Wolfgang Höhne
Von der Kinderknappheit
moderner Industriegesellschaften

Die zögernde Akademikerin

Ist es wirklich so, dass sich junge Akademikerinnen nicht mehr vermehren wollen? Gehört nicht der Sexualtrieb neben Atmung und Herzschlag zu den am tiefsten verwurzelten Instinkten des Menschen? Wie verstört also müssen Geschöpfe sein, wenn sie freiwillig auf den Wunsch nach Fortpflanzung verzichten? Derartiges kennt man sonst nur von Wildtieren im Zoo, denen die fremde Umgebung nicht behagt. Die Akademikerin jedoch bewegt sich in ihrem natürlichen, gewohnten Umfeld. Wie also erklärt sich dieses biologisch so vollkommen anormale Verhalten? Vor rund 120 Jahren verweigerte man den Mädchen den Zugang zur höheren Bildung unter anderem mit dem Argument, dass junge Frauen mit der Absolvierung des Abiturs unfruchtbar würden. Der ganze Lernstoff drohe sie zwischen ihren Zöpfchen derart zu verwirren, dass Langzeitschäden zu befürchten seien. Zwar können wir die unmittelbare Gefahr der wegen Überlastung durchbrennenden Mädchenhirne getrost ins Reich der altbürgerlichen Legenden abschieben, dennoch ist die Reproduktionsziffer bei Akademikerinnen signifikant niedrig – das ist eine Tatsache. Schlägt das Abi also etwa doch auf die Gebärfreudigkeit durch? Es sieht wahrlich so aus, als befinde sich der gebildete deutsche Weibchenbestand angesichts seiner Fruchtbarkeitsrate in einem sehr schlechten Zustand.

Wer sich die Mühe macht, nachzufragen, der erfährt Erstaunliches: Eigentlich wollen fast alle jungen Frauen in diesem Land einmal Kinder haben, auch die höher gebildeten. Sie wollen schon, nur: sie kommen einfach nicht dazu, weil ihr Terminkalender zu voll ist. Von den Frauen der Kriegsgeneration bekamen die Mädchen über Jahrzehnte hinweg gepredigt, dass Männer auch mal ausfallen können und es deshalb sinnvoll sei, eine Ausbildung zu haben – so als ›Plan-B‹, damit man auch als Hinterbliebene im Zweifelsfalle in der Lage sei, sich und die Kinder durchzubringen. Das klingt vernünftig, und außerdem ist es erlaubt. Mittlerweile ist das potentielle Notprogramm für den Fall der gefallenen Väter längst zum Hauptprogramm avanciert. Wer das Abitur hat, hat bessere Chancen; sie und ihr Kind werden nie hungern müssen. Wer einen Hochschulabschluss hat, derjenigen stehen noch mehr Wege offen; ihr und ihrem Kind wird es immer gut gehen. Wer Berufserfahrung hat, die hat endgültig ausgesorgt; ihre Kinder werden es einmal richtig gut haben, und wenn sie dann die nächsten drei Karrieresprünge auch noch gleich mitnimmt, wird sie ihren Kindern einmal alles bieten können, was man sich nur vorstellen kann. Dummerweise ist sie mittlerweile 39 und ein Mann, der bleibt, ist nicht in Sicht. Es wird alles getan für die Absicherung, damit auch noch in den unwahrscheinlichsten Fällen die für ein Kind nötigen Ressourcen vorhanden sein werden – die Peripherie stimmt also, nur das Hauptobjekt der ganzen Mühen, das Kind selbst, lässt auf sich warten. Vor lauter Vorsorge für den potentiellen Nachwuchs verpasst die Akademikerin in Sachen Fortpflanzung das Kerngeschäft.

Doch ist es wirklich nur die zu straff geplante Lebensführung, die so wenige Akademikerkinder das Licht der Welt erblicken lässt? Zahlreiche Untersuchungen stellten schon vor Jahren fest, dass die Bundesrepublik zu den kinderfeindlichsten Ländern der Welt gehöre. Die Politik reagierte. Prozente wurden verschoben, Freibeträge rangiert, Gelder beantragt und bewilligt. Stolz nannten die zuständigen Behörden ihre Leistungen in Zahlen. Danach stellten vergleichbare Untersuchungen erneut extreme Kinderfeindlichkeit in Deutschland fest und die Geburtenzahlen stiegen keinen Millimeter. Dieses Prozedere wiederholt sich nun seit etlichen Jahren. Es ist offenbar ziemlich gleichgültig, wie viele Gelder von einem staatlichen Topf in den nächsten geschaufelt werden, das Grundproblem der Kinderfeindlichkeit unserer Gesellschaft ist weniger eine Frage des Geldes denn der öffentlichen Einstellung. Jedenfalls sollte ein Land, das ein Geburtenzahlenproblem hat und dem ständig attestiert wird, kinderfeindlich zu sein, endlich beginnen, Eins und Eins zusammenzuzählen.

Medienmobbing

Was macht dieses Land so kinderfeindlich? Wie kommt es, dass in Deutschland eine Frau mit drei Kindern von vielen ihrer Mitbürger wie ein asoziales Subjekt argwöhnisch beäugt wird, gerade so, als passe jemand, der drei Kinder in die Welt setzt, nicht in diese Republik? Einer der Problemfaktoren liegt in dem Menschenbild, das seit den 70er Jahren von unserer Wohlstandsgesellschaft propagiert wird. Nur wer jung, frei, dynamisch und berufstätig ist, hat die Möglichkeit, sein Geld für jeden erdenklichen Schnickschnack zu verpulvern, den die Werbung anpreist. Wer frei und unabhängig ist, konsumiert üppig und spontan. Ehe und Familie bedeuten dagegen Bindung, Planung und Einschränkung, ein Graus für die schnelllebige Konsumgesellschaft. Da die Mutter vieler Kinder in der deutschen Gesellschaft schon längst vom Regelfall zur Ausnahme geworden ist und ohnehin nur wenig Geld übrig hat, bedient und hofiert die freie Wirtschaft viel lieber die lukrativen Regelfälle der Singles und begünstigt durch die gleichzeitige Missachtung der Familie die demographische Abwärtsspirale. Mittlerweile arbeitet die Wirtschafts- und Medienwelt seit Jahrzehnten an der Propagierung der coolen Singlegesellschaft, mit schönen, reichen Menschen, die sich alles leisten können und darüber ständig glücklich sind. Familie und Kinder stören beim Genießen. Also erfahren wir aus den Medien, dass Familienväter keine Helden sein können und dass Hausfrauen verklemmte Dummchen sind, die den Absprung ins richtige Leben verpasst haben.

