Ulrich Thielemann: System Error
Warum der freie Markt zur Unfreiheit führt
Frankfurt/M. (Westend Verlag) 2009, 253 S.

Die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise hat zumindest einem Bereich der sogenannten ›Realwirtschaft‹ einen Boom beschert: Dem Markt für Sach- und Fachbücher, die sich anheischig machen, das Geschehene zu erklären und Wege zu weisen, wie einem erneuten Zusammenbruch der weltweit vernetzten Ökonomien zu begegnen sei. Das Angebot reicht von journalistischen Schnellschüssen über Ratgeber, wie man die Krise am besten übersteht, bis hin zu Neuauflagen von Klassikern wie John Kenneth Galbraiths Analyse des großen Crashs von 1929, mit dem jene Ereignisse, die im Herbst 2008 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten, am häufigsten verglichen wurden.

Der plakative Titel des vorliegenden Buches signalisiert deutlich genug, dass es ebenfalls auf den publizistischen Wellen surft, die von dem Beinah-Zusammenbruch der globalisierten Finanzmärkte aufgepeitscht wurden. Autor Ulrich Thielemann indes, Vizedirektor des St. Gallener Instituts für Wirtschaftsethik, verfolgt den Anspruch, die grundsätzliche Insuffizienz des zum »Prinzip des guten Lebens« (S. 20) erhobenen Marktes aufzuzeigen. Zusammen mit dem Gründer des Institutes, Peter Ulrich, verfolgt er das Projekt einer »integrativen Wirtschaftsethik« (IWE), die, anders als konkurrierende Ansätze, nicht die instrumentelle Logik des Marktgeschehens selbst bereits für eine valide Quelle ethischer Normen hält, jedoch auch vermeiden möchte, die philosophische Ethik zur Ableitung ›richtigen‹ wirtschaftlichen Handelns zu instrumentalisieren. Damit stellt sich die IWE bewusst außerhalb des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams, der streng zwischen dem rationalen (und damit einer exakten Wissenschaft überhaupt erst zugänglichen) Marktgeschehen und der davon abzugrenzenden, im Kern jeglicher rationalen – sprich: wissenschaftlichen – Erörterung sich entziehenden Moralität unterscheidet.

Mit dieser Positionierung ist bereits eine methodische Vorentscheidung zugunsten eines diskursethischen Ansatzes gefallen, denn die IWE will ja nicht der ›wissenschaftlichen‹ Behandlung des Themas Ökonomie eine ›nichtwissenschaftliche‹ entgegensetzen, sondern den Nachweis führen, dass wirtschaftliches Handeln per se ethisch relevantes Handeln sei (in dem Sinne, dass es ethischer Normen bedürfe). Die konventionellen Wirtschaftstheorien böten, so Thielemanns Argumentation, eine verkürzte Sicht des Marktgeschehens, die unter dem Deckmantel vermeintlicher »Objektivität« eine »verschwiegene Ethik« (S. 22) verfolgten. Es gehe in erster Linie darum, diese »explizit« (ebd.) und damit einer kritischen Beurteilung zugänglich zu machen.

Anders als der Titel vielleicht suggeriert, stellt der Autor also nicht das ›System‹ in Frage. Nicht der Markt sei das Problem, sondern die »Marktgläubigkeit […] der buchstäbliche Glaube, dass die Marktlogik, die Ergebnis des Eigeninteressestrebens des Homo oeconomicus ist, zahlreiche ethisch ›positive‹ Eigenschaften besitzt oder gar den Inbegriff der ethischen Vernunft markiert.« (S. 24). Gerade in dieser Haltung zeige sich, dass »der Ökonomismus im Ganzen ein irrationales Unterfangen [ist]. Er ist noch vormodernem Denken verhaftet und hat noch nicht wirklich die Aufklärung durchlaufen. Er glaubt, sich mit der Rhetorik der Freiheit schmücken zu dürfen, repräsentiert aber ein Modell einer Gesellschaft von letztlich Unfreien.« (ebd.)

