollte, würde mich das von meiner eigentlichen Arbeit, dem Beobachten, Komponieren und Schreiben ablenken. Ich könnte nur selten eine Ausstellung machen, wenn ich die vielen Bilder malen und Figuren schnitzen würde, abgesehen davon, dass ich es gar nicht kann. Jeder hat seine Spezialität, mir geht es darum meine Ideen darzustellen. Meine Handfertigkeit spielt keine Rolle.« Adéagbo betrachtet also Arbeitsteilung und Delegieren an Fachleute als Grundprinzip seiner Arbeit. In diesem Sinne könnte man ihn als Konzeptkünstler einstufen. (UTSK1999: S. 7)

Adéagbo ist nach meinen langjährigen Beobachtungen nicht nur ein leidenschaftlicher, sondern ein zwanghafter Sammler. Er entkommt der im Moment der Begegnung mit einem Gegenstand geschlossenen Beziehung schwer. »Cet objet me dit quelquechose…« ist die Formel, welche oft den Beginn dieses Prozesses der Aneignung markiert. Immer wieder habe ich zugeschaut, wie Adéagbo stehen bleibt, sich abrupt umdreht und zurückgeht oder den Fahrer bittet, den Rückwärtsgang einzulegen, um eine Mütze, ein Stück Stoff, einen Regenschirm mitzunehmen. Die Bedeutung, die Adéagbo Begegnungen mit bestimmten Gegenständen und Personen zumisst, ist ein konstitutiver Teil seiner Auffassung, dass es ein »Destin«, einen Gesamtplan im Sinne eines übergeordneten Lebensszenarios gibt, das ihn bewegt, diese Abzweigung zu nehmen und nicht jene, und so die Schals, Handschuhe, Schnuller von Menschen eines Ortes, die diese Dinge aus dem selben Grund an jenen Kreuzpunkten verloren oder vergessen haben, zu treffen. Seine Heuristik ist ein essentieller Teil seiner kreativen Identität. Das schließe ich aus wiederholten Äußerungen von ihm, wie »L’art et la vérité: l’art est avec la vérité, et seul qui peut voir cette vérité, et faire voir cette vérité aux personnes qui ne voyaient pas cette vérité, est seul qui serait pris pour artiste, et se dirait artiste..! Je travaille avec la nature… Je peux lire et voir la signifiance d’un objet par terre, que les autres, les artistes peintres et sculpteurs ne voit pas.« (UTSK 2010: S. 57) Dies geschieht sowohl auf Reisen, als auch in seinem Heimatland. Die Gegenstände sind, nach wiederholten Aussagen von Adéagbo, Beweisstücke dafür, dass er auf dem richtigen Weg, da synchronisiert mit seinem »Destin«, ist. Sofort das Potential eines Gegenstandes als Bedeutungsträger in seiner Syntax zu erkennen, nennt er wie oben zitiert »mit der Natur arbeiten.«

Diese Objekte ergänzt Adéagbo in seinen Installationen mit Bildern und Skulpturen, die er wie erwähnt nach seinen Angaben anfertigen lässt. Diese auf der Basis seiner Determination und Entscheidung geschaffenen Objekte sind der Gegenpol zu denen auf der Strasse oder Flohmärkten gefundenen. Sie entstehen nur, wenn Adéagbo zu einer Ausstellung eingeladen ist und daher für ein Thema und einen Ort eine Produktion in Gang setzt. Nur ein bis zweimal im Jahr lässt Adéagbo sich eine Illustration für seine Sammlung malen. Statuen und Masken kauft er hingegen nicht nur für Ausstellungen, sondern regelmäßig für die Erweiterung seines »Darsteller-Ensembles«.

Die Verschränkung der zwei sehr unterschiedlichen Ursprünge der Objekte in den Installationen entspricht Adéagbos Auffassung vom Leben als Balanceakt zwischen Vorherbestimmung und Selbstdetermination. Er spricht in seinen Texten sehr oft über sein Schicksal und das von Mitmenschen und historischen Personen, hat dies aber am prägnantesten in einem Text in seinem ersten Venedig-Biennale Beitrag 1999 geschrieben: »Rappelez-vous: Les astres influencent – mais ne déterminent pas – le libre arbitre permet a l’homme de forger son destin.« Adéagbo präsentierte diesen Text nicht wie gewöhnlich in seiner Handschrift auf einem DIN A 4 -Bogen, sondern mit Hilfe der CTL Künstlerbuchpresse Hamburg gedruckt als Give-away-T-Shirt. (UTSK 1999: S.1)

