Herfried Münkler
im Gespräch mit Renate Solbach
»Ein netter intellektueller Schachzug«

Solbach: Meine erste Frage heißt: Ist Kassandra eine attraktive Frau? Ich beziehe mich natürlich auf Ihren Text Kassandra und Odysseus. Interessant ist, dass da ein Mann und eine Frau gleichzeitig auf die Bühne treten. Sie haben ja schon gesagt, es sei kein Zufall, dass sie die Bühne gleichzeitig betreten. Spielt die Geschlechterdifferenz eine Rolle? Das ist das eine. Die andere Sache, die mich interessiert: Sie haben gesagt, die Situation sei eine Präfiguration des Sieges der instrumentellen über die emanzipatorische Vernunft, sprich des Herrschafts- über das Erlösungswissen. Da habe ich ein wenig gestutzt angesichts der Kombination ›emanzipatorisches Wissen‹ und ›Erlösungswissen‹. Im ersten Moment dachte ich: Ist das eine leichte Denunziation oder was heißt das? Ich kenne nur wenige Stellen, wo das zusammengebracht wird. Es gibt ein paar Stellen im Faust, ich kenne das bei Reich, aber da bezieht es sich eindeutig auf die sexuelle Emanzipation. Und eine weitere Frage: Was macht die Rolle eigentlich so attraktiv, wenn sie eine Rolle der Ohnmacht ist gegenüber der Macht, dass sie doch immer wieder besetzt wird? Das sind die Fragen, die für mich im Hintergrund stehen.

Münkler: Gehen wir das der Reihe nach durch. War Kassandra eine attraktive Frau? Was sie wirklich war, wissen wir nicht. Aber worüber man sich äußern kann, ist, wie man sie sich auf der Grundlage dessen vorstellt, was an Text und Information zu ihr überliefert ist. Und danach stelle ich mir Kassandra als jemanden vor, der einmal wohl sehr schön gewesen ist, jedenfalls so schön, dass der Gott Apoll sie attraktiv fand. Aber sie ist wohl schwierig. Wahrscheinlich müsste man sagen, sie ist zickig. Sie hat nicht nur körperliche, sondern auch intellektuelle Attraktivität, sie weiß um ihre Überlegenheit und hat darüber ein kompliziertes Sozialverhalten entwickelt. Ein Sozialverhalten, in dem sie sich von den anderen immer wieder abschließt, sie betreibt Segregation. Das mindert ihre Attraktivität. Sie ist jemand für geistige Duelle. Und derjenige, der mit ihr das intellektuelle Fernduell über den Fortgang des Krieges führt, ist Odysseus, der sie wahrscheinlich zunächst nicht bewusst wahrgenommen hat. Für Odysseus war Kassandra ein attraktiver Gegner, jemand, mit dem es sich lohnte, sich zu messen.

Die Frage der instrumentellen und der emanzipatorischen Vernunft: Na, vielleicht würde ich das heute ein bisschen anders konturieren, als ich es damals getan habe, denn die Auseinandersetzung zwischen Odysseus und Kassandra ist eine, die von beiden Seiten mit den Mitteln der instrumentellen Vernunft geführt wird. Die Warnungen der Kassandra sind Warnungen, die sich auf derselben Ebene bewegen wie die Planungen des Odysseus. Es ist - würde ich heute sagen – zunächst eine symmetrische Auseinandersetzung, die aber dadurch asymmetrisch wird, dass Odysseus Gehör findet, dass er in einer Position ist, in der er Einfluss auf die Führung des Krieges hat, während Kassandra in dieser deprimierenden Situation ist, die zukünftige Entwicklung antizipieren zu können, ohne dass einer auf sie hörte.

Solbach: Im Grunde ist die zweite Frage schon fast mit beantwortet: Wenn Odysseus die instrumentelle Vernunft verkörpert, für was steht dann Kassandra? Ich meine, in gewisser Weise ist Kassandra ja lange der Typ des klassischen Intellektuellen oder der klassischen Intellektuellen gewesen unter bestimmten Vorstellungen und...