Starke Worte, wenngleich nicht ganz so originell, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Dem Umstand, dass den bürgerlichen Verteidigern die selbstgeschaffenen ökonomischen Verhältnisse wie eine Naturnotwendigkeit erscheinen, haben bereits Horkheimer und Adorno mit ihrer Lesart des Marxschen Begriffs der ›zweiten Natur‹ (Dialektik der Aufklärung, New York 1944, Neuauflage Frankfurt/M. 1969) Rechnung getragen. Auch wenn es heute scheinen könnte, als sei die Zeit darüber hinweggegangen: Wenn man sich, wie Thielemann, auf die vor allem von den Theoretikern der Neuen Frankfurter Schule weiterentwickelte Diskursethik beruft, sollte man schon auch auf deren theoretische Tradition ein Auge haben. Die These vom Umschlag der (bürgerlichen) Aufklärung in Repression ist bei allen Vorbehalten, die man gegen sie vorbringen könnte, gehaltvoller als die ahistorische Behauptung, der Ökonomismus habe dieselbe noch nicht durchlaufen. Wie soll man sich das denn vorstellen? Sind die heute tonangebenden Wirtschaftswissenschaftler und Manager per Zeitmaschine aus dem achtzehnten ins einundzwanzigste Jahrhundert transferiert worden?

Das ist natürlich eine rhetorische Frage, doch überspitzt sie die Problemlage nicht mehr als die oben zitierte Behauptung, die wohl eher als polemische Rechtfertigung des Ansatzes der IWE zu verstehen ist, denn als ernstgemeinte analytische Aussage. Thielemann beruft sich im Wesentlichen auf die Kantische Ethik als letztbegründender Instanz und damit auf die aufklärerische Tradition (Deutschlands). Das könnte man, bei aller Sympathie für den kategorischen Imperativ, zu Beginn der zweiten Dekade des einundzwanzigsten Jahrhunderts durchaus ›naiv‹ nennen.

Andererseits verhält es sich mit diskursiven Auseinandersetzungen ein bisschen wie mit dem Tennis: Man kann nur so gut sein, wie die Gegenpartei erlaubt – sofern man es nicht vorzieht, in postmoderner Manier den Diskurs zu übersteigen und auf einer Metaebene weiterzumachen (oder, um im Bild zu bleiben, den Tennisschläger mitten im Spiel fortzuwerfen und auf dem Schiedsrichterstuhl Platz zu nehmen). Als Wirtschaftsethiker mit akademischer Ausbildung in Volkswirtschaftslehre bleibt Thielemann der ökonomischen Logik und Begrifflichkeit verpflichtet. Die Apologeten des freien Marktes indes, die er nicht mit dem in der Öffentlichkeit verbreiteten Etikett des ›Neoliberalismus‹ belegen mag, weil dieses den Begründern der Sozialen Marktwirtschaft zustehe (deren ordnungspolitisches Denken gerade nicht von Marktgläubigkeit, sondern, im Gegenteil, von Marktskepsis geprägt gewesen sei) führen sich, je länger die Krise dauert und je größere volkswirtschaftliche Schäden die außer Rand und Band geratenen Verantwortlichen in den Konzernen, Banken und Vermögensverwaltungsgesellschaften anrichten, mehr und mehr wie Autisten auf, indem sie jeglichen Einwand, der sich nicht ihrem engen Denken verpflichtet zeigt, mit den immer gleichen Formeln und Parolen niederschreien – sofern sie nicht einfach stur darüber hinwegsehen. Der Autor geht auf diesen Umstand nicht ein, sondern nimmt die durch die Medien verbreiteten Äußerungen der sattsam bekannten ›Experten‹ ausnahmslos zum Nennwert.

Zu den unantastbaren Gewissheiten der Marktgläubigen gehört die Doktrin vom »Vorteilstausch« (S. 36 f.): Anbieter und Nachfrager treffen sich auf dem Markt zu einem freiwilligen Austausch. Dieser erfolgt stets zum beiderseitigen Vorteil, anderenfalls würde er ja nicht stattfinden, Punkt. Thielemann nimmt dieses simple ›Gesetz‹ zum Anlass, den so argumentierenden Vertretern des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams vorzuwerfen, sie hätten das Wettbewerbsprinzip nicht verstanden. Genau besehen bestehe der Markt nämlich nicht aus zwei Parteien, sondern aus dreien: den beiden Tauschpartnern und einem Dritten, der bei dem Geschäft außen vor bleibe. Dieser Dritte kann ein Unternehmen sein, dessen Angebot zu teuer ist oder aus irgendwelchen anderen Gründen nicht genau der Nachfrage entspricht, aber auch ein Mensch, der nicht genug bezahlen kann, um ein Angebot anzunehmen oder der einfach zu spät zum Zuge kommt. Die jüngste Krise bietet dem Autor genügend Anschauungsmaterial, das Existenzbedrohende solcher Niederlagen im Wettbewerb deutlich vor Augen zu führen. Das Wesen dieses Prozesses bezeichnet er mit dem von Joseph Schumpeter zur Beschreibung der stetigen Umwälzung und Erneuerung der Produktionsfaktoren im Kapitalismus gebrauchten Oxymoron »schöpferische Zerstörung« (S. 41). Den Marktapologeten wirft er vor, dass sie die beiden Seiten des Prozesses Schöpfung und Zerstörung »nicht simultan« (S. 48) denken würden. Der Vorwurf, die Opfer des Wettbewerbs zu unterschlagen, ist angesichts der Doktrin vom »Vorteilstausch« sicher gerechtfertigt, doch der Autor hat mit seiner Verwendung dem Schumpeterschen Ausdruck stillschweigend eine neue Bedeutung gegeben: Historisch betrachtet dürfte dieser eher an Theorien evolutionärer Entwicklung angelehnt sein als an irgendwelche Überlegungen aus der praktischen Philosophie. Gerade das Simultane von Schöpfung und Zerstörung ist ja aus der evolutionären Vogelschauperspektive das ›Tröstliche‹, das die Opfer des Fortschritts rechtfertigt.