Ein wichtiger Faktor der Sinngebung ist für Adéagbo das Erkennen des dem Individuum Vorherbestimmten. Es fragt sich, ob es für ihn so etwas wie Zufall gibt. Er sagt des öfteren: »La chance n’a qu’un seul cheveu..! La chance n’arrive qu’une seul foi..!« (Das Glück hat nur ein einziges Haar..! Das Glück kommt nur einmal..!) (UTSK 2007: 24) – bevorzugt in Erzählungen über Menschen, die nicht zupackten, als sich ihnen eine Gelegenheit bot. Ich vermute, Adéagbo betrachtet ›Glück‹ als Zufall, als etwas, das zu einem fällt und das man schnell schätzen muss, denn es geht weiter, wie eine scheue Fee. Offene Augen für das zu haben, was einem bestimmt ist, scheint mir die Voraussetzung dafür zu sein, das Glück zu ergreifen. Andererseits gibt es auch negative ›Zufälle‹, Begegnungen mit Menschen, die ihm schaden, oder der Verlust von wertvollen Dingen bis hin zum Diebstahl. Alles ist ein Zyklus der Bewegung, der Ephemerität, »Wir sind nackt geboren, wir sterben auch nackt, wir können nichts mitnehmen.« (Ebd.)

Dieser Aspekt bewirkt eine Ortsspezifik im doppelten Sinn: sowohl dadurch, dass Betrachter vertrauten Dingen aus ihrer Umgebung in einem experimentellen Umfeld, dem Labor eines Künstlers, begegnen können, als auch dadurch, dass sie auf die Person Adéagbo als eines Spuren hinterlassenden Menschen treffen, der eine Zeit hier und jetzt in ihrer Stadt gelebt hat. Adéagbo markiert seine Präsenz für einen begrenzten Zeitraum an einem Ort durch die Einbeziehung der verlorenen Objekte, die er am Ausstellungsort gefunden hat sowie einer Flut von Zeitungen, die das Tagesgeschehen, lokal und weltweit, während des Aufbaus wiedergeben, und deren Datumsketten mit dem Tag der Vollendung der Installation, meist einem Tag vor der Eröffnung, enden.

Zum Sammeln

Ich habe zugesehen und auch oft übersetzt, wenn Adéagbo auf Flohmärkten aus Prinzip verhandelt, egal ob dies in der Umgebung seines Ateliers in Benin geschieht oder am Ausstellungsort. Er gibt jedoch auf, wenn sein Wunschobjekt das vorgegebene Ausstellungsbudget sprengen oder seinen Geldbeutel überfordern würde.

Abb.7. Flohmarkt Leon 2010

Adéagbo denkt nicht an die räumlichen Möglichkeiten seines Ateliers oder Hotelzimmers und die relativ bescheidenen Raumbedürfnisse der Menschen um ihn herum. In Benin sammelt er (leider) auch Tiere, die ihm über den Weg laufen. Schlangen werden in Alkohol eingelegt, Schildkrötenpanzer von den Fischern erworben und gestrandete Seeteufelkadaver im Garten getrocknet, bis nur noch ihre lederne Haut übrig bleibt. Um die 20 Meeresschildkröten-Hüllen habe ich auf der Veranda seines Ateliers zählen können. Ökologische Bedenken interessieren ihn nicht. Wer dagegen redet, wird von Adéagbo als besser-wisserischer scheinheiliger Imperialist bezeichnet.

Obwohl Adéagbo enthusiastisch sammelt, ist er kein sorgfältiger Kustos seiner Sammlung im technischen Sinn. Viele seiner Statuen und Masken im Atelier in Benin sind von Termiten und anderen hungrigen Insekten befallen, jedoch kümmert er sich selten um deren Behandlung. Sie dienen in seinen täglichen Installationen, die er jeden Tag auf der Veranda und im Sand des Gartens auf, und nachts, nach dem Abendessen wieder abbaut, bis sie im wahrsten Sinne des Wortes zusammenbrechen. Das Bewahrungsideal existiert nicht für ihn. (UTSK2005: 2)

Es gibt in seiner Sammlung aktive und nicht aktive Posten. Ich reise viel mit ihm und habe bemerkt, dass einige Koffer nach seiner Rückkehr wie Zeitkapseln ungeöffnet bleiben. Lange ungeöffnet bleiben. Es gibt inzwischen in seinem Haus in Benin ein Zimmer voll von diesen Überraschungseiern.