Münkler: Ja, ja, es gibt ein Buch von Harry Pross über Intellektuelle, dem hat er, wenn ich mich richtig erinnere, den Titel Söhne der Kassandra gegeben. Das ist eine typische Konturierung von Intellektualität und antizipierendem Denken für das Deutschland der Nachkriegszeit. Im Prinzip ist die Position des Intellektuellen durch beide dargestellt, Kassandra und Odysseus. Diese Rollenspaltung ist für den Intellektuellen typisch. Er kann sich auf der einen Seite in der Position des vergeblichen Warners befinden, der etwas weiß, aber keiner hört auf ihn. Er kann aber auf der anderen Seite auch sein Wissen in die Kanäle der Macht einspeisen. Wenn wir uns die beiden vor Augen führen, dann hat das wohl weniger mit der Art des Wissens zu tun als mit der sozialen Positionierung des Trägers dieses Wissens. Vergegenwärtigen wir uns: Wissenschaftler wie Fritz Haber beispielsweise, ein Chemiker, der Anfang der Zwanziger Jahre den Nobelpreis bekommen hat, der mir einfällt, weil er Mitglied dieser Universität war: Er hat sein wissenschaftliches Wissen 1915 dazu benutzt, den ersten Gasangriff auf französische Stellungen durchzuführen, wozu er sich persönlich an die Front begeben hat, weil er den ausführenden Soldaten und Offizieren nicht zugetraut hat, dass sie das richtig machen. Fritz Haber ist gleichwohl durch die Nürnberger Gesetze aus seiner Position als deutscher Hochschullehrer entfernt worden und hat Deutschland verlassen und ist, wenn ich das richtig erinnere, in der Schweiz gestorben. Auch ein Intellektueller. Oder von mir aus Albert Einstein, der auf der einen Seite in dem berühmten Schriftwechsel mit Sigmund Freud ein Warner vor Krieg gewesen ist, sich andererseits dann aber mit seinem ganzen Renommee als theoretischer Physiker für die Entwicklung der Atombombe engagiert hat. Auch da könnte man vielleicht sagen, Einstein bewegt sich in beiden Rollen. Auf der einen Seite Kassandra, die vergebliche Warnung, aber auf der anderen Seite dann auch Odysseus, weil er - Japan war nicht sein Problem - die von Nazi-Deutschland ausgehende Gefahr so eingeschätzt hat, dass die USA als erste die Bombe haben müssten. Es ist also eine Form beschönigenden Selbstmitleids, wenn Intellektuelle sich gerne in der Kassandrarolle wähnen. Sie sagen dann, die Politik sei beratungsresistent, höre also nicht auf sie. Aber tatsächlich sind sie nicht nur in der Kassandra-, sondern oft genug auch in der Odysseusrolle.

Solbach: Aber gibt es nicht auch noch einen anderen Blick darauf? Manchmal spielen die Inhalte vielleicht keine so große Rolle, sondern die Weise der Rezeption. Ich denke an Habermas, der in gewisser Weise reale Macht ausgeübt hat, wenngleich eher im universitären Raum, ähnlich Foucault, ohne dass das auf der politischen Ebene überhaupt eine Rolle spielt. Ein tolles Beispiel, finde ich, ist Brecht, der seine proletarischen Stücke im Osten aufführt und da sitzen dann die Betriebskampfgruppen und das Ganze ist eigentlich nur eine Feier und wer sich im Westen interessiert dafür, ist das Bildungsbürgertum. Das heißt, dass die Inhalte oft gar nicht so eine große Rolle spielen, sondern dass die Weise der Rezeption sie manchmal in die Kassandrarolle zurückstopft, selbst wenn sie anstreben, ihr Wissen in die Gesellschaft einzuspeisen.