Hinsichtlich der ethischen Dimensionen argumentiert Thielemann stringenter (wenngleich analytisch nicht unbedingt sauberer) bei seiner Rückführung des gegeneinander Aufrechnens von »Gewinnern« und »Verlierern« des Wettbewerbs auf den Utilitarismus (S. 55 ff). Damit hat er offenbar jene Ethik, die den Wirtschaftswissenschaften ›stillschweigend‹ zugrunde liegt, benannt. Diese allerdings, um auf den eingangs erhobenen Vorwurf zurückzukommen, als ›vormodern‹ und ›unaufgeklärt‹ zu bezeichnen, ist doch, um es milde auszudrücken, ziemlich gewagt. Versteht man die geistige Bewegung der Aufklärung als Abwendung von außer- oder überweltlichen Faktoren im Sinne einer ›Säkularisierung‹, dann kann der Utilitarismus sogar beanspruchen, ›moderner‹ zu sein, als die Kantische Transzendentalphilosophie. Eben darin liegt ja auch seine Schlagkraft begründet. Sie besteht unter anderem in der problemlosen Adaption zeitgenössischer natur- und humanwissenschaftlicher Erkenntnisse (von der Evolutionstheorie über die Psychologie bis hin zu den in jüngster Zeit mehr und mehr in den Vordergrund tretenden Neurowissenschaften) zur Begründung ethischer Urteile. Die Geltung der Kantischen Ethik hängt demgegenüber von der Akzeptanz der transzendentalen Kategorie der ›Menschheit‹ ab, die mehr beinhaltet als im biologischen Gattungsbegriff zum Ausdruck kommt. Der Utilitarismus ersetzt diese durch den zwar ebenfalls fiktiven, aber enger mit dem konkreten gesellschaftlichen Kollektiv verknüpften eudämonistischen Begriff des ›Glücks der größten Zahl‹.

Streng genommen besteht das Vergehen der Vertreter des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams auch nicht darin, dass sie Gewinner und Verlierer gegeneinander aufrechnen – das tun sie nicht – vielmehr bilanzieren sie Gewinne und Verluste; der Sündenfall ist die nur behauptete Identität von maximalem ökonomischem Nutzen und dem, utilitaristisch gesprochen, ›Glück der größten Zahl‹ (oder, um es mehr im Sinne der deutschen Aufklärung zu sagen, dem ›Allgemeinwohl‹). Thielemann selbst drückt dies so aus: »[D]ie ›Gesamtsumme des Glücks‹ lässt sich leicht mit dem Bruttoinlandsprodukt, also der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung eines Landes beziehungsweise der Welt, identifizieren.« (S. 57). – Das aber hat nichts damit zu tun, dass der Utilitarismus eine »abstruse Ethik« (S. 56) wäre, sondern hängt schlicht und ergreifend mit der unreflektierten methodischen Beschränktheit der Ökonomik zusammen, die ein quantifizierendes Denken in Bilanzen betreibt, während ihre Protagonisten unumstößliche gesellschaftliche Wahrheiten auszusprechen wähnen. Benthams ›größtmögliches Glück der größtmöglichen Zahl‹ ist im Übrigen viel zu unbestimmt, um ohne Weiteres zu einem bilanzierenden Denken zu führen. Und auch der ›Nutzen‹ im eudämonistischen Sinn ist nicht umstandslos als ökonomischer Vorteil zu deuten (auch wenn die meisten Ökonomen dies gewiss ohne großes Nachdenken tun würden).