Im Atelier bilden sich nachts beim Abbauen Stapel und Haufen, ich vermute, dass er entweder diese Strophen aus Dingen wieder etwas modifiziert im Sand des Gartens aufbauen wird oder er einfach zu müde ist, alles wieder an seine Ausgangsposition zurückzubringen. Nicht mehr interessante Objekte schlummern ineinander verschlungen, bis Adéagbo sie wieder braucht. Aufgeräumt und sortiert wird nur im Moment des Installierens. Der Zustand der Akteure als inaktive Sammlung, der Protagonisten hinter der Bühne, ist für Adéagbo nicht wichtig.

Extrem wichtig ist für ihn der rote Faden der Inspiration.

Schon morgens im Bett, in den letzten Träumen, sehe ich Ketten von Dingen sich aneinander fügen, habe ich Gedanken, Fragen, und Erkenntnisse, die ich visualisieren möchte. Wenn mich dann jemand stört, während ich die ersten Elemente auf den Boden lege, bin ich ganz verwirrt und verliere den Faden. (UTSK 2000:43)

Auch dem Besucher, der sich noch nicht in eine Adéagbo-Installation eingelesen hat, fällt auf, dass viele Objekte einen langen Weg hinter sich haben müssen. Offensichtlich ist dies bei den Masken, Statuen und Textilien, bunt-bedruckten Stofffragmenten im Wachs-Batikstil, oder dem oben erwähnten Tanzkostüm. Unzweifelhaft das aus einem Stamm geschnitzte Boot, der verrostete Anker und die großen Trommeln. Komplizierter wird es, wenn der Betrachter vertrauten Figuren wie Harald Szeemann, Joseph Beuys und Arnold Bode erkennbar, aber doch im naiven Schildermalstil von Friseurtafeln etwas verfremdet, begegnet.

Abb.8. Portrait von Szeemann – Kassel 2002

Erst wer sich durch die Lektüre von Katalogtexten und Ausstellungsdidaktiken schlau macht, erfährt, dass Adéagbo für jedes Projekt ein bis zwei Vorbesuche für Recherchen an dem jeweiligen Ausstellungsort verbringt. Dort sammelt er wie bei der Documenta-Installationsvorbereitung 2001-2002 im Archiv Materialien und nimmt sie, meist in Form von Photokopien, mit nach Benin. Ich konnte bei jeder von mir bisher betreuten Produktion beobachten, wie Adéagbo sich dann sehr viel Zeit nimmt, eigene Texte oder Zitate auszusuchen und diese auf die Kopien zu schreiben. Meistens beziehen sich diese auf eines der Bildelemente, können aber auch weiteren Assoziationsketten folgen. Sie werden, wie oben erwähnt, von einem Schildermaler ausgeführt, der freie Wahl nur bezüglich Farbe, Typographie und Layout des Textes hat.

Adéagbo respektiert nicht, bzw. bricht einige Tabus und selbstverständliche Dichotomien in der Arena der Kunstproduktion und -rezeption sowie im Alltagsleben. Beispielsweise existieren die üblichen Unterscheidung Backstage – Frontstage, Künstler – Betrachter (der sich wahlweise involvieren kann) und auch elementare Kategorien wie »Mein – Dein« in vielen Situationen meiner Erfahrung nach nicht oder einfach auf andere Weise.

In Adéagbos handgeschriebenen Texten werden die ihn einladenden KuratorInnen und ihre Attribute festgehalten. Der Brief- und E-mail-Verkehr (z. B. war dieser mit Okwui Enwezor, der Adéagbo zu seiner Ausstellungstournee »The Short Century« 2001-2002, Villa Stuck, München, Martin Gropius Bau Berlin, MCA Chicago und P.S.1 New York eingeladen hatte, sehr umfassend und wurde reichlich in die Installationen einbezogen) wird von Adéagbo oft ausgestellt. Er stellt das, was von anderen elegant verborgen wird, gerne aus, und verpatzt so die Diskretion des Backstage. Das künstlerische Protokoll des jeweiligen Ausstellungsereignisses ist immer ein konstitutiver Aspekt einer Adéagbo-Arbeit, welchen er bis zum letzten Tag vor der Vernissage aktualisiert. Es entsteht so eine Meta-Stimme, die einen selbstvergessenen emphatischen Kunstgenuss immer wieder zum Stocken bringt. Er schreibt die Geschichte von jedem Werk, während es entsteht und flicht diese als einen der multiplen Erzählstränge in seine Installationen ein. Für ihn, der früher neben BWL auch Jura studiert hat, bedeutet dieses Vorgehen nach eigenen Angaben das Schaffen einer virtuellen Verhandlungssituation vor Gericht, wo der neutrale Richter, hier Adéagbo, verschiedene Zeugen zu Wort kommen lässt.