Das Menschenbild, das unsere Medien in den letzten 40 Jahren zunehmend vermittelten, hat unsere Gesellschaft nicht viel weniger Kinder gekostet, als die Einführung der Pille. Wer auf dem Traumschiff dümpelt oder sich in der Schwarzwaldklinik vom Chefarzt bemitleiden lässt, der hat keine Kinder, und wenn doch, dann ist der Vater mindestens Generaldirektor. Man erinnere sich an die Piemont-Kirschen-Agentin aus der Werbung: diese elegante junge Dame, die mit dem Firmenjet eingeflogen wird, ein Kirschlein kostet, ihren Blazer glatt streift, sich vom örtlichen Personal umjubeln lässt und dann wieder in den Wolken entschwindet. Eine solche Frau hat keine Kinder und will auch keine, aber ihr Lebensideal wird jungen Mädchen seit Jahren als vorbildlich und erstrebenswert eingetrichtert. Die Piemont-Kirschen Agentin ist eine Frau, ›die es geschafft hat‹; genau das aber sind die Zutaten zu einer kinderfeindlichen Grundstimmung in der Gesellschaft. Wer mehr Kinder haben will, der müsste auch so einige der aktuellen Soaps und Fernsehshows verbieten. Eine derartige ›Zensur‹ wäre auch im Sinne einer echten Pressefreiheit; der Befreiung unserer Medien vom Lobbyismus der Wirtschaft und ihrer propagierten Konsumentenleitbilder. Mehr staatliche Medienkontrolle würde heutzutage längst keine Einschränkung der Pressefreiheit mehr bedeuten, sondern führte im Gegenteil zu einer ausgeglicheneren, von Erfolgsquoten unabhängigeren Gesamterscheinung. Wer mehr Kinder will, der muss eine Medienlandschaft schaffen, in der Kinder und Familien im Standardprogramm ihren festen Platz haben und nicht nur als Exoten oder ›Auslaufmodell‹ gehandelt werden.

Ausgeartete Aufsichtspflicht

Die Liste der kinderfeindlichen Faktoren in unserer Gesellschaft ist jedoch um einiges länger, denn auch an der für Kinder nötigen Infrastruktur hapert es bekanntlich gewaltig. Zwar schützen wir die Lebensräume von Kröten, Feldhamstern und Zugvögeln – und das ist auch gut so –, doch der Lebensraum für Kinder der Gattung Mensch wurde, zumindest in unseren Städten, nahezu auf null reduziert, ohne dass je einer ernsthaft Anstoss daran genommen hätte. Die Straße gehört seit über einem halben Jahrhundert zunehmend dem Automobil, und die Kinder sollten sich davon gefälligst fernhalten, damit es keine Kratzer im Lack gibt. Wohin sie allerdings stattdessen gehen sollen, das hat man ihnen bis heute nicht gesagt. Natürlich sind Spielplätze von Nutzen, doch sind sie kaum mehr als lächerliche Rettungsinseln in einer ansonsten restlos kinderfeindlichen Umgebung. Zudem sind diese Plätze für kleinere Kinder gar nicht erreichbar, sie müssen von ihren Eltern dorthin gebracht und auch wieder abgeholt werden, meist bleibt ein Elternteil dann die ganze Zeit über dabei, womit die Funktion des Spielplatzes als eigener, unabhängiger Kinderbereich weitgehend hinfällig ist.

Überhaupt ist die Notwendigkeit zur ständigen Aufsicht eines der Grundübel der heutigen Erziehungsarbeit. Es kostet die Eltern jede Menge Zeit und beraubt die Kinder ihrer Freiheit. Es ist nicht so, dass Eltern heutzutage keine Zeit mehr für ihre Kinder hätten – im Gegenteil. Eltern verbringen heute oft weitaus mehr Zeit mit ihren Kindern als zur legendären ›guten alten Zeit‹, nur: wofür wird diese Zeit verwendet? Endloses Hin- und Herkutschieren, Hinbringen, Abholen, Abliefern. Manche Kinder verbringen die gesamte Lebensphase bis zur vierten Klasse, ohne auch nur ein einziges mal alleine zur Schule gegangen zu sein. Es spricht Bände über die Kinderfeindlichkeit unserer städtischen Umgebung, wenn Eltern sich nicht einmal trauen, ihr zehnjähriges Kind alleine zur Schule gehen zu lassen.

Viele Mütter aber sind mit eben dieser, von den modernen Lebensumständen geforderten Dauerpräsenz im Leben ihrer Kinder überfordert, und die Sprösslinge sind durch die permanente Aufsicht genervt. Wie um alles in der Welt haben das die Mütter vor hundert Jahren geschafft, wenn sie sechs, sieben oder mehr Kinder zu betreuen hatten, fragt sich so manche junge Mutter heute ratlos, wenn sie mit ihrem einen wieder mal am Rande der Belastbarkeit angekommen ist. War es früher anders, und wenn ja, was war anders? Blieben die Kinder früher einfach unbeaufsichtigt? Ein Blick in die Berliner Kinderwelt z. B. anhand der Zeichnungen von Heinrich Zille macht schnell deutlich, inwiefern es die Mütter damals mit der Betreuung ihrer Jüngsten leichter hatten. Der entscheidende Unterschied bei den Kindern damals war: es gab ihrer in großer Menge, und das ist für die Betreuungsfrage von Belang.

Kinderwelten

Der Kinderanteil gemessen an der Gesamtbevölkerung ist ein höchst wichtiger Punkt. In diesem Zusammenhang kommt man einem Phänomen auf die Spur, das bis heute eher wenig Beachtung gefunden hat: bei der Kinderschar gibt es so etwas wie eine ›kritische Masse‹. Ist diese Masse überschritten, leben also in einem bestimmten Umfeld, einer Straße, einem Viertel oder einem Dorf genügend Kinder aller Altersklassen, so schaffen sich die Knirpse gewissermaßen ihre eigene Infrastruktur, die ihnen ein hohes Maß an Schutz und Sicherheit gewährt. Die Dreijährigen werden von den Sechsjährigen gehütet, die wiederum von den Zehnjährigen betreut werden usw. Diese eigene Welt der Kinder funktionierte genaugenommen seit Menschengedenken und ist auch schon hundertfach beschrieben worden, ohne dass man dabei ihre Bedeutung für die Erziehung und Sozialisation so richtig erkannt hätte, denn hinter den pittoresken ›Lausbubengeschichten‹ verbergen sich tiefgreifende soziokulturelle Faktoren.