Dass sie es tatsächlich tun, zeigt Thielemann sehr anschaulich im dritten Kapitel, in dem es um »die Totalisierung des Marktes« (S. 65) geht. Hier muss er keine abstrakten ethischen oder ökonomischen Überlegungen anstellen; es genügt, entlang der öffentlichen Äußerungen prominenter Manager, Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmensberater zu argumentieren, um zu verdeutlichen, wie das unternehmerische Gewinnstreben in den letzten Jahrzehnten nach und nach von einer Ideologie der Gewinnmaximierung um jeden Preis abgelöst wurde. Der zentrale Begriff dieser Praxis lautet »Opportunitätskosten« (S. 73). Damit sind noch nicht realisierte Möglichkeiten zur Gewinnsteigerung gemeint, die sich in einem Unternehmen quasi ›verstecken‹. Dieses ›Potenzial‹ wird nun, und hierin besteht der eigentliche Clou der marktradikalen Ansichten, als tatsächlicher Verlust angesehen. Wenn ein Manager seine Aufgabe vordringlich darin sieht, das eingesetzte Kapital bestmöglich zu vermehren, resultiert aus der Aufdeckung solcher »Opportunitätskosten« unmittelbar eine Schuld: Er hat seine Pflicht gegenüber den Kapitaleignern vernachlässigt. Diese ethische Pointe freilich übersieht der Autor. Vielmehr richtet er sein Augenmerk auf die Verursacher solcher Radikalisierung: »Die ›jungen Männer‹, das sind heute ehrgeizige Absolventen von Managementschulen, Berater von McKinsey oder Manager von Private-Equity-Fonds. Diese treten an – ohne dass es ihnen bewusst wäre –, alle rentabilitätsfremden Gesichtspunkte (oder eben Traditionen und Gewohnheiten) in den Geschäftsbeziehungen aufzuspüren beziehungsweise zu ›entdecken‹ (Hayek) – um sie systematisch zu eliminieren.« (S. 75)

Trotz des Drucks, der von solchen »Erneuerern« des Kapitalismus ohne Zweifel ausgeht, sieht Thielemann die Manager der kapitalisierten Großunternehmen nicht nur als »Getriebene« an, sondern, da sie dank ergebnisorientierter Bezahlung mit der Reduzierung von »Opportunitätskosten« ihren eigenen Vorteil verfolgen, genausogut als »Treiber des Kapitals« (S. 84 ff.). Die Schuld allerdings allein bei den Managern, Beratern und Fondsverwaltern zu suchen, erscheint ihm »zu einfach« (S. 90). Mit Weber konstatiert er die »Instanzlosigkeit des Wettbewerbsprozesses [Hervorhebung im Original, J. B.]« (S. 94). Und genau an dieser Stelle sieht er den Ansatzpunkt für die Wirtschaftsethik, denn die Sachzwänge, welche das System hervorbringe und welche die von den Marktgläubigen angepriesene »Freiheit« desavouierten, beruhten letztendlich darauf, »dass der Prozess praktisch von Anfang an, seit Adam Smith, mit den falschen Kategorien beleuchtet wurde, beziehungsweise dass er eher verdunkelt als hell in seiner Problematik ausgeleuchtet wurde.« (S. 95 f.). – Läuft es am Ende also doch auf die Systemfrage hinaus?

So weit geht der Autor nicht. In einer kursorischen Abhandlung über ethische Grundfragen legt er im vierten Kapitel die argumentativen Schwächen der Gegenseite bloß, die mit ihren holzschnittartigen Simplifikationen das gesellschaftliche Handeln auf ein eindeutiges Entweder/Oder herunterbrächen (entweder Freiheit, Eigennutz, Fortschritt oder Solidarität, Altruismus, enteignende Umverteilung) und die damit den Gedanken der Fairness negierten, der, anders als die Verpflichtung zur Solidarität, eine, mit Kant gesprochen, »unnachlassliche« Pflicht sei (S. 114), die schon aus der Tatsache folge, dass ausnahmslos alle Einkommen in modernen Gesellschaften arbeitsteilig erwirtschaftet würden.