Münkler: Das ist natürlich genau die Situation, in der sie sich befinden. Letzten Endes lässt sich das nur vermeiden, wenn man sich unmittelbar in den Machtapparat hineinbegibt, wie etwa Alexandre Kojève, der in der Brüsseler Administration dann eine Rolle spielt und sozusagen die Rezeption seines Wissens und seiner Äußerungen selber kontrolliert. Das ist aber natürlich nicht die klassische Rolle des Intellektuellen, der allgemeiner in eine Öffentlichkeit hinein kommuniziert und sich damit davon abhängig macht, wie er rezipiert wird, ob er überhaupt rezipiert wird und von wem er rezipiert wird. Das heißt, darauf hat er letzten Endes keinen Einfluss, jedenfalls dann nicht, wenn er sich nicht als der Berater des Souveräns versteht, der unmittelbaren Zugang zum Machthaber hat, der das Ohr des Herrn hat und auf diese Weise seine Ratschläge steuern kann. Sobald man das über die Öffentlichkeit macht - und das ist nun einmal zugegebenermaßen das klassische Medium, in dem Intellektuelle wirken -, wird das diffus und unbeherrschbar. Damit kommt man dann immer auch in die komfortable Position der Unverantwortlichkeit, weil man immer sagen kann, man habe die Überlegungen und Argumente nicht kontrollieren können. Es gibt viele Intellektuelle, die, wenn sie als Odysseus gescheitert sind, in die Kassandrarolle schlüpfen.

Solbach: Es gibt eine Stelle bei Baco Verulam, der genau das der Kassandra vorwirft, dass sie nicht das richtige Ohr für ihre Sachen gesucht habe.

Münkler: Ja, sie kommuniziert in die trojanische Öffentlichkeit hinein, so müssen wir uns das vorstellen, und baut kein spezifisches Vertrauensverhältnis zu den politisch entscheidenden Personen auf, etwa zu ihrem Bruder Hektor, bei dem sie wahrscheinlich in dieser Frage Zustimmung gefunden hätte. Hektor ist ja selber eher skeptisch bezüglich dieses Krieges. Aber auch er hat sich mit seiner Skepsis politisch nicht durchsetzen können. Vielleicht hätte es klappen können, wenn die beiden kooperiert und versucht hätten, den alten Priamos umzustimmen. Insofern ist natürlich Kassandra eher die typische Intellektuelle im modernen Sinn als Odysseus, den wir als Intellektuellen nicht wahrzunehmen bereit sind, weil er innerhalb des Machtapparats selber mitspielt. Ich glaube aber, dass das eine typisch deutsche Sicht des Intellektuellen ist. Wenn wir an die Amerikaner denken und an deren Think Tanks, die das Regierungshandeln in hohem Maße beeinflussen, so würde ich nicht sagen, das sind keine Intellektuellen, von mir aus die Neocons, sondern das sind auch Intellektuelle, die aber einen etwas zielgerichteteren Kanal für die Übermittlung ihrer Messages gewählt haben.

Solbach: Also jede Kassandra braucht auch ein paar Odysseusqualitäten?

Münkler: Jedenfalls, wenn sie vermeiden will, wie Kassandra zu enden. Ja.

Solbach: Im multimedialen Zeitalter ist Kassandra-Sein ein Beruf. Darüber hinaus existiert die innere Bühne, auf der sich Kassandra und Odysseus die Klinke in die Hand geben. Was heißt das? Ist der Unglaube des Einzelnen an die Systeme essentiell oder Teil des Bewusstseinstheaters?

Münkler: Multimediales Zeitalter heißt wohl, dass die Printmedien, aber insbesondere die audiovisuellen Medien diese berufsmäßigen Warner brauchen – im Rahmen der Bewirtschaftung der knappen Ressource Aufmerksamkeit. Sie produzieren sozusagen ›Warn-Events‹, und dafür brauchen sie entsprechend profilierte und aufgestellte Intellektuelle. Auf der anderen Seite stehen die Intellektuellen, die dann eher die Odysseusposition innehaben, also die strategischen Planer.