Stets gucken sich die etwas jüngeren bei den älteren Kindern ab, was man im täglichen Dasein alles wissen und können muss, was Spaß macht, aber auch, wo potentielle Gefahrenquellen lauern. Ab einer bestimmten Größe betreut und erzieht sich eine Kinderschar gewissermaßen selbst. Eine alleinerziehende Mutter – in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein wie heute häufiges Kleinstfamilienmodell – konnte ohne größere Bedenken für mehrere Stunden unterwegs sein, ohne sich um ihr Kind sorgen zu müssen. Babysitter? Aufsichtspersonal? Alles überflüssig! Spätestens ab dem Grundschulalter ist ein Kind auf der Straße bestens aufgehoben bei Seinesgleichen. Kein fremder Erwachsener könnte es sich beispielsweise erlauben, sich an einem Kind aus einer fest zusammenhängenden größeren Kinderbande zu vergreifen – Emil und die Detektive lassen grüßen.

Fragwürdig ist damit auch die gängige Behauptung, die mangelnde Sozialkompetenz der heutigen Kinder gehe vor allem auf Versäumnisse im Elternhaus zurück – und entsprechende Gegenmaßnahmen greifen folglich ins Leere. Auch damals erfolgte der heute so bitter vermisste Teil der Sozialisation weniger im Elternhaus als auf der Straße im täglichen Gewimmel mit den anderen Kindern. Fällt aber die Kinderdichte einer Gegend unter einen schwer zu bestimmenden Faktor, so bricht diese eigene Kinderwelt irgendwann zusammen, mitsamt allen daran hängenden sozialrelevanten Funktionen. Mit dem ›kindlichen Universum‹ versiegt auch ein maßgeblicher Bestandteil der Erziehung, der frühkindlichen Ausbildung und vor allem der Sozialisation. Heute muss die Mutter neben den üblichen erzieherischen Aufgaben auch noch diejenige Erziehungsleistung an ihrem Sprössling erbringen, die von den zahlreichen Nachbarskindern übernommen worden wäre, denn diese Nachbarskinder gibt es nicht mehr, vor allem nicht in der nötigen, stufenlosen Altersstaffelung. Von wem soll das Kind nun lernen, wie man sich in einer Gruppe zurechtfindet, benimmt und einigt, aber auch, wie man seine Interessen durch geschickte Kompromisse und Rücksichtnahmen durchsetzen kann – kurz, all das, was wir heute unter den Begriff ›Sozialkompetenz‹ fassen? Das größte Problem, das, was unsere gegenwärtige Welt so kinderfeindlich macht, ist der Kindermangel selbst.

Die heutzutage so häufig angesprochene ›Medienverwahrlosung‹ der Jugend muss aufgrund dieser Erkenntnis ebenfalls anders beurteilt werden. Es geht nicht nur darum, dass die Kinder dem Angebot der schrillen Fernseh-, Video- und Computerspielewelt erliegen, weil sie undiszipliniert sind oder die Eltern sich nicht genügend um sie kümmern. Es geht darum, dass ihr Instinkt ihnen sagt, sich möglichst viel mit Gleichaltrigen zu umgeben, um von ihnen, oder besser noch mit ihnen gemeinsam zu lernen und Erfahrungen zu sammeln. Es ist der natürliche angeborene Drang zu sozialem Verhalten, zum Anschluss an eine Gruppe, an die Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft mit anderen Kindern gibt es nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in ausreichendem Maße, und so greift das Kind auf die angebotenen virtuellen Freunde aus dem Kinderprogramm und der Welt der elektronischen Spiele im Sinne eines Ersatzes zurück. Der zweifellos schädliche übermäßige Medienkonsum ist nicht zuletzt eine Reaktion der Kinder gegen die Vereinsamung aufgrund des Mangels an Altersgenossen.

Diesen Mangel können die Eltern durch mehr eigene Präsenz im Leben ihres Sprößlings nicht wirklich ausgleichen – im Gegenteil. Wie bereits oben angesprochen, sind heutzutage viele Kinder durch die ausartende elterliche Aufsicht eher genervt als beglückt. Auch die Gier nach dem Handy sollte nicht auf den alleinigen, wenn auch zweifellos vorhandenen Wunsch nach einem Statussymbol zurückgeführt werden; auch hier geht es um den Drang, möglichst viel Kontakt zu Gleichaltrigen zu halten. Häufig vernimmt man den Klageruf gestresster Eltern, sie wüssten einfach nicht mehr, was sie noch tun sollten, um den Medienwahn ihrer Jüngsten zu bändigen. Eine Antwort darauf wäre, die Kinder auch außerhalb der Schule möglichst viel mit anderen Kindern direkt zusammenzubringen.

Adenauer und die Folgen

›Kinder bekommen die Leute immer‹, stellte Adenauer einst abfällig fest und leitete davon ab, dass man für die Entstehung von Kindern staatlicherseits auch nichts zu tun brauche. Der Babyboom der 60er Jahre schien ihm Recht zu geben. Ohnehin wollte man sich in möglichst allen Bereichen von der jüngsten Vergangenheit distanzieren, und so wurde die in Fragen der Demographie ergebnisorientierte Familienpolitik der Nationalsozialisten in Bausch und Bogen zum perversen rassischen Zuchtprogramm erklärt und eingestellt. Bisweilen klang gar die Ansicht durch, dass jeder Staat, der sich zu aktiv um das Wohlergehen der in seinen Grenzen lebenden Kinder und Familien kümmere, wohl nichts anderes im Sinn haben könne, als gezielt Soldaten für einen Angriffskrieg zu züchten. Familienpolitik beschränkte sich von nun an auf das Vermitteln des konservativen Leitbildes einer glücklichen (katholischen) Familie mit klassischer Rollenverteilung, die sich erfolgreich selbst managt und um die der Staat sich folglich nicht weiter kümmern muss.