Dass es die radikalisierten Manager und ihre Apologeten aus dem akademischen Betrieb an Fairness missen lassen, ist freilich mittlerweile zum Allgemeinplatz geworden – oder doch nicht? Seine größten Stärken entfaltet der Ansatz der IWE, wenn Thielemann im fünften Kapitel anhand zahlreicher Beispiele die Rechtfertigungsversuche von Managern, Wirtschaftswissenschaftlern und Politikern bloßstellt, die uns in den vergangenen Jahren von der ›Alternativlosigkeit‹ des eingeschlagenen Weges überzeugen wollten. Dabei unterscheidet er zwischen zwei grundsätzlichen Strategien: Dem Ökonomismus und dem Separatismus. Ersterer verbreite als »Glaube an die höhere Vernunft des Marktes« (S. 132) die Überzeugung, eine ethische Haltung sei überflüssig, da der am Markt verfolgte Eigennutz selbst bereits durch den Wohlstand, den er hervorbringe, ethisch legitimiert sei. Der Autor nennt diese funktionalistische Haltung eine »Ethik ohne Moral« (ebd.). An dieser Stelle führt er auch aus, weshalb er die Vertreter solcher Lehren für unaufgeklärte Anhänger vormoderner Metaphysik hält: »Denn wenn wir es nicht sind, die autonom das ethisch Richtige bestimmen, dann muss eine überpersönliche Macht unterstellt werden. Jede Ethik ohne Moral ist im Kern metaphysisch.« (S. 135). Spätestens hier tritt klar zutage, wie dringend die Wirtschaftswissenschaften einer interdisziplinären Öffnung bedürfen. Zwar ist Thielemann nicht wie zahllose seiner Kollegen dem Wahn verfallen, die Ökonomie habe mit der Mathematisierung den mittelalterlichen Sumpf sinnlosen scholastischen Spekulierens ein für alle Mal verlassen und den Status einer exakten Wissenschaft, gleichrangig neben Mathematik und Physik, erlangt, doch auf seine Weise macht auch er es sich ein bisschen zu einfach, wenn er meint, es genüge, das Kantische autonome Subjekt aufs Neue in seine Rechte einzusetzen (und ganz nebenbei zweihundert Jahre sozial- und kulturwissenschaftliche Reflexion und Forschung einfach zu übersehen).

Damit soll nun keineswegs mit kulturalistischen Argumenten die Vernunftfähigkeit des Menschen in Abrede gestellt (und gar der Ökonomismus gerettet) werden. Aber dem Gegenüber in einem strittigen Diskurs einfach vorzuwerfen, er betreibe Metaphysik, ist ein alter Hut, der niemanden mehr erregt, schon gar nicht den Angehörigen einer Wissenschaft wie der Ökonomie, deren Omnipräsenz ja nicht darauf beruhe, dass die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Publizistik sich zu einer Sekte der »Marktgläubigen« zusammengeschlossen haben. Thielemann scheint indes von dieser Annahme auszugehen, und so beschränkt er sich in seiner Analyse auf die entsprechenden Einlassungen der Gegenseite, ohne zu differenzieren, ob es sich dabei um wissenschaftlich beglaubigte Aussagen, politische Statements oder gar nur PR-Texte handelt, die gewiss nicht dazu dienen, einen ethischen, geschweige denn (wirtschafts-)wissenschaftlichen Diskurs zu führen, sondern bestenfalls Schlagworte aus beiden aufgreifen, um Imagepflege zu betreiben.

Das »separative Verständnis von Wirtschafts- und Unternehmensethik« (S. 150 f.), um dies noch zu Ende zu führen, besteht nach Thielemann und Ulrich in einer »Zwei-Welten-Konzeption«, die ökonomisches und ethisches Verhalten strikt voneinander trenne, und ethische Defizite der Gewinnmaximierung durch Spenden oder andere nachgelagerte »freiwillige« Aktivitäten zu kompensieren suche. Die Widersprüche solcher Praktiken aufzuzeigen, kostet den Autor keine besondere Mühe.
Die IWE des St. Gallener Instituts preist er am Ende des Kapitels gewissermaßen als dritten Weg, der die zuvor aufgezeigten Fehler vermeide. Letztendlich läuft seine Argumentation auf die Verteidigung des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates und die Forderung eines klaren Ordnungsrahmens für die Wirtschaft hinaus, eigentlich alles Selbstverständlichkeiten, sollte man meinen. Die spannende Frage lautet deshalb: Warum verstehen sich diese Grundvoraussetzungen unseres Gemeinwesens heute anscheinend nicht mehr von selbst, und zwar offensichtlich gerade bei jenen, die sich selbst als Führungseliten seiner privaten und staatlichen Institutionen andienen? Diese Frage stellt sich nach der Lektüre von Thielemanns Buch noch viel dringlicher, ohne dass man auch nur eine Ahnung erhielte, wie eine halbwegs zufriedenstellende Antwort lauten müsste. Die einfache Empfehlung, »den Markt zu begrenzen« (S. 233), ihn in »gesellschaftliche Werte und Normen« (S. 235) einzubetten und nicht völlig auf die »Lebenswelt« übergreifen zu lassen, ist viel zu betulich, um im gegenwärtigen Stadium der Entwicklung noch Aussicht auf Erfolg zu haben.

Jörg Büsching