Adéagbo stellt die »unverhüllte« Prozessualität aus, aber nicht, indem er vor Ort ein Bild malt oder eine Skulptur schafft, sondern durch die Kombination von seinen Texten mit bestehenden Objekten, darunter vielen aus dem Alltagsleben. Was die Frage aufkommen lässt, inwiefern er mit der Tradition des Ready-made vertraut ist. Im Dictionaire abrégé du surréalisme von André Breton und Paul Eluard ist das Ready-made wie folgt definiert: »Objet usuel promu a la dignité d’objet d’art par le simple choix de l’artiste.«  (Breton, Eluard (Hrsg.) 1938, S.23, zitiert nach Schankweiler, S.118). Ich vermute, habe aber keine eindeutigen Belege dafür, dass Adéagbo sich während seiner Studienzeit in Frankreich nicht mit der Arbeit von Duchamp auseinandersetzte.

Auf Grund der Isolation in Benin hat Adéagbo seine Arbeitsweise unabhängig von europäisch-amerikanischen Kunstbewegungen der 70 bis 90er Jahre entwickelt, die sich teilweise auf Duchamp beziehen. Manche Aspekte dieser Richtung hat er ohne direkten Austausch parallel mitvollzogen. Daher stellt sich für mich die Frage, ob es morphische Felder gibt und ob diese auch in der Kunst existieren. Andererseits ist seine Arbeitsweise eigenständig und einzigartig. Adéagbos Isolation und Armut war, obwohl es zynisch klingt, fundamental für die Entstehung und Ausprägung seiner kritischen Beobachtungsweise und Arbeitsstiles. Schankweiler schreibt zum Verhältnis Adéagbo – Duchamp:

Auch Adéagbo kann man als einen Konzeptkünstler bezeichnen. Für seinen Arbeitsprozess spielen manuelle bildnerische Fertigkeiten kaum eine Rolle – zumindest nicht seine eigenen –, sondern intellektuelle, analytische und konzeptuelle Fähigkeiten stehen im Vordergrund. […] Während es Duchamp primär auf die gedanklichen Experimente ankam und weniger auf die Objekte, […] nimmt Adéagbo die Dinge als solche ›ernster‹. Ihn interessieren ihre spezifischen Eigenschaften. (S. 119)

Der Verzicht auf die Vollendung des Werkes in der Intimität eines Ateliers und die Übertragung eines Teiles der Produktion und Endassemblage auf den Ausstellungsort findet sich nicht nur bei Adéagbo, aber bei ihm besonders ausgeprägt und als fester Bestandteil seines Programms. Er arbeitet nicht wie viele andere Künstler nach einem Aufbauschema, das er nach dem ersten Besuch des Raumes ausarbeiten könnte, sondern trifft die meisten Entscheidungen in den ersten Aufbautagen, wenn seine Palette aus den schon beschriebenen Objekten im Raum bereit steht, der ja, obwohl nur Künstler und Kuratoren und technische Mitarbeiter eine Ausstellung während des Aufbaus betreten dürfen, schon halb öffentlich ist.

Eine Ausnahme ist jedoch seit 2006 durch die Einführung von kleinen Vitrinen entstanden, die er Boîtes nennt.

Abb. 9 Daadgalerie 2007

Adéagbo lässt aus Sperrholz flache, weiss gestrichene Vitrinen herstellen, die, nachdem er im Atelier seine Komposition aus Objekten, Texten und Zeitungsausschnitten in sie gepflanzt und fixiert hat, mit einer Plexiglasscheibe geschlossen werden. Im Grunde sind diese Boxen nichts anderes als kleine ›Zimmer‹, und somit eine Thematisierung und Hinterfragung vom gängigen ›White-box‹-Ausstellungsparameter des Kunstbetriebes. Durch ihre Endgültigkeit stellen sie für Adéagbo einen Gegenpol zu den ungebundenen Installationen auf den Wänden und am Boden dar.