Der in der neuen Bundesrepublik so groß geschriebene Schutz der Privatsphäre war natürlich auch eine Reaktion auf das zuvor so penetrante Eindringen des Naziregimes in eben diesen Bereich, es war aber auch für den Staat ein willkommener Anlaß, sich aus der aktiven Familienpolitik zurückzuziehen. Zwar standen Ehe und Familie auch im neuen Grundgesetz unter dem besonderen Schutz des Staates, doch war mit diesem Schutz vor allem der Erhalt dieser zurückgewonnenen Privatsphäre gemeint, also Schutz vor Einmischung und nicht etwa Schutz vor Ungemach. Für Härtefälle gab es die nötige Unterstützung und über ledige Mütter durfte nun wieder mit der gebührlichen Verachtung die Nase gerümpft werden – die Welt war aus konservativer Sicht wieder in Ordnung. Andere litten unter dem berühmt-berüchtigten ›Mief‹ dieser Ära und begehrten 1968 auf. Vorbei war aber nicht nur die Kontrolle des Staates über die Familie, sondern auch die Zeit, als der Staat Jungvermählten ein Darlehen von rund dreitausend Reichsmark für die Gründung eines eigenen Hausstandes spendierte und jeder Mutter zur Geburt ihres Kindes gratulierte und sich bei ihr für das ›Geschenk‹, das sie dem Staat mit ihrem Kind gemacht hatte, bedankte.

War also das Kinderkriegen zuvor zur Staatsangelegenheit erklärt worden, so gab es unter Adenauer jenen allseits bekannten Rückzug ins Private – die Politik fiel in Sachen Kinder von einem Extrem ins andere. Wo ist der goldene Mittelweg? Gewiss, das einzelne Kind ist natürlich zuallererst eine Familienangelegenheit, die Kinder insgesamt unterliegen jedoch sehr wohl dem allgemeinen gesellschaftlichen Interesse und damit der Verantwortung des Staates. Die Bundesrepublik Deutschland aber hat diese Gesamtverantwortung für das Wohlergehen der kommenden Generation niemals wirklich übernommen, sondern sich mit ihrer Fürsorge fast ausschließlich auf den Bereich der Bildung und der Betreuung von Härtefällen beschränkt – sprich: der Staat springt nur dann ein, wenn die Familie ausfällt.

Es entstand zunehmend ein ›Aktion Sorgenkind‹-Staat, der sich oft und gerne der üppigen finanziellen Zuwendungen für diejenigen rühmte, die ›nicht auf der Sonnenseite des Lebens‹ stünden; gerade so, als könne man durch ostentative Fördermaßnahmen für Behinderte die Verbrechen der Nationalsozialisten an eben dieser Bevölkerungsgruppe nachträglich kompensieren. Nebenbei wurde dadurch seit den 70er Jahren eine regelrechte Unterstützungsindustrie für Zukurzgekommene hochgepäppelt, deren Gutmenschen heutzutage fleißig Problemkinder herbeireden, um sich und ihre überdimensionierten Institutionen trotz geburtenschwacher Jahrgänge weiterhin am Laufen zu halten. Ein gesundes, familienfreundliches Umfeld für den ›Normalbürger‹ aber hat unser Staat spätestens seit dieser Zeit weitgehend aus dem Auge verloren. Statt dessen entstanden unsere autofreundlichen Städte, in denen man kein Kind auch nur für fünf Minuten alleine lassen kann, ohne um dessen Leben fürchten zu müssen. Zwar wollte schon ab 1982 die Regierung Kohl das Thema ›Familie‹ wieder ganz groß schreiben und auch Rot-Grün erklärte die Familie zur ›Chefsache‹ – desgleichen die jetztige große Koalition – nennenswerte Auswirkungen haben derlei Absichtserklärungen aber ganz offenbar nicht, wie man an den auf eindeutig zu niedrigem Niveau stagnierenden Geburtenziffern nur nüchtern ablesen kann.

Auf das ›Du bist nichts, dein Volk ist alles‹ reagierte die Bundesrepublik trotzig mit einem immer überzogeneren Individualismus, in dem jeder Egozentriker sich selbst ›alles ist‹ und wo – ohne dass sich nennenswerter Widerspruch regt – bestritten werden darf, dass es so abstrakte Gebilde wie ›das Volk‹ überhaupt gibt. Inzwischen beklagen wir bitter den Mangel an Gemeinsinn und Verantwortlichkeitsgefühl in unserem Land, und selbst diejenigen, die über ein halbes Jahrhundert lang den uneingeschränkten Individualismus predigten, erkennen heute, dass es durchaus Sinn macht, im Staat und in der Gesellschaft mehr zu sehen als nur die Addition unterschiedlicher Einzelinteressen zufällig nebeneinander lebender Individuen.

Frauenraub der Industrie

Wie ist es eigentlich zu der derzeitigen Situation gekommen? Wann und warum haben sich die traditionellen Lebens- und Verhaltensweisen gelockert bzw. aufgelöst – und ist es so, dass diese Entwicklung, die man ja sehr wohl als massiven gesellschaftlichen Fortschritt im positiven Sinne bezeichnen kann, auch zwangsläufig zu diesen so desolaten Geburtenzahlen führen muss?

Die Demontage der legendären Bauern- und Kleinbürgerfamilie mit traditioneller Rollenverteilung – der vielbeschworenen Kernzelle von Volk und Staat (gerne auch ›Spießbürgerfamilie‹ genannt) – wurde seit Marx von vielen mit Begeisterung betrieben. Man übersah dabei jedoch leichtfertig, dass sich dieses Modell in mehr oder weniger ähnlicher Form seit einigen tausend Jahren erfolgreich bewährt hatte und dass die Sache mit der Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern vielleicht nicht ganz so zufällig bzw. nicht aus einem böswilligen Patriarchat heraus entstanden war, sondern doch eher das Ergebnis eines langen Optimierungsprozesses gewesen sein könnte. Allerdings stach das Argument, dass die Welt der Moderne sich eben so grundlegend von den agrarisch-vorindustriellen Lebensbedingungen der Altvorderen unterscheide, dass damit auch deren tradierte Lebensformen durchaus in Frage gestellt werden durften.

Und in der Tat, die Industriegesellschaft war etwas Neues, und mit ihrer Verbreitung wurden zahlreiche althergebrachte Lebensformen massiv in Frage gestellt. Entstanden als eine patriarchalische Arbeitswelt der Spezialisierung, Rationalisierung und Optimierung von Arbeitsprozessen aus den traditionell männlichen Arbeitsfeldern von Handwerk, Eisen, Kohle und Stahl, wurde hier auf Frauen und deren Bedürfnisse kaum Rücksicht genommen, denn Frauen waren hier ursprünglich gar nicht vorgesehen. Doch die Industrie boomte, und selbst die Masse der verarmten Landarbeiter, die aufgrund von Überbevölkerung und chronischer Perspektivlosigkeit ihre Dörfer verließ und in die städtischen Industriezentren strömte, konnte den Arbeitskräftebedarf nicht immer in allen Bereichen decken. Also wagte die Industriegesellschaft frühzeitig den Griff in den Lebensbereich der Frau in der Absicht, sich eine gehörige Portion der weiblichen Arbeitskraft für die eigenen Bedürfnisse abzuzweigen.

