Vorwort

Was heißt und zu welchem Ende verordnet die Politik ihren Bevölkerungen Reformen? Glaubt man den Politikern, dann liegt die Antwort in der Koinzidenz von Parteizielen und gesellschaftlichem Interesse. Die Reform leistet, worin die Interessenpolitik versagt: die praktische Einheit aus Notoperationen zum Zweck der Selbsterhaltung der existierenden Gesellschaft und der Annäherung an eine gewünschte Norm des Zusammenlebens. Selbstverständlich ist diese Beschreibung topischer Natur. Sie fügt die Volksweisheit Aus der Not eine Tugend machen in eine kleidsame Formel, ohne zu verschweigen, dass es schöner wäre, aus dem Vollen zu schöpfen, wären nicht – nun, wären nicht die Zeiten so, wie sie sind, und eine gelegentliche Härten einschließende Bewirtschaftung der vorhandenen Ressourcen das Gegebene. Der eine Reformbegriff erinnert an den anderen, die Wendung von den ›notwendigen Reformen‹ an die von den Reformen, für die ›diese Gesellschaft reif‹ geworden ist. Unvergessen bleibt die Schrecksekunde, in der die von den Reformländern des ehemaligen Ostblocks auf den Westen zurückschlagende Formel von den ›notwendigen Anpassungen‹ noch Forderungen nach einer ›Reformpause‹ und dem ›Aussetzen‹ der Reformpolitik einschloss, bevor der Begriff der Reform, Programmen und Erfahrungen auf dem Gebiet der postsozialistischen Gesellschaften folgend, den neuen Gegebenheiten angepasst wurde.

Der vielbeschriebene Marsch in die Netzgesellschaft hat den Begriff der Reform seines normativen Inhalts beraubt, wenngleich nicht ganz: die Universalisierung des Programms der Selbstbereicherung, kurz Neoliberalismus genannt, folgt ihren ökonomischen Imperativen, als verstünde sich der Rest von selbst. Welcher Rest? Dieser Rest, eine absurde Größe après la lettre, fügt sich Theorien, in denen das gesellschaftlich-ökonomische Wohlergehen nicht einmal ein Schattendasein fristet. Auf der anderen Seite hat das gefräßige Konstrukt der Gesellschaft ›Kultur‹ als eigenständige Größe nahezu zum Verschwinden gebracht. Seltsam, immerhin: Das hemmungslose Auseinanderdriften der Weltbeschreibungen setzt das Elend der Welt auf beiden Seiten ohne weiteres voraus.

Warum Reformen scheitern: grob gesagt, am verfehlten Einsatz vorhandener Ressourcen oder an unvorhergesehenen (aber kalkulierbaren) Effekten. Da der Reformwille allein über alles geht, gilt auch die nicht stattgehabte Reform bereits als gescheitert – am politischen Gegner oder den Machtmechanismen im allgemeinen. Wer so redet und denkt, bleibt (vorerst) innerhalb der Grenzen des Reformparadigmas – aus guten Gründen, solange die ökonomische Modernisierung die öffentliche Agenda beherrscht. Der ›Rest‹ kommt ins Spiel, sobald man sich diesen Grenzen nähert und sie löchrig oder sogar transparent vorfindet. Absurditäten von ibanskischer Plausibilität wie die deutsche Rechtschreibreform machen, darin anderen gleich, Loyalitäten und Zwänge sichtbar, die im Sinne des Paradigmas besser unter der Decke geblieben wären. Dass es hier buchstäblich um nichts geht – oder, wie die Gegner sagen, um den kondensierten Ausdruck der Erfahrungen von Generationen –, lässt die Reform ein wenig krasser als sonst als den magischen Ort erscheinen, an dem die Gesellschaft ihre Erfahrungen tauscht. Das Schwinden der Gesellschaft, wenn es denn stattfindet, ist offenbar weder durch Steuer- noch durch Gesundheits- oder Bildungsreformen zu beeindrucken, es gilt womöglich dem Reformparadigma selbst. Dergleichen sagt sich leicht dahin, es ist, als Rede, brauchbar, solange es dazu taugt, Analysen wie die hier zu versammelnden anzustoßen und in Gang zu halten.

»Ein demokratisches europäisches Gemeinwesen – ›res publica europea‹ – wird zur Wirklichkeit, wenn seine Bürgerschaft – ›populus europeus‹ – sich als solche wahrnimmt und in der Europäischen Union ihre eigene Sache wieder erkennt.« Was Peter Schiffauer in seinem Iablis-Beitrag formuliert, könnte eine Anwendung in der Überprüfung des reformerischen Grundkonsensus finden, der, als Teil des europäischen Prozesses, allzu viel voraussetzt, so dass sich am Ende das Wort Reform als eines der Haupthindernisse bei der Neu- und Wiederentstehung Europas erweisen könnte: mancherlei wartet darauf, durchgesetzt zu werden, dem der Reformmantel hastig übergeworfen wird, weil es der individuellen und partizipatorischen Vernunft weit weniger entgegenkommt als den sich fortzeugenden kollektiven Defiziten.

Mai 2007
Die Herausgeber

Seitenanfang | Startseite  IABLIS Jahrbuch für europäische Prozesse 6. Jg. 2007