Trotz seines Bekanntheitsgrades sind die Installationen Adéagbos auf Grund ihrer Komplexität und nicht Portionierbarkeit hauptsächlich in Museen, selten in Galerien zu sehen. Nur langsam reagiert der Kunstmarkt, vermutlich weil das Werk nicht schnell zu begreifen ist und seine Vielschichtigkeit die meisten Sammler verwirrt. Museen verfügen über Fachkräfte, die nach Photos und Plänen die hunderte Objekte ungefähr so wieder aufzubauen, wie Adéagbo sie konfigurierte. Erst die Vitrinen und Photos von Installationen an historischen Orten mit kurzen Texten werden für Sammler interessant, da diese leicht ohne Aufwand zu handhaben sind.

Viele Künstler in Afrika verwenden gefundene und weggeworfene Materialien. Ein Genrebegriff ist daraus entstanden: Récupération – was so viel bedeutet wie ›Wiederverwendung‹, aber auch ›nicht – verloren – gehen – lassen‹. Sie (z.B. die Künstler El Anatsui, Romuald Hazoume und Antonio Ole) benutzen als bildhauerisches Material z. B. Kronkorken für Vorhänge, sie fertigen Masken aus Benzinkanistern, Figuren aus Autoteilen und Collagen aus alten Türen und Möbeln. Vorwiegend wird Material aus der engeren Umgebung verwendet. Adéagbo benutzt ähnliche Objekte, jedoch meist aus verschiedenen Kulturräumen, und setzt sie in einen konzeptuellen Zusammenhang mit multiplen Erzählebenen, die einen Transfer zwischen verschiedenen Kulturen schaffen und das Vertraute in Frage stellen. Es geht Adéagbo nicht um die materiale Wiederverwertung der weggeworfenen Dinge, sondern um das Erzählpotential eines jeden Objektes in Relation zu einem anderen.

Seit der ersten Ausstellung Adéagbos 1994 ist ein breites Spektrum von Texten entstanden, von journalistisch plakativ, literarisch verklärt bis transparent-analytisch, mit einer Metaebene der Reflexion auf die eigene Perspektive. An den Texten zu Adéagbo lernen wir einiges über den Künstler. Zum anderen lässt sich die Entwicklung des theoretischen Apparates an ihnen ablesen.

Zahlreiche Journalisten, Studenten, Kunsthistoriker in Deutschland, U.S.A., Italien und Frankreich schreiben über die Entstehung und Wirkung von Adéagbos Installationssprache. Kerstin Schankweiler hat, wie schon erwähnt, über ihn promoviert (Trier 2008) und ihre Doktormutter, Viktoria Schmidt-Linsenhoff, hat nach ihrem Beninaufenthalt im Jahr 2003 einen Text für den Ausstellungskatalog des Museums Ludwig verfasst. Homi Bhabha (Harvard) und Okwui Enwezor widmeten seiner Arbeit ausführliche Essays, Chiara Bertola und ich verfassten gemeinsam zwei Bücher zu Ausstellungen in Venedig, Fondazione Querini Stampaglia, und im Palazzo Vecchio in Florenz 2007 und 2008.

Abb. 10 Palazzo Vecchio Florenz 2008, Coverfoto des Buches: Georges Adéagbo: Grand Tour di un Africano

Die erste Besprechung über Adéagbos Installationen verfasste Regine Cuzine. Sie erschien in der »Revue Noir«, einer in Paris von Simon Njami herausgegeben Zeitschrift zur Gegenwartskultur Afrikas (1995, H.18, S. 6-11). 1996 erschien der Sammelband Contemporary Art of Africa, herausgegeben von André Magnin und Jacques Soulillou. Interessant ist in der Einführung der Paragraph über Adéagbo, in dem er seine Installationen als Protest gegen die Familie und die Gesellschaft beschreibt. »As he [Adéagbo] in the risky exercise of throwing a rope bridge between history (l’histoire) and stories (les histoires), Adéagbo embodies today’s evolving African artist, the forger of a new ›contact‹ with his communitiy. He is no longer the producer of symbolic goods that the community can appropriate (through the intermediary of the ritual and the feast) but, rather, a kind of Sphinx that interrogates the community and provides a visual formulation of its disorder by reintroducing a certain order in odds and ends of materials and objects that are no more than the waste products of the community.« (Magnin, Soulillou: 9)

Ein Schlüsseltext, der oft zitiert wird, stammt von Okwui Enwezor aus dem Jahr 1996. Er beschreibt, wie seine Gedanken und größtenteils literarischen Assoziationen von Adéagbos Installation »Art and Evolution« in der Gruppenausstellung »Big City« in London, seiner zweiten Ausstellung, gefordert und inspiriert wurden. (Okwui Enwezor, »The Ruined City: Desolation, Rapture and Georges Adéagbo«, in NKA, Journal of Cotemporary African Art, No. 41, Spring 1996, pp. 14-18.)