Zunächst waren es vor allem unverheiratete Frauen, die ihren Lebensunterhalt als Lohnarbeiterinnen in der Textilindustrie verdienten, was noch einigermaßen mit dem traditionellen Lebens- und Rollenbild der damaligen Zeit des frühen 19. Jahrhunderts vereinbar war und die Bereiche Kinder und Familie noch nicht übermäßig berührte. Daher wurde diese frühe Phase der Industrialisierung trotz ihrer offenkundigen Missstände und Auswüchse noch nicht als für die Gesellschaft besonders problematisch aufgefasst. Die Dinge spitzten sich erst zu, als in immer mehr Haushalten das Einkommen des voll berufstätigen Vaters nicht mehr ausreichte, um die Familie zu ernähren. Die ins städtische Arbeitermilieu geratene Familie konnte in der Form althergebrachter Lebensweisen mit klassischer Rollenverteilung schlichtweg nicht mehr überleben. Das allgemeine Elend führte (gemeinsam mit anderen, eher politisch gearteten Faktoren) nach außen hin zu Aufständen und Revolutionen (die bekannteste in diesem Zusammenhang ist die europaweite von 1848), im Hintergrund aber setzte schleichend die zunehmende Berufstätigkeit der Ehefrau, Hausfrau und Mutter ein – und das war ein durchaus neues gesellschaftliches Phänomen; wichtig, aber wenig beachtet.

Es war also zu allererst diese patriarchalische Industriewelt, die die klassische Rollenverteilung sprengte und die Frauen der vorwiegend männlich orientierten Arbeitswelt zuführte. Plötzlich erhielten Frauen zunehmend die notwendige Ausbildung, wurden rechts- und geschäftsfähig um die nötigen Arbeitsverträge unterschreiben zu können, durften ohne vormundschaftliche Erlaubnis den Wohnort wechseln und Arbeit in der Fabrik annehmen – der Industrielobbyismus der Gründerzeit machte es möglich (weitaus mehr, als die damals schon aktive Frauenrechtsbewegung, deren Forderungen mit den Vorstellungen der Arbeitgeber in erstaunlichem Einklang standen). Massenhaft riss jetzt die Industrie auch verheiratete Frauen aus Küche und Kinderstube heraus und beschäftigte sie auf Kosten der nächsten Generation in ihren Fabrikhallen.

Nun hatten die Frauen neben ihrem bisweilen zehnstündigen Arbeitstag in der Fabrik jedoch weiterhin die gesamten Aufgaben ihres ›ureigenen‹ Arbeitsumfeldes zu erledigen, für die sie nach traditioneller Lebensweise den ganzen Tag zur Verfügung gehabt hätten. Wie die geplagten Frauen aber neben ihrer Industriearbeit noch Zeit für Haushalt, Küche und Kinderstube finden sollten, interessierte die Arbeitgeberseite – und erstaunlicherweise auch den Staat – wenig, und entsprechend begann das Leben um die traditionell weiblichen Arbeitsbereiche herum zunehmend zu verwahrlosen. Aus leicht nachvollziehbaren Gründen geschah dies zuerst in der Gesellschaftsschicht des Proletariats, denn noch war es der Stolz eines jeden Kleinbürgers und Facharbeiters, dass seine Frau eben nicht in die Fabrik zu gehen brauchte, sondern zuhause bleiben durfte und dort ihrer Arbeit mit der nötigen Sorgfalt nachgehen konnte. Für Frauen unserer heutigen Gesellschaft, in der sich auch die weiblichen Mitglieder ganz selbstverständlich einen guten Arbeitsplatz wünschen, mag das schwer verständlich sein, aber damals waren die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen froh, wenn sie in ihrem Heim bleiben durften, um bei Kindern, Küche und Haushalt gute Arbeit zu leisten.

Bald wurden auch die ›höheren‹ gesellschaftlichen Schichten von dem ›neuen Trend‹ erfasst, und so ließen sich auch die Bürgerstöchter zunehmend für wirtschaftliche Zwecke ausbilden und nahmen massenhaft Stellen in Vorzimmern und Büros an. Insgesamt hat die moderne industrielle Arbeitswelt auf die Arbeitskraft der Frauen in einem Maße zugegriffen, wie dies angesichts der daraus resultierenden gesellschaftlichen Folgen für Kinder und Familie – also für die Entstehung der nächsten Generation – niemals hätte passieren dürfen, ohne dass der Staat dieses gleichzeitig kontrollierend begleitet und gegebenenfalls im Sinne seiner Eigeninteressen korrigierend eingreift. Der Staat, als alleiniger rechtmäßiger Vertreter der Interessen der Gesamtbevölkerung, glänzte jedoch durch Abwesenheit und Ratlosigkeit und beschränkte sich lediglich darauf, die schlimmsten Auswüchse des Elends und der massenhaften Verwahrlosung notdürftig mit allerlei (durchaus sinnvollen, aber nicht ausreichenden) Schutzverordnungen zu kitten.

Einzig in der Zeit des Nationalsozialismus gab es offiziell den Gegentrend, die Frauen wieder ein Stück weit ›aus der Industriesklaverei zu befreien‹ und wieder ihrem ›ursprünglichen‹  Arbeitsumfeld zuzuführen – mit nicht ganz uneigennützigen Hintergedanken, vor allem bezüglich der demographischen Frage. Der NS-Staat war ein Männerstaat, nach dessen Ideologie Frauen in wichtigen oder gehobenen Positionen nichts zu suchen hatten; die Staatsführung versuchte die ›Welt der Frau‹ maßgeblich auf das Thema Kind zu fokussieren. Viele Frauen dankten der Partei diese neue gesellschaftliche Gesamtausrichtung pro Familie und die damit verbundene generelle ideologische Aufwertung ihres gesamten traditionellen weiblichen Lebensbereiches anfangs mit üppigen Wählerstimmen, später mit breiter Unterstützung für das System. Gerade junge Frauen fühlten sich in ihrer weiblichen Rolle bestätigt und so wertvoll, nützlich und gebraucht wie selten zuvor. Die tatsächlichen materiellen Leistungen des nationalsozialistischen Regimes für Kinder und Familien werden indes heute oft überschätzt. Die psychologische Wirkung auf das demographische Verhalten der ›Normalbevölkerung‹, die durch die rege ›pro Familien und Kinder-Propaganda‹ erreicht wurde, war dagegen erstaunlich. Man kann davon durchaus ableiten, dass die Reproduktionsziffer ebenso maßgeblich von einer positiven, der Familiengründung förderlichen Grundstimmung abhängt, wie von den tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnissen der jungen potentiellen Familiengründer.
 