Wenn Sie von der inneren Bühne sprechen, dann stelle ich mir vor, dass jeder für sich so etwas wie eine Rollenwahl treffen muss und dass er gelegentlich (vielleicht auch aufgrund eines Reflexionsprozesses) zu dem Ergebnis kommt, er müsse jetzt einmal die Rolle wechseln. Das gibt es ja gelegentlich, dass Leute, die sehr nah an der Macht gewesen sind, diese Bühne aus Überdruss und Ekel verlassen und in die Kassandrarolle gehen. Man hat das ja in den USA nach dem Golfkrieg bei einigen gesehen, die dann zur öffentlichen Kritik der Bush-Administration angesetzt haben. Diese innere Bühne ist die eigentliche Herausforderung für Intellektuelle. Hier wägen sie gewissermaßen ab: ob sie in die Öffentlichkeit gehen wollen, unspezifisch und ohne wirkliche Kontrolle bezüglich der Rezeption, aber dafür mit einer größeren Freiheit, das zu sagen, was sie für wahr halten. Oder ob sie die Nähe zur Macht suchen, die natürlich auch den Typus des Wissens präfiguriert, also eine geringere Freiheit birgt, aber dafür eine größere Zielgerichtetheit dessen, was man an Wissen kommuniziert.

Solbach: Da ist ja auch die Frage, welchen Einfluss das Bewusstsein auf das Wissen und auf die Erkenntnis besitzt.

Münkler: Ja, ja ... aber ich glaube, dass die Frage der inneren Bühne interessant ist, wenn man an die Entscheidung denkt, die man selber verantwortlich zu treffen hat: Welche Bühne bzw. Rolle wähle ich? Solange solche Entscheidungen getroffen werden und die Möglichkeit der Entscheidung besteht, handelt es sich letzten Endes um eine Situation, die nicht durch eine Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung optimierbar ist. Es ist die Situation liberaler Gesellschaften, wohingegen nichtliberale Gesellschaften, totalitäre Gesellschaften genau diese Entscheidung für den Einzelnen unterbinden, also ihn letzten Endes entmündigen. Sie können nur den Odysseus gebrauchen, die Kassandra wird weggesperrt, für verrückt erklärt. Sie kommt ins Irrenhaus. Die öffentliche Sichtbarkeit der Kassandra ist kein Garant dafür, dass sie auch gehört wird. Im übrigen: wollte man auf jede Kassandra hören, wären Gesellschaften entscheidungs- und handlungsunfähig. Inzwischen wird vor allem gewarnt. Selbst Politiker warnen inzwischen vor allem Möglichen. Mit Kassandren ist kein Staat zu machen.


Der alte Leviathan


Solbach: Bei Carl Schmitt heißt es: »Jesus ist der Christus«. Gibt es bei Ihnen ein Bekenntnis zur Politik? Da hätte ich ein paar Unterfragen: In welcher Weise kommen Sie von Carl Schmitt her? Sind Sie Schmittianer? Wie halten Sie es mit der Religion in der Politik? Gibt es überhaupt so etwas wie einen fundamentalistischen Aspekt in der Politik, eine Formel, auf die sich alle einigen können? ›Jesus ist der Christus‹ war ja die Formel für den politischen Katholizismus Schmitts. Es ist interessant, dass er diese Dinge, die von anderen eher als marginal angesehen wurden, so ins Zentrum gestellt hat. Sie haben darüber einiges geschrieben.