Eloquent bewertet Okwui Adéagbos Sammlung in einem der Ausstellungsräume der Serpentine Gallery im Hyde-Park: »The controlled chaos Adéagbo has assembled here thoroughly reveals both impudent iconoclasm, an idiosyncratic and quirky brilliance.« Also als schamlosen frechen Bildersturm mittels eines kontrollierten Chaos. »Made of a dizzying assortment of carefully chosen, sorted and arranged detritus gathered from urban environments, this epic commentary on waste and transcendence, mutation and ossification, stands in stark contradiction to the lush Arcadian vista of Kensington Gardens that a viewer glimpses as she looks out through the gallery’s glass-paned double doors.«

Okwui erkennt, dass durch Adéagbos Auswahl und Vernetzung von Großstadtresten, sprich Abfällen, die minderwertigen Objekte zur künstlerischen Sprache werden. Aber es fällt schon nach ein paar Absätzen auf, dass der Kontrast zwischen Okwuis »arkadischer Sprache« und seinem »subject-matter« ebenso groß ist wie der zwischen der Installation und dem Blick auf die heile Welt eines Parks. Er macht Adéagbo weitere Komplimente:

[…] out of which he crafts artworks of such melancholic brilliance, poetry, magic and tragic beauty. The pictures (I find that Adéagbo’s work functions most efficiently pictorially, than as assemblages) which he paints out of these iconical detritus illuminate his uncanny method through the narrative trope of left-overs, the leavings of the orgy of modernity, upon whose decimated corpulence we see the corporeal body laid bare, shocked and disembodied (14-15)

und vergleicht den afrikanischen Markt, die kontingente Nachbarschaft von Waren mit den Installationen von Adéagbo.

The African marketplace: as pure contingency, as a perpetual site of accumulation and consumption, dissipation and collocation, mercantile exchange and cultural entropy is the same sensibility which Adéagbo’s installations both suggest and replicate. (15)

Diese Passagen zeigen, dass Okwui die Installationen als Gesamtbild genießt, vielleicht weil die verstaubten und vergilbten Gegenstände seine eigenen melancholischen Empfindungen zur Postmoderne zum Mitschwingen anregen. Möglicherweise übersieht Okwui damals (1996, es ist sein erster Text und basiert auf nur zwei Werken, die er gesehen hat) Adéagbos konzeptuelle Leistung des Kulturtransfers, verschiedene Geschichten, multiple Perspektiven zu einer Geschichte, Textstränge verschiedener Herkunft miteinander frei, aber ›site-specific‹ zu vernetzen. Hatte Okwui noch nicht verstanden, dass die visuelle Attraktivität (Schönheit) nicht Intention des Künstlers, sondern Nebenprodukt der nach verschiedenen Prinzipien kombinierten Gegenstände ist?

Zum Venedig-Biennale Beitrag 1999 und der Verleihung des Preises der Jury sind zahlreiche kurze Artikel erschienen, zur Documenta-Arbeit 2002 hingegen wesentlich mehr und ausführlichere: Paul Beaucamp nannte seinen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen (14. Juni 2002) treffend »Die Entdeckten entdecken die Entdecker«.

Viktoria Schmidt-Linsenhoff beginnt ihren Text Produktionsästhetik von A-Z (in: DC: Georges Adéagbo, Museum Ludwig, 2004) mit einer Kritik an der inadäquaten Konformität, mit der westliche Kunstkritiker den Ort bezeichnen, an dem dieser Künstler lebt und arbeitet. »Das Kürzel ›lebt in Cotonou‹ ist jedoch eine Ent-Nennung, die den Produktionsort einer ortsspezifischen Kunst irrealisiert und eine euro-amerikanische Rezeption arrogant als universell setzt.« (S.10)

Schmidt-Linsenhoff betont, im Fall von Georges Adéagbo habe die Kenntnis seiner Heimat Benin »produktionsästhetische Bedeutung« (ebd.) für das Verstehen der Installationen, da seine urbane Kultur, die sich von der europäischee und amerikanischer Großstädte unterscheidet, konstituierend für seine Arbeitsweise sei. So jedenfalls legitimiert Schmidt-Linsenhoff die Collage ihrer Beobachtungen aus dem Alltag Benins. In ihm ist für sie als Repräsentantin westlicher Kritik nichts selbstverständlich. Damit belegt sie die These, die Annahme, der Kulturraum Cotonou-Benin sei allen so geläufig wie New York oder Berlin, sei ein kategorischer Fehler.