Die fehlenden Arbeitsstunden

Man muß sich unbedingt bewusst machen, dass durch die weit verbreitete Lohnarbeit der Ehefrauen dem häuslichen Umfeld unzählige Arbeitsstunden entzogen werden, die einstmals volkswirtschaftlich gesehen für Haushalt und Familie zur Verfügung standen. Noch in der Zeit des Biedermeier sind Millionen an Arbeitsstunden mehr in Haushalt und Kinderbetreuung investiert worden, als dies heute der Fall ist. Diese so massenhaft umgeleitete Arbeitszeit macht sich in der Leistungsschwäche des familiären Lebens der Industriegesellschaften natürlich bemerkbar. Wen wundert es also, dass wir heute so wenig Kinder ›produzieren‹, wenn Industrie und Wirtschaft gut zwei Drittel der dafür ursprünglich vorgesehenen Arbeitsstunden aus dem Familienleben abziehen?

Die neue industrielle Lebensform hat sich seit langem gefestigt. Seit Jahren wird die ›männliche‹ Arbeit von Frauen und Männern gemeinsam erledigt, wohingegen die ›weiblichen‹ Arbeitsfelder weitgehend brach liegen. Aber es kann nicht verwundern, dass junge Frauen ihr Glück auf dem immer noch vorwiegend männlich geprägten Arbeitsmarkt suchen, wenn ihnen Schulen, Medien und Wirtschaft allesamt das Leben als Hausfrau und Mutter als unwürdige und in jedem Fall zu vermeidende Daseinsform schildern. Die Beispiele für diesen schon lange anhaltenden Trend sind zahlreich. Von der Industrie gibt es jetzt den Girls-Day, bei dem auch die restlichen Mädchen endlich für die klassischen Männerberufe begeistert werden sollen, damit noch der letzte Rest an Frauen-Power für die männliche Industriegesellschaft mobilisiert werden kann. Obgleich der Arbeitsmarkt hoffnungslos überfüllt ist, die Kinderstuben dagegen verwaist bleiben, ist die Politik von der Girls-Day-Initiative begeistert.

Schon längst hat der offensichtliche und langandauernde Geburtenmangel für Staat und Gesellschaft existenzgefährdende Dimensionen angenommen; von der Politik wird dies auch kaum noch bestritten, sondern im Gegenteil zunehmend thematisiert. Zu tief sitzt jedoch inzwischen die Ideologie des Geldes, dass allein bezahlte Berufsarbeit einen Wert für die Gesellschaft darstellt, und so weigert sich die Politik, die für die Wahrung der Staatsinteressen nötigen Konsequenzen zu ziehen, und fördert statt dessen weiterhin nach Kräften die Misere.

›Lehrstellen, Arbeitsplätze, hinein in den Beruf‹, tönt es allenthalben. Frauenquoten und Frauenförderung sollen für mehr Gerechtigkeit in der Arbeitswelt sorgen. Man übersieht dabei, dass dieses vermeintliche Gerechtigkeitsdefizit aus der zuvor erfolgten Herabwürdigung der traditionell weiblichen Arbeit entstanden ist. Würden Haushaltsführung und Kindererziehung neben den ›richtigen‹ Berufen als für die Gesellschaft gleichwertig wertvolle Tätigkeiten gewürdigt und bezahlt, dann wäre die Gleichberechtigung nach diesem Maßstab allemal auf einen Schlag erreicht, auch ohne einen höheren Prozentsatz an Frauen in irgendwelchen Chefetagen. Somit ist die derzeitige Benachteiligung der Frauen auch eine Frage der Definition des Begriffs ›Arbeit‹ und der daran hängenden Zuordnung an Wertschätzung.

Leider hat eine Frau, die von sich sagen muss nur Hausfrau zu sein, nach den Wertmaßstäben unserer Zeit auf ganzer Linie versagt; sie zählt nichts, ihr Wert und ihr Ansehen gehen gegen Null. Die Arbeit, die sie als Hausfrau leistet, wird gering geschätzt und in der Regel nicht bezahlt. Dasselbe gilt für die Erziehungsleistung an Kindern, obwohl Staat und Gesellschaft davon genauso profitieren, wie von jeder anderen ›beruflichen‹ Tätigkeit auch – und dadurch ist sie in der Tat objektiv benachteiligt. Erst in jüngster Zeit setzen zögerlich positive Entwicklungen ein, die dahin gehen, Erziehung als allgemeine Leistung anzuerkennen und auch im Lebenslauf finanziell anzurechnen. Unsere Gesellschaft wird aber insgesamt zu stark von wirtschaftlichen Fragen dominiert, und so bleibt es nicht aus, dass sich die latente Familien- und Kinderfeindlichkeit der Wirtschaft zwangsläufig wie Mehltau in der gesamten Gesellschaft und ihrem Wertegefüge niederschlägt.

Mögliche Maßnahmen

Welche Möglichkeiten gibt es, diesem schon so lange anhaltenden Negativtrend bei der demographischen Frage zu begegnen? Welche Mittel stehen einer Regierung hierfür überhaupt zur Verfügung, und worauf will man letztlich hinaus? Es ist gar nicht so leicht, diese Punkte zu definieren.