Münkler: Was Carl Schmitt mit der Formel ›That Jesus is the Christ‹ aufgreift, ist im Prinzip die Friedensformel des Thomas Hobbes, die dieser im Leviathan entwickelt und mit der er den konfessionellen Bürgerkrieg zu beenden versucht. Das ist eine Minimalformel, auf die sich Protestanten, Katholiken und die Fülle der Sekten einigen können (ausgeschlossen sind die Juden und natürlich auch die Muslime, aber Muslime gab es im England der Mitte des 17. Jahrhunderts keine): dass der historische Jesus der verheißene Messias sei und damit gewissermaßen ein heilsgeschichtliches Geschehen seinen Abschluss gefunden habe. Insofern ist das, wenn Schmitt es zitiert, eine Erinnerung daran, dass ein gewisses Maß an Ideologisierung, das über diese Form der Neutralisierung ideologischer Konflikte hinausgeht, potentiell bürgerkriegsträchtig ist. Was er sucht, ist die Neutralitätsformel, die als öffentliches Bekenntnis von den Bürgern eines Staates eingefordert werden kann. Der Rest, ob nun das Christus-Sein des Jesus in einerlei Gestalt oder in beiderlei Gestalt kommuniziert wird, ist eine Frage, die politisch nicht interessiert und folglich in den privaten Raum abgedrängt wird. So hat Hobbes das gedacht und so hat Schmitt das wohl in tiefer Bewunderung und Zustimmung rezipiert. Also das Herausnehmen starker religiöser Dynamiken aus der inneren Struktur des Politischen, weil er befürchtet hat, dass dies letzten Endes bürgerkriegsträchtig sei.

Nun gibt es freilich aber auch die andere Seite, den Carl Schmitt der politischen Theologie, der die Intensität der Gottesvorstellung bzw. deren abnehmende Intensität als den Schlüssel zur schwindenden Handlungsfähigkeit von Staatlichkeit begreift und darüber eine Reihe von Überlegungen anstellt. Ich habe immer gedacht, dass Schmitt in dieser Frage letzten Endes keine kohärente Position hat, sondern einmal als der Jurist auftritt, der die europäische Staatlichkeit als ein politisches Kunstwerk bewundert, während er an anderen Stellen politische Partei ist – eine Partei, die eine bestimmte Position gerne durchsetzen möchte, die also eigentlich selber Objekt der staatlichen Beobachtung sein müsste. Wenn man sich das Schmittsche Werk anschaut, dann gibt es Phasen, in denen er eher hierhin, und Phasen, in denen er eher dorthin neigt. Ich glaube nicht, dass man da mit den Mitteln der Interpretation im Nachhinein eine Kohärenz hineinbringen kann, die er nicht gehabt hat.

Ein Bekenntnis zur Politik bei mir selber? Grundsätzlich bin ich der Auffassung, dass eine rein kontemplative Position gegenüber der Politik - was im übrigen weniger ist, als das, was Kassandra ausgezeichnet hat -, sozusagen die Betrachtung des politischen Betriebes und das gelegentliche Äußern kluger Bemerkungen, aber ohne dies interventiv verstehen zu wollen, meine Sache nicht ist. Ich will damit freilich nicht sagen, dass ich so etwas nicht gelegentlich auch betreibe, aber es gibt bei mir keine grundsätzliche Festlegung auf das, was man vielleicht in der Sprache des Renaissance-Humanismus als vita contemplativa bezeichnen könnte. Die andere Seite, die vita activa gehört für mich immer auch dazu. Allerdings ist es mir lieb und wert, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der jeder für sich diese Entscheidung treffen kann, in der es keinen Zwang, keine Verpflichtung zur vita activa gibt. Was bedeutet, dass es mir möglich ist, in einer Reihe von Situationen und Konstellationen mich auf die reine Kontemplation zurückzuziehen und nicht aktiv sein zu müssen.

Allerdings würde ich daraus nie ein Dogma machen wollen. Ich möchte sagen, das hängt von den Umständen ab, welche Beziehung zur Politik man eingeht, und auch davon, ob man mit der Aktivierung von Wissen etwas aus seiner Sicht Vernünftiges beitragen kann oder nicht.

