Vorwort

›Übersprungene Identität‹: der Ausdruck bezeugt auf den ersten Blick einen Mangel, auf den anderen vielleicht eine intelligente Lösung. Wenn die EU ihr Einigungswerk ›vorantreibt‹ und dabei nach einer am Wegrand liegenden europäischen Identität Ausschau hält, dann ist unterstellt, dass diese sich irgendwann ›ergibt‹ - wenn nicht, stehen genügend Strategien bereit, den Mangel zu neutralisieren. An die Stelle ›gewordener‹ Identität treten dann materielle und universale Werte, für die es sich immer einzutreten lohnt. Das geht der Person nicht anders: wer Grundsätze vertritt, hat vielleicht keine Persönlichkeit, allein er kommt zurecht. Die Grundsätze aber, sie sind der Kern des Dilemmas: Wer nicht weiß, wer er ist, hat auch keinen Grund, sie zu leben. Sie diffundieren wie der Rest der Person. Von einer Haut zusammengehalten wird jeder; die Haut aus Gesetzen und Bürokratie, die das entfernt ›staatsähnliche Gebilde‹ EU zusammenhält, steht für nichts außer dem Prozess, der sie hervorgebracht hat und weiterhin hervorbringt. In ihm tummeln sich mehr Identitäten, als einer wahrhaben mag, der, den Blick auf das Ganze gerichtet, die eine vermisst, auf die alles ankäme.

Die Frage ›Wohin geht Europa?‹ meint vorrangig den ›europäischen Prozess‹, doch lassen sich nicht alle Identitätsfragen des nachsozialistischen Europa darunter subsumieren. Afrika, Vorderasien, Lateinamerika oder, näher an der EU, die Türkei weisen unterschiedliche und unterschiedlich kritische Identitäts-Muster auf, die das europäische Projekt wie Vexierbilder begleiten und auf die eine oder andere Weise darauf einwirken. Dazu, auf anderen Ebenen, die Konstruktion von Rechtssubjekten, Verantwortungs-, Kultur- und Bedeutungsträgern sowie, nicht zuletzt, Individuen: was hier erdacht, verfügt und gelebt wird, steht in enger Wechselwirkung mit regionalen, nationalen und transnationalen Identitäten, Identitätssuchen und -beteuerungen. Schließlich ist Religion die große Unbekannte, die sich in alle einschlägigen Rechnungen einträgt - zu wessen Schaden oder Nutzen, wer weiß das heute?

Europäische Perspektiven und Dilemmata sind das eine, eine generell weniger auf Identität als auf Andersheit, Fremdheit, verweigerte Zuschreibung setzende Weltwahrnehmung ist das andere. Wie immer liegen die kulturellen Schocks, die als Auslöser für die erfolgreichsten Modellbildungen in Betracht kommen, hinter den Gesellschaften, die sich an ihren Spielzeugen nicht satt sehen können. Alterität ist ein großes Thema, was Ermüdungserscheinungen bei Rezipienten nicht ausschließt. Wenn das Andere zum Immergleichen wird, mutiert das Fremde zum Vertrauten. In der Tat, so ließe sich postulieren, ist nichts vertrauter als der Anblick des Fremden, das, dieses Anblicks überdrüssig, auf nicht-andere Weise ernst genommen werden will - ökonomisch, sozial, in seinen religiösen und politischen Gesinnungen und seiner Personalität. Es gibt, woran gelegentlich zu erinnern sich lohnt, ein Phantasma des Fremden, das sich im Befremden der anderen Seite löst. So mag sich die stets aktivierbare Überfremdungsangst in den Bevölkerungen Europas, denen die Möglichkeit vorenthalten wurde, über den Verfassungsvertrag abzustimmen, angesichts des entschiedenen Neins der Franzosen und Niederländer in ein höchst europäisches Gelächter aufgelöst haben: So hätten ja wir abstimmen können! ein großer Schritt vorwärts nach Europa und, wer weiß, der Eröffnungszug eines Prozesses, in dem schließlich an die Stelle des Verfassungsvertrags eine europäische Verfassung tritt. An ein globales Gelächter möchte man derweil nicht so recht glauben.

Juni 2005
Die Herausgeber