Am häufigsten begegnet man hierbei der Ansicht, an unserer Gesellschaft solle sich möglichst gar nichts ändern, nur müssten halt irgendwie ein paar mehr Kinder her. Das ist reichlich naiv und erinnert an die Führungskader der SED, die sich 1989 wünschten, dass in der DDR doch weitgehend alles beim alten bleiben möge, nur die Wirtschaft solle halt irgendwie ein bisschen besser laufen. Derartiges Wunschdenken führt zu nichts. Wenn eine Entwicklung derart übel in einer Abwärtsspirale festgefahren ist, dann helfen keine kosmetischen Veränderungen mehr – das galt für Egon Krenz und seine Planwirtschaft und gilt heute für Anette Schavan, Ursula von der Leyen und die deutsche Familienpolitik. Ob Milliardenkredite für das andere Deutschland oder Steuermillionen für das Familienministerium, mit ein bisschen Geld ist da schon lange nichts mehr zu machen, dafür sind die Probleme zu tiefgreifend und zu grundsätzlich. Für Politiker hat der Gedanke, dass es Probleme geben soll, die man nicht mit Geld lösen kann, natürlich immer etwas Erschreckendes, denn er führt ihnen die Grenzen ihrer Möglichkeiten vor Augen, die sich neben der Legislative vorwiegend auf die Umverteilung von Geldern beschränken.

Wo wollen wir hin mit unserer Gesellschaft – oder anders gefragt, gibt es überhaupt ein bekanntes Gesellschaftsmodell, von dem wir glauben können, dass es unsere derzeitigen Probleme löst und das deshalb gezielt angesteuert werden könnte? Ist die Zeit der großen Ideologien und gesellschaftlichen Entwürfe und Utopien nicht längst vorbei? Nun, irgendwie schon, und dennoch will es nicht einleuchten, warum soziale Marktwirtschaft und eine kinderfreundliche Gesellschaft nicht verbunden werden können sollen.

Was die Stellung der Frauen in der Gesellschaft betrifft, bieten ältere Gesellschaftsmodelle (oder altertümlichere Modelle wie der heutige Islam) trotz der dort so viel höheren Geburtenraten für uns keine wirklich brauchbaren Lösungen an. Es macht keinen Sinn, das Rad der Geschichte zurückdrehen zu wollen und zu versuchen, Frauen wie einst im Rahmen einer feudalen Zunftordnung eine bestimmte, streng begrenzte Lebensweise vorzuschreiben. Die generelle Selbstbestimmung der Menschen beiderlei Geschlechts ist einer der maßgeblichen Faktoren, die unsere moderne Gesellschaft überhaupt erst so leistungsfähig machen, und darauf sollten wir nicht mehr verzichten. Es muss aber auch klar sein, dass die energische Frau, die nur in Beruf und Karriere ihr wahres Ich zur Entfaltung bringen kann, ein ideologisch genauso verblendetes Zerrbild ist wie die biedere Hausfrau, die ihr Glück ausschließlich zwischen Herd, Wiege und Bügeleisen findet. Echte Freiheit hat keine fest vorgefertigten Lebensmuster.

Um das Kernproblem zu definieren, müssen wir uns bewusst machen, dass eine so geringe volkswirtschaftliche Gesamtleistung, wie wir sie derzeit auf Kinder und Familie verwenden, erstens unnatürlich und zweitens für Volk und Staat nachhaltig schädigend ist. Noch niemals zuvor in der Geschichte wurden prozentual zur Gesamtbevölkerung so wenige Arbeitsstunden auf die Bedürfnisse von Kindern verwendet, wie derzeit in unseren westlichen Industrieländern. Die niedrigen Geburtenzahlen sind die völlig logische Konsequenz daraus. Um eine demographische Wende zu schaffen, muss es also darum gehen, diese Gesamtleistung zu erhöhen. Der Staat als Vertreter der Gesamtinteressen der Bevölkerung muss den ihm zustehenden Anteil an Wirkung und Arbeitskraft der Frauen für seine ureigenen Interessen der Selbsterhaltung zurückgewinnen und daher anstreben, den Zugriff der Industrie auf die Arbeitskraft der Frauen per Gesetz in vernünftige, gesellschaftlich allgemeinverträgliche Schranken zu weisen.

Es reicht nicht aus, Angebote bereitzustellen für den Fall, dass eine Frau ein Kind bekommt. Jedes Arbeitsverhältnis einer jungen Frau muss vom Arbeitgeber so gestaltet sein, dass sich die Frage nach ›Job oder Familie‹ gar nicht erst stellt. Und nicht nur die Mütter, auch die potentiellen Mütter müssen von diesen Arbeitsregelungen grundsätzlich erfasst und somit indirekt zum Kind ermutigt werden. Denn wie bereits weiter oben genannt, wollen die meisten Akademikerinnen ein, oft mehrere Kinder in die Welt setzen. Sie schaffen es aber nicht aus eigener Kraft, sich aus dem engen, kinderfeindlichen Korsett von Ausbildungs- und Arbeitsregelungen genügend zu befreien. Der Gesetzgeber hat dafür Sorge zu tragen, dass der Arbeitgeber von vorneherein beim Abschluss eines jeden Arbeitsvertrages nicht mehr die Möglichkeit und die Macht hat, die Familienplanung junger Menschen faktisch und maßgeblich entgegen den Interessen des Staates und der Gesellschaft zu bestimmen. Die Politik hat diese Macht, und sie hat vom Souverän grundsätzlich den Auftrag, für die Selbsterhaltung und den Fortbestand von Staat und Gesellschaft zu sorgen. Es ist also ihre Pflicht, die Gesamtinteressen des Staates und der Gesellschaft gegenüber den wirtschaftlichen Teilinteressen der Industrie durchzusetzen.

Wie hier schon mehrfach angesprochen und im Übrigen allgemein bekannt, ist der chronische Mangel an Betreuungsmöglichkeiten für junge Familien mit Kindern derzeit eines der drängendsten Probleme, und die Zahl der Kinder, die nur aufgrund dieser ungelösten Betreuungsfrage gar nicht erst geboren werden, ist erheblich. Die Lösung dieses Problems ist simpel und nicht einmal besonders kostspielig, rüttelt allerdings ein wenig an den Grundfesten unserer derzeitigen Überzeugungen: Ein soziale Pflichtdienstzeit für junge Frauen muss her, die etwa zwischen dem sechzehnten und fünfundzwanzigsten Lebensjahr absolviert werden sollte. Jeder ausgebildeten Kindergärtnerin werden zwei oder drei dieser Dienstleistenden zugeordnet; ebenfalls auf Schulhöfen, großen Spielplätzen, bei der Hausaufgabenbetreuung oder in Krankenhäusern könnten diese Hilfskräfte das überarbeitete Fachpersonal relativ günstig entlasten und somit zu einer deutlich verbesserten Gesamtbetreuung unserer Kinder beitragen.

