Steffen Dietzsch
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Reform
anthropologische Aphorismen


Nicht von ungefähr ist aus der Reformation die Reform geworden.
Hans Blumenberg
1.

Einem kritischen Stereotyp zufolge scheitern Reformen immer. Das scheint zum Begriff ›Reform‹ zu gehören. Demzufolge wäre eine ›Reform‹ ein bestimmter organisatorischer, gesellschaftlicher Handlungsvollzug innerhalb eines politisch regulierten Zeitabschnitts (Legislaturperiode), dessen Resultat als genau das Defizit identifiziert wird, das auszugleichen eine – neue – Reform nötig macht.

2.

Dass Reformen ›nachher‹ niemals das erfüllen, was sie zuvor versprachen, ist ein Widerspruch, der mit den Bedingungen ihrer Möglichkeit zusammenhängt: dass sie exklusiv auf dem (immer nur beschränkten) Handeln des Menschen gründen. Sie gründen also nicht auf Natur, wie exemplarisch bei Georg Forster, dem z.B. Revolutionen ein Werk der Gerechtigkeit der Natur waren, aber sie gründen auch nicht auf Offenbarungen (gleich welcher Observanz).

3.

Reformen sind gegenwartsbezogen und wegen dieser Eigenschaft auch begrifflich nicht auf einer Ebene mit dem Phänomen ›Revolution‹, etwa als deren bloß ›reduzierte‹ (›verräterische‹) Form. Revolutionen wollen immer das gegenüber der (bedürftigen) Gegenwart reine (vollständige) Andere – das von Gestern (Theokratie) oder das von Übermorgen (Kommunismus). In Revolutionen (jedenfalls bei denen, die diesen Namen verdienen) wird schon programmatisch die anthropologische Basis der in Aussicht genommenen Emanzipation mit in die Umwälzung (= der Wortsinn von Revolution) einbezogen. Sie will alle korruptiblen Verhältnisse, in denen Menschen stehen und zugleich auch die Selbstverhältnisse des Menschen aufsprengen und ihn dieser fesselnden, d.h. ihn aller eigentlich fremden sozialen und natürlichen Verkehrsformen entbinden – hin zur, wie es dann exemplarisch bei Marx heißt ›Ineinssetzung von Humanisierung der Natur und Naturalisierung des Menschen‹. Das ist das identitätsphilosophische Axiom von Revolution.
Diejenigen Aktionen, die man dagegen Reformen nennt, wollen in den mit ihnen verbundenen emanzipativen Akten deren anthropologische Basis selber unangetastet lassen. Wenn man hier ein philosophisches Prinzip heranziehen wollte, dann eines aus einer Philosophie des Werdens.

4.

Das definiert einen grundlegenden Unterschied beider Handlungstypen: einerseits den instrumentalistischen Impetus der Reform und andererseits den kreationistischen Anspruch der Revolution. Dabei ist es egal, ob man sie metaphorisch als Lokomotive (Marx) oder Notbremse (Benjamin) im Menschenbetrieb betrachtet – es geht immer um die quasi ›soteriologischen‹ Dimensionen, die zu bewältigen seien, um die Freisetzung des wirklich menschlichen Menschen zu bewerkstelligen. Das eint theokratische wie soziale Erlösungsanstrengungen. Und deshalb ist auch – ganz anders als bei der Reform – der vollständige Begriff der Revolution klar bestimmt. Aber auch ihr Ende: Diese letzte Phase von Revolution wird (seit dem Ende der Großen Revolution der Franzosen) mit einem abstrakten allgemeinen Namen bezeichnet, gewissermaßen ihre Pathosformel: Thermidor. Das ist der Zeitpunkt, da – meist angezeigt durch einen symbolischen (häufig blutigen) Akt – das Apogäum der Erlösungsarbeit überschritten wird.

5.

Reformen nun haben nicht diesen ›letzten‹, konsequentialistischen Anspruch, sie wollen Aktionen im politischen Raum bleiben. – Aber: Dieser ihr ›mittlerer‹ Einsatz und Anspruch ist eben auch gleichermaßen deren Bedingung wie Konsequenz. Zugleich also Gewähr für (a) die ›irenische‹ Verlaufsform und (b) ihr immerwährendes Verlaufen (im Doppelsinn des Wortes).
Wollte man mit der Revolution über den (›alten‹) Menschen hinaus – und (so alle bisherige Erfahrung) musste dabei am Menschen scheitern, so ist es bei Reformen paradoxerweise gerade auch wieder der anthropologische Bestand, der ihr jeden ›absoluten, finalen Zustand‹ unmöglich werden lässt.