Zum Konstrukt der Biographie von Adéagbo, über die ich oben sprach, schreibt die Autorin:

Die Rekonstruktion einer Biographie aus den Trümmern kollektiver und individueller Katastrophen ist kein Kinderspiel, kein munteres, freies Flottieren der Signifikanten. Georges Adéagbo zerschreibt nicht ein europäisches, männliches Ich im modischen Gestus postmoderner Subjektkritik, sondern stellt eine beschädigte Person im Realen als Maske (per-sona) wieder her. (ebd. S.11)

Es ist rasch zu sehen, dass Schmidt-Linsenhoffs Anliegen nicht darin besteht, Belesenheit unter Beweis zu stellen, sondern gezielt Asymmetrien in den Vorgehensweisen westlicher Kunstkritiker aufzuzeigen und Bezüge zu einem postkolonialen Apparat herzustellen.

Auf Bitten des Museums Ludwig steuerte auch Homi Bhabha (Harvard) zu dem Band DC Adéagbo (2004) einen Aufsatz bei. La Question Adéagbo beginnt mit dem etwas rätselhaften Satz: »Wie können wir uns in das Wanderarchiv seiner Kunst stehlen, ohne ihr Geheimnis und unser Begehren zu verraten?« (S.25) Der Autor betont die nomadische Produktionspraxis Adéagbos:

Man schaue sich an, wie Adéagbo vom Ansammeln zum Auftrag, vom Ausstellen zum Ausformen übergeht, man schaue sich seine labyrinthischen Wege (Cotonou, Kassel, Köln, London, New York, Toyota) und Mittel ( Malerei, Zeitungen, handschriftliche Notizen, in seinem Auftrag hergestellte Totempfähle, objets trouvés, Texte und Textilien) an, die die Routen, welche er genommen hat, zurückverfolgen lassen. Er wandelt das Kennzeichnende eines Gegenstands ab, ohne deshalb die Kennung, seinen Ort innerhalb der Netze von kultureller Referenz und sozialer Symbolik, zu löschen. Adéagbos Kunst ist kein gefälliger Pluralismus, sie handelt von den Schwierigkeiten des Benachbartseins.« (Ebd.)

Auch Bhabha zitiert, wie viele andere Autoren, die sich mit dem Benachbartsein heterogener Objekte in Adéagbos Installationen beschäftigen, Okwuis fast schon kanonische Rede vom »Einfluss des afrikanischen Marktplatzes auf dieses Werk« (ebd.) aus dem oben erwähnten Essay aus dem Jahr 2006. Wie nach ihm Schankweiler bescheinigt auch Bhabha den Installationen, dass sie einen »fortlaufenden Prozess der Übersetzung anstoßen, der kulturell und zeitlich weit auseinander liegende Zeichen und Anzeichen in Bewegung versetzt.« (ebd.) Die »grundsätzliche Methode« des »Künstlers und Ausstellers« Adéagbo besteht nach Bhabha darin, dass er »Werke schafft, die sich in der Übersetzung verlieren und wieder finden.« (Ebd.)

Für einen frankophonen Künstler wie Adéagbo aus dem ehemaligen Dahomey sind erstaunlich wenige Texte von französischen Kritikern und KunsthistorikerInnen im Umlauf. Sein Bruch mit der französischen Betreuerin Regine Cuzine im Jahr 1998 und mangelnde Kooperationswilligkeit mit dem mächtigsten Sammler afrikanischer Gegenwartskunst Pigozzi (Genf) könnten damit zu tun haben. Mehr als sein Werk wird, einem Filmszenario ähnlich, das Drama seines Lebens betont, wie zuletzt in einem Artikel von Philippe Perdrix für die Zeitschrift »Jeune Afrique«. (Ausgabe vom 5. September 2010, S. 70)

Sowohl in Hamburg als auch in Benin versuche ich eine Zone zu reservieren, die zur systematisch geordneten Aufbewahrung der Zeugnisse von Adéagbo-Produktionen, Ausstellungen in Form von Büchern, Zeitungsartikeln, Foto- und Filmmaterial dienen soll. Zunächst war es in Benin schwierig, diesen Raum von Adéagbos Sammlungslager zurück zu gewinnen – im Gegenzug leiht sich Adéagbo regelmässig Dinge aus diesem Archiv für seine täglichen Installationen aus. Es braucht manchmal lange Verhandlungen, die zu Streit eskalieren können, um sie wiederzubekommen. Wie Homi Bhabha in seinem Essay sagte: »Adéagbos Kunst ist kein gefälliger Pluralismus, sie handelt von der Schwierigkeiten des Benachbartseins.« (S.25) Es ist unmöglich, Adéagbo zu begegnen, mit ihm zu arbeiten oder gar zu leben, ohne als Element seines Weltbildes und Werkes absorbiert und dekliniert zu werden.