Solbach: Der Fremde als Feind oder der Feind als Fremder: Ist ›aktive‹ Friedenspolitik möglich? Das wäre einmal die Frage: Ist die Schmittsche Formel vom Freund/Feind-Verhältnis unhintergehbar? Gibt es eine Politik, in der man eher mit dem Fremden operiert, also dem, den man nicht ganz versteht, den man aber gelten lässt? Sie haben zum Beispiel über Brüderlichkeit, also das gescheiterte Konzept der Brüderlichkeit geschrieben, auch unter Bezug auf Freud, den Vatermord usw. Wobei ich glaube, dass die Schwesterlichkeit, die Sie auch angesprochen haben, ebenfalls gescheitert ist. Dahinter steht die grundsätzliche Frage: Wie definieren Sie Politik? Zur aktiven Friedenspolitik: da wäre dann das Stichwort ›Struktur- statt Ordnungspolitik‹. Das bezöge sich heute auf Komplexe wie die Frage der Entschuldung oder die failed states, über die Sie gesprochen haben. Ist Ordnungspolitik im Zeitalter der Globalisierung überhaupt noch eine Option?

Münkler: Also fangen wir mit dem ersten an. Die Beziehung von Fremdheit und Feindschaft ist schwierig. Die Vorstellung der alten Gesellschaft (nicht moderner Gesellschaften, sondern der alten Gesellschaft) war, dass Fremde aufgrund ihrer Fremdheit etwas prinzipiell Bedrohliches haben. Deswegen war ihre Identifizierung als potentieller Feind naheliegend. Um diesen Fremden als potentiellen Feind zu domestizieren hat die alte Gesellschaft das Institut der Gastfreundschaft entwickelt. Gastfreundschaft bindet den Fremden ein und stellt eine Form von Verbindlichkeit her, die das potentiell Feindliche in den Griff zu bekommen versucht. Aber aktueller und aufregender als Feindschaft auf der Basis von Fremdheit ist eigentlich Feindschaft auf der Grundlage von Nachbarschaft. Was wir beobachten können, ist, wenn Sie sich die Rate von Kriminaldelikten wie Mord und Totschlag anschauen, dass in der Täter - Opferbeziehung Fremdheit die Ausnahme bildet. Viele Taten sind sowieso Beziehungstaten. Es ist zumeist eine gewisse Nähe, die diese Intensität von Hass- und Todeswünschen hervorbringt.

Wenn wir uns nun die jugoslawischen Zerfallskriege ansehen, dann waren es nicht Konflikte zwischen einander Fremden, die diese Intensität von Gewalt und Aggressivität hervorgebracht haben, sondern eher die Nähe und die Nachbarschaft. Ähnlich scheint es in Ruanda zugegangen zu sein. Ruanda - auch darum zu erwähnen, weil es das schlimmste Massaker nach dem Ende des zweiten Weltkrieges gewesen ist, und weil es eine höhere Tötungsintensität, also die Anzahl der Toten auf die jeweilige Zeiteinheit, hatte als die nationalsozialistischen Vernichtungslager auf dem Höhepunkt ihrer Funktionstüchtigkeit. Auch da: nicht prinzipiell Fremde, sondern Nachbarn, die, sicherlich auf der Grundlage von Ideologien, sozialen Ideologien, ethnischen Ideologien, in eine Position der Feindschaft hineingebracht worden sind, die - okay - einander entfremdet worden sind. Ich glaube aber doch, dass man insgesamt sagen kann, für unsere heutigen Gesellschaften gilt (jedenfalls was diese Formen von Gewalt anbetrifft, nicht nukleare Bedrohung oder so etwas, sondern diese Formen unmittelbarer Gewalt): Der gewaltsame Tod kommt zumeist in Gestalt des Nachbarn, nicht in Gestalt des Fremden.

Aktive Friedenspolitik? Ja, natürlich. Was in aktiver Friedenspolitik ins Spiel gebracht wird, ist der Dritte. Ein Dritter, der so stark ist, dass er die Gewaltoption der miteinander im Krieg oder im latenten Krieg befindlichen Seiten unterbinden, unterdrücken kann. Mehr ist es zunächst ja nicht, was auf dem Balkan für das Ende der Gewalt gesorgt hat, zunächst in Gestalt von Blauhelmen. Das war wenig erfolgreich, weil sie - gewissermaßen von der Muskelstruktur her - für die konfligierenden Akteure zu schwach gewesen sind. Dann, erheblich erfolgreicher, in Form der Nato-Streitkräfte.

Das ist aber natürlich keine mittel- und langfristige Lösung des Problems, sondern zunächst einmal nur die Unterbindung dessen, was die verfeindeten Seiten einander an Gewalt antun könnten. Also eine Beendigung der Massaker. Langfristige Politik besteht darin, zunächst einmal die Infrastruktur wieder herzustellen, und zwar so wieder herzustellen, dass die Leute wieder aufeinander angewiesen sind und sich aus diesem Aufeinanderangewiesensein für sie eine starke Vorstellung entwickelt, voneinander zu profitieren, und zwar als Lebende, als Kooperierende. Das möchte ich als eine generelle Leitlinie von erfolgreichem nation building benennen. Es ist schwierig. Ich glaube nicht, dass ein stabiler Frieden, wie man gelegentlich von Philosophen und den Geisteswissenschaftlern hört, durch Aufklärung entwickelt werden kann. Da vertraue ich eher auf in weitem Sinn sozialwissenschaftliche Ratschläge, die den Leuten klarmachen: Dein Nachbar ist nicht ein Konkurrent um knappe Güter und du befindest dich mit ihm nicht in einem Nullsummenspiel. Vielmehr ist Kooperation mit deinem Nachbarn für dich selber produktiv, und am Schluss wird so für dich mehr herauskommen.

Das Ziel dabei ist, wieder eine langfristige Zeitperspektive aufzubauen. Bürgerkriege sind durch ein Abschmelzen von Zeit, durch den Verlust von Zukunft, durch das Schrumpfen von Zeit auf Gegenwart gekennzeichnet. Langfristige Zeitperspektiven: Okay, wir investieren jetzt in den Bau einer Mühle. Der Bau der Mühle wird vielleicht zwei Jahre dauern. Bis sie dann auf einem Markt entsprechende Abnehmer für ihre Produkte gefunden hat, wird es vier Jahre dauern. Aber dann haben wir eine Chance, durch Kooperation wieder zu Wohlstand zu kommen und diesen zu mehren. Hierzu bedarf es natürlich des Vertrauens, dass in vier Jahren diese Mühle nicht abgebrannt und zerstört worden ist. Man könnte das analog von irgendwelchen Obstplantagen im Süden Afghanistans erzählen, wo ebenfalls Zeit erforderlich ist, bis die Bäume gewachsen sind und Früchte tragen. Das ist also aktive Friedenspolitik: Die Menschen in solchen Gebieten wieder ihrer Zukunft zu versichern, um sie friedensfähig zu machen.

Das ist möglich, aber es ist ein Prozess, bei dem man sehr viel Frustrationstoleranz besitzen muss und bei dem die Akteure, die dort hingehen und sich engagieren, vernünftigerweise im vorhinein wissen müssen, dass ihr Engagement in der Region - im Falle der Bundesrepublik also auf dem Balkan, in Afghanistan und in einigen anderen Gebieten - keine Frage von Monaten, sondern eher eine von Jahren und genauer von vielen Jahren, wahrscheinlich mehr als einem Jahrzehnt sein wird.

Solbach: Wer garantiert die Menschenrechte? Also gibt es ein Recht jenseits des vom Staat garantierten? Welche Institutionen bräuchte man dafür? Die Frage stellt sich etwa dadurch, dass die UNO ins Abseits gestellt und von den USA in gewisser Weise instrumentalisiert worden ist, so dass man fragen kann, ob es so etwas wie Supranationalität überhaupt noch gibt? Immerhin ist man auf die Intervention von Staaten angewiesen und die UNO kann Menschenrechte verkünden, aber nicht garantieren.

Münkler: Genauso ist es. Also die erste, zweite, die dritte und wahrscheinlich auch noch die vierte Antwort auf Ihre Frage heißt: der Staat. Und dann erst kommt die Frage: Aber wenn der die Menschenrechte nicht garantiert, weil er selber ein verbrecherischer Staat ist oder aber weil er - was in jüngster Zeit mindestens genauso das Problem ist - zerfallen ist? Wenn eine Gruppe von Warlords oder Banden den Staat zur Beute gemacht haben, dann müssen wir darüber nachdenken, was passiert, wenn nicht der Staat die Garantie übernehmen kann.

Aber auch dann ist der erste Adressat des Hilferufs die Staatengemeinschaft. Das kann nun entweder eine große Koalition von Staaten sein, wie das in gewisser Hinsicht für den Zweiten Weltkrieg und seinen Ausgang gilt, oder aber eine imperiale Macht. Ich sage ganz bewusst ›eine imperiale Macht‹, weil diese dadurch definiert ist, dass sie sich mit den Staaten nicht auf einer Ebene bewegt, sondern ihnen gegenüber übermächtig ist. In der gegenwärtigen Weltsituation gibt es nur eine, die dazu in der Lage ist, und das sind die Vereinigten Staaten. Sie sind nicht immer willens, den Menschenrechten in einem Gebiet Geltung zu verschaffen, haben gelegentlich auch völlig andere Interessen - aber so ist es nun einmal.

Die UNO - Sie haben das, wie ich denke, völlig richtig beschrieben - verkündet Menschenrechte, aber sie kann diese nicht durchsetzen. Im Gegenteil, wer sich auf die UNO verlässt, ist verlassen. Das, denke ich, muss man für die Neunziger Jahre mit Blick auf Ruanda sagen, das schlimmste Versagen, aber auch für Srebrenica. Die Leute haben sich nach Srebrenica begeben, weil sie sich auf die Zusagen der UNO verlassen haben: und es war der sichere Tod. Wenn man sich einmal die Geschichte weiterer Blauhelm-Einsätze, zuletzt in den westafrikanischen Bürgerkriegen, anschaut: Man tut der UNO keinen Gefallen, wenn man sie in die Position eines Weltpolizisten hineinhievt. Was sie auf der deklaratorischen Ebene, wo sie unverzichtbar ist, an guten Leistungen hinbekommt, das funktioniert erkennbar nicht auf der Ebene der Implementation.

So braucht man also andere Akteure. Wenn es gegen richtig harte Figuren unter den Menschenrechtsverletzern geht, dann braucht man fast immer die Vereinigten Staaten. Nun hat sich eigentlich schon vor dem Wegfall der bipolaren Konstellation und dann gewiss bereits in den Zeiten der Clinton-Administration eine Situation entwickelt, in der es um die Frage geht, wer wen instrumentalisiert: die USA die UNO oder die UNO die USA? Immer wieder hat die UNO irgendetwas erklärt und dann auf die militärischen Kapazitäten der Vereinigten Staaten zurückgegriffen, um es durchzusetzen. Das hat den Amerikanern, insbesondere den konservativen Senatoren, aber auch bis in die Kreise der Demokraten hinein, auf Dauer nicht geschmeckt. Denn die Kosten für die Bereitstellung der capacities haben natürlich sie zu tragen gehabt. Umgekehrt haben die Vereinigten Staaten ihrerseits - zuletzt durch den denkwürdigen Auftritt Colin Powells im Vorfeld des Irak-Krieges - versucht, die UNO als Legitimitätsspender zu instrumentalisieren.

Nur würde ich mich darüber nicht weiter aufregen, dass das so ist, das ist normaler politischer Betrieb. Insofern ist es nur ein Ausdruck von Naivität, wenn in Deutschland nicht nur Intellektuelle, sondern auch Politiker sich über diese Instrumentalisierungsspiele echauffiert haben - falls sie es denn ernst gemeint haben. Das sind normale politische Auseinandersetzungen, und dafür wird man auch gar keine definitive Lösung finden können, sondern es wird von Mal zu Mal neu ausgehandelt werden müssen, wie sich das Verhältnis zwischen der