6.

›Gelingen‹ hieße dann in Bezug auf Reformen, dass etwas mit einem Prozessbegriff zu erfassen wäre; es ginge um die entsprechende Markierung bzw. Bestimmung eines Stabilen innerhalb einer dynamischen, amorphen Verlaufsform. ›Gelingen‹ bezeichnet dann hier immer etwas nur temporäres.
So sieht man betroffen einen Widerspruch: dass dem Anthropos nicht zu entkommen ist, gleichwohl man ihm zu entfliehen sucht. Bliebe vielleicht nur die Religion? Nein, gerade die Politik ist zunächst die alte Kulturtechnik, den Menschen mit seiner exzentrischen Positionalität nicht ins Schlingern geraten zu lassen.

7.

Eine dieser paradoxalen Verkehrsformen ist also die Politik, ihre alltägliche Konfiguration – die Reform. Sie wird unternommen zu einem einzigen Zweck, der zugleich der Zweck von Politik ist: Freiheit – in der Polis – zu garantieren. Freiheit nicht als ein subjekt-beliebiges, sondern als ein durch Institutionen produziertes und getragenes Dasein zu begreifen. Sie wird nicht ein für allemal erreicht, sondern via politischem Handeln (als Abweichungskorrektiv, das wegen einer anthropologischen Dynamik der menschlichen Verkehrsverhältnisse immer erforderlich bleibt). Reformen sind unter diesen Auspizien ständige »Selbsttransformationen des affektiven Lebens« (Manfred Walther, 1992 in einer Kondylis-Rezension).

8.

Reformen sollen vor allem, und daran werden sie gemessen, Entlastung garantieren. Entlastungen, die wegen der naturgeschichtlich geformten Sonderbedingungen von uns Menschen (die wir uns nicht mehr instinktgeleitet verhalten) erforderlich werden. Diese Entlastungen werden institutionsförmig organisiert, d.h. wir als Menschen erhalten uns untereinander mittels dieser praktisch-geistigen Institutionen, die wir aber nicht parasitär nutzen, sondern an deren Regeln wir uns binden, wodurch wir dann einen Mehrwert an Freiheit erzielen. Damit rückt aber die Reformfähigkeit zu einem schlechthin zentralen Kriterium der Bedingung der Möglichkeit von Freiheit auf.

9.

Das heißt aber auch: Reformfähigkeit ist nicht nur eine Leistung (oder die Erwartung) der die Menschen integrierenden – äußeren – Institutionen, sondern hat selber eine anthropologische Dimension. Die wird im Begriff des Menschen als eines Selbstverhältnisses (des Subjekts, das ein ›zugleich‹ von Ich und eines Anderen, nichtfaktischen Selbst ist) namhaft gemacht. Das meint kant-technisch ausgedrückt das folgende ›Wechselspiel‹ im Menschen: Die Reflexionsleistung des Subjekts auf sich selbst als empirisches, so Kant (in der Religionsschrift, Allg. Anm. z. ersten Stck.) wäre zu begreifen als die allmähliche Reform für die Sinnesart und die ist zugleich kontrastiert mit einer Revolution für die Denkungsart, die die transzendental-kognitive Dimension desselben Subjekts betrifft. D. h. der Selbstbezug des Ich auf seine interindividuelle Signatur erscheint nach ›außen‹ gewendet als – allmähliche – Reform, während er nach ›innen‹ – auf die Spontanität des Denkens bezogen – als Revolution erscheint. In der Alltagskommunikation meint das, dass man im Denken schneller, radikaler, variabler, experimenteller ist als im Fühlen.
 
10.