Ausblicke

Parallel zur Vervollständigung meiner Werkzeuge möchte ich in meinen zukünftigen Arbeiten folgenden Fragen zu Adéagbos ungewöhnlicher Arbeitsweise nachgehen: Inwiefern ist Adéagbo ein Historiker, der sich selbst, seine Handlungen und die der Akteure der Kunstwelt dadurch historisiert, dass er alle Handlungsspuren sofort wieder verwendet? Bedeutet eine Quelle das gleiche für Adéagbo wie für einen Historiker? Adéagbos Art der allegorischen Ausdeutung durch Typologiebildungen und Präfiguration scheinen mir Modalitäten der Bibelexegese seit Johannes Cassianus analog zu sein. Es scheint vielleicht weit gegriffen, aber ich frage mich, wie seine Interpretation von Spuren der Ereignisverkettung dem vierfachen Schriftsinn der Bibelexegese entspricht: buchstäblicher Sinn, allegorisch-dogmatischer Sinn, moralisch-tropologischer Sinn und eschatologischer Sinn.

Sowohl die verbale Redundanz im alltäglichen Gespräch als auch die physische Redundanz der Objekte in seinen Installationen laden dazu ein, Adéagbos Wirken unter dem Aspekt der Dynamik von mündlicher und schriftlicher Überlieferung zu betrachten. (Die Arbeiten von O.J. Ong und Jack Goody könnten helfen, die jeweiligen Charakteristika besser zu verstehen.) Es geht in den Installationen nicht nur um die Botschaft jedes einzelnen Gegenstandes, sondern auch um die Konfrontation verschiedener Medien. Traditionelle Träger von Geschichten wie Statuen und Masken treffen auf DVDs, Zeitungen und Zeitschriften und natürlich Bücher. Es wäre zu untersuchen, in welchem Grad das Motto von Marshall McLuhan, »The Medium is the Message« für die Installationen von Adéagbo zutrifft.

Zum Thema Wissensorganisation und -bewahrung scheinen die täglich ausgeführten Installationen der Versuch einer immer neuen Enzyklopädie der wissens- und besprechenwerten Dinge aus der Sicht Adéagbos zu sein. Allein die Präsenz eines Gegenstandes, egal wie er vom Sammler beurteilt wird, sagt etwas über die Relevanz für das System Adéagbo aus. Ähnlich wie das Auftauchen und Verschwinden von Begriffen in der Folge der Enzyklopädien seit dem Polyhistor Zedler und Diderot.

Ein weiterer zu bedenkender Aspekt wäre das Sich-Aufbäumen gegen die automatische Annahme westlicher Logik als eines globalen Ordnungsprinzips. Auffällig an Adéagbos Werk ist die eigenwillige Zuordnung einzelner Phänomene zu nach persönlichen Kriterien geschaffenen Gruppen und die Abwesenheit von Syllogismen insbesondere in seinen Texten.

Der rosa Schlüpfer, das Beuys-Buch, die konservatorisch stabilisierte Riesentrommel und tausende andere Gegenstände, die zum Welttheater Adéagbos gehören, schlummern nun seit mehr als fünf Jahren friedlich im Depot des Museums Ludwig in Köln. Es ist fraglich, ob, wann und wie die Installation wieder so aufgebaut wird, wie Adéagbo es 2004 getan hat. Eines Tages wird sie vielleicht als Leihgabe an einen fernen Ort reisen, ohne Adéagbo, der sie mit neuen ortsspezifischen Elementen versieht. Im Moment entstehen immer neue Arbeiten und Ausstellungen. Das Prinzip seiner Arbeitsweise hat sich seither nicht geändert. Stetig spürt er Dinge auf, die für ihn bereit liegen – lässt Elemente in Benin malen und schnitzen und vernetzt alles zu frechen provokanten Portraits der Kulturen.