Wenn man das Ganze mit einer Art generellen pädagogischen Grundausbildung zum richtigen Umgang mit Kindern verbände, so würde dies schon mittelfristig enorm etwas zur nötigen Bewusstseinswandlung in unserer Gesellschaft beitragen, dass Aufgaben wie eine geregelte Kinderbetreuung nicht zum Nulltarif zu haben sind, sondern dass ein jeder sich daran zu beteiligen hat. Die Erfahrungen, die sie während dieser Zeit sammelten, würden jungen Frauen auch den Schritt zur eigenen Familiengründung erleichtern, da das Kind dann nicht mehr eine gar so unbekannte Größe, sondern eine realistisch abschätzbare Belastung darstellte. Die heutige Angst vor dem Kind ist oft die Angst vor dem Unbekannten. Der rechtzeitige Umgang mit Kindern im staatlichen Pflichtdienst würde auch das nötige Bewusstsein dafür schaffen, dass für Kinder in der eigenen Lebensplanung von vorneherein der nötige Freiraum vorgesehen werden sollte.

Auch geht man viel zu leichtfertig davon aus, dass die Einführung eines solchen ›Pflichtjahres‹, das je nach Berechnung des Gesamtbedarfes ja vielleicht gar kein Jahr, sondern nur wenige Monate dauert, zu einem Aufschrei der Entrüstung führen würde – vor allem bei den betroffenen jungen Frauen selbst. Aber wäre das tatsächlich zu erwarten? Ist es nicht vielmehr so, dass es gerade für eine junge Frau besonders einleuchtend ist, zuerst über ein paar Monate hinweg unter professioneller Leitung praktische Erfahrung mit Kindern zu sammeln, um dann, möglicherweise ja nur wenig später, als junge Mutter selber auf dieses gutausgebaute und im Idealfall kostenfreie Betreuungssystem zurückgreifen zu können? Personell derart gut ausgestattete ›Kindergärten‹ könnten auch bis spät abends noch besetzt sein und jungen Eltern – gratis oder gegen ein bescheidenes Entgelt – beispielsweise einen abendlichen Kinobesuch ermöglichen. Würden junge Frauen sich also tatsächlich gegen eine solche Pflichtdienstzeit stellen, wenn sie wüssten, dass sie sich im Gegenzug dafür später nie um einen Babysitter oder eine Tagesmutter kümmern müssten, sondern ihre Kinder problemlos zu jeder Tageszeit und ohne jede Form der Vororganisation einfach für ein paar Stunden bei der immer besetzten, staatlich kontrollierten Kinderbetreuungsstelle abgeben können?

Die Einrichtung solcher Betreuungsstätten, die gegebenenfalls sogar wie Bereitschaftsstationen der Krankenhäuser rund um die Uhr besetzt sein könnten und neben der Betreuung gleichzeitig den Charakter einer generellen Beratungsstelle für alle konkret anfallenden Fragen rund ums Kind annehmen würden, das wäre einmal eine Verbesserung, die jungen Familien ganz unmittelbar massiv zugute kommen würde und zehntausendfach die Entscheidung zum Kinde erleichtern könnte, in Fällen, in denen das ›Wagnis Familiengründung‹ noch auf der Kippe steht. Unsere moderne, westliche Welt braucht gute Straßen, Schienen und Schulen, sowie eine zuverlässige Strom- und Wasserversorgung, um reibungslos funktionieren zu können. Warum sollte eine umfassende staatliche Kinderbetreuung nicht genauso zur generellen Infrastruktur eines modernen Landes gehören? Wir wissen doch, dass es in diesem ›Versorgungsbereich‹ derzeit ganz besonders hakt, und wenn wir gleichzeitig berufstätige Frauen und mehr Geburten haben wollen, dann sollten wir eine flächendeckende Kinderbetreuung im Sinne einer den Standort Deutschland fördernden Infrastrukturmaßnahme auf Basis einer generellen Pflichtdienstzeit ernsthaft in Betracht ziehen.

Wenn die Sache so naheliegend ist, warum wird sie dann nicht längst getan, ja nicht einmal diskutiert? Nun, wer derartiges vorzuschlagen wagt, begibt sich gerade hier bei uns in Deutschland auf ideologisch vermintes Terrain, auf dem man kaum einen Schritt machen kann, ohne politisch dabei hochzugehen. Bekanntlich hatten wir ja einmal eine Zeit, in der die ›Jungmaiden‹ zu einem ›Pflichtjahr‹ einberufen wurden, die uns in wenig guter Erinnerung geblieben ist, obgleich dieses Pflichtjahr durchaus ein Erfolg war und seinerzeit mit zu einem satten Anstieg der Geburtenzahlen beigetragen hat. Aber müssen wir uns überall da, wo einst die Nazis mit einem runden Ball gespielt haben, heute dauerhaft mit einem eckigen herumschlagen? Es ginge bei den dienstleistenden jungen Frauen nicht im entferntesten darum, das alte ›Pflichtmädel‹-System oder gar die alte Ideologie zu kopieren. Niemand würde auf die Idee kommen, Mädchen wieder uniformiert und Kampflieder singend hinter der Fahne durch die Gaue marschieren zu lassen. Auch würde man nicht mehr der privaten Familie mit vier Kindern das eigene ›Pflichtmädel‹ zuteilen, dass dann von der Frau des Hauses nach Belieben herumgescheucht werden könnte.

Es geht um die hier mehrfach angesprochene grundlegende Erkenntnis, dass die Demographie und die Nettoreproduktionsziffer unserer Gesellschaft mehr ist als der individuelle Kinderwunsch der einzelnen Bürger. Es geht darum, die Entstehung und Betreuung der nächsten Generation generell als eine kollektive und daher staatliche Aufgabe zu verstehen und dass folglich nicht nur das einzelne Kind als Individuum oder die einzelne Familie, sondern Kinder und Familien in ihrer Gesamtheit unter dem besonderen Schutz und der Förderung des Staates zu stehen haben. Es geht darum, zu begreifen, dass Kinder vierundzwanzig Stunden am Tag eine kinderfreundliche Gesellschaft brauchen und nicht nur während der Schulstunden. Und so wie jahrzehntelang der Wehrpflichtige als ›Bürger in Uniform‹ über die Organisation der Bundeswehr die kollektive Verantwortung aller Staatsbürger für die Landesverteidigung verkörpert hat, so könnte die dienstpflichtige junge Frau innerhalb einer neuzuschaffenden flächendeckenden Organisation der Kinderbetreuung die kollektive Verantwortung aller für das Wohlergehen der kommenden Generation in der Bevölkerung verankern.