In Staatsverhältnissen nun gibt es – auch wieder in der Kantischen Sicht – eine solche Gegenläufigkeit, dass sich bei einer übereilten Reform immer auch das Kontrastbild einer gründlichen Reform herausbildet (so der Terminus im ersten Anhang Zum ewigen Frieden). Mit der ersteren Bezeichnung wird von Kant die durch das ›Ungestüm einer von schlechter Verfassung erzeugte[...] Revolution‹ umrissen.
Dem steht entgegen ein Verfahren, das dann Reform aus Prinzipien genannt wird. Da es eine der anthropologischen Einsichten aus jener Epoche der Denk- und Kulturkritik ist, dass der Besitz der Gewalt gerade das freie Urteil der Vernunft verderbe, so ist seit Kant ausgemacht, dass solche Reformen nicht von einer machtgestützten Vernunft, also nicht von ›Philosophen-Königen‹ ausgehen könne. Seither sind Politiker und Philosophen begrifflich zu unterscheiden: während jene der (Staats-)Klugheit verpflichtet sind, obliegt diesen die Reflexion auf das ›freie Urteil‹.

11.

Reformen denken, heißt dann u.a. ›Übergänge‹ zu verstehen. – Das aber wird durchs Denken dann verstellt, wenn man, was gegenwärtig leichtfiele, dem anhängt, was Kant die ›terroristische‹, also die schreckensförmige, Vorstellungsart der Menschengeschichte nannte (in Der Streit der Fakultäten) - wie exemplarisch Simmel in der Beschreibung der ›Tragödie der Kultur‹ (1911) oder Walter Benjamin, der (dann nach dem Großen Krieg) unser Menschengeschick nicht so sehr auf eine Katastrophe zutreiben sieht, sondern meint, dass es gerade so immer weitergehe, sei die Katastrophe… Nicht besser wäre es um das Gegenbild dieser Vorstellung bestellt, die dann von Königsberg aus ›eudämonistisch‹ genannte Denkungsart, die unserer Gattung einen unverzagten Fortgang zum Besseren unterstellt.

12.

Ein ›Drittes‹ wäre es nun, im Denken nicht auf so oder so konfigurierte finale Zustände hinzustreben, sondern den Blick auf Lebensprozesse (Cassirer, 110) selber wieder zurückzuwenden, auf dasjenige Medium also, dessen Betriebsform es eben ist, in den Worten Ernst Cassirers, zum »Vermittler zwischen Ich und Du [zu werden], nicht indem es einen fertigen Gehalt von dem einen auf das andere überträgt, sondern indem sich an der Tätigkeit des einen die des anderen entzündet.« Und hieran erkenne man auch, so Cassirer weiter, »warum die wahrhaft grossen Werke der Kultur uns niemals als etwas schlechthin Starres, Verfestigtes gegenüberstehen, das in dieser Starrheit die freie Bewegung des Geistes einengt und hemmt.« (Ib., 111)
›Reform‹ wäre dann der andere Name für das, was man den schöpferischen Prozess selber nennen könnte, dem das je Geschaffene nun nicht einfach gegenüber- oder entgegen steht, sondern deren geprägte Formen immer wieder von neuer Dynamik rekonfiguriert werden, wodurch das Geschaffene nicht in Starre verfällt, sondern dem Leben verwandt bleibt. Solche Unternehmungen verlaufen natürlich nicht in kurzen Zeitsequenzen, sondern eher in langen Wellen. Oder, mit den Worten von Kurt Röttgers: »Das Denken des Übergangs ist ein rastloses Denken.« (Röttgers, 414).

13.

Reformen sind experimentalphilosophisch betrachtet – mit diesem Kürzel bezeichnete Kant einmal seine Anthropologie – die je bestimmten Konstruktionsphasen des immerwährenden Selbstexperiments des Menschen –, allerdings mit der auch immerwährenden Folgelast, dass man sich so zwar der als ›Joch‹ erkannten Macht der Umstände zu entziehen sucht, aber sich zugleich an etwas ausliefert, das man eigentlich viel weniger kennt – nämlich sich selbst (vgl. Arnold Gehlens St. Gallener Vortrag v. 15. 1. 1952).
Dass also Reformen scheitern, dem wäre nicht nur resignativ zu begegnen, sondern es wäre nahezu ein Signum des Lebendigen. Denn: Reformen müssen scheitern, wie sonst könnten wir uns empor irren?

Literatur

BLUMENBERG, HANS, Begriffe in Geschichten, Frankfurt/Main 1998
CASSIRER, ERNST, Logik der Kulturwissenschaft,Darmstadt 61994
RÖTTGERS, KURT, Metabasis. Philosophie der Übergänge, Berlin 2002
WALTHER, MANFRED, Kondylisrezension, in: Studia Spinozana, 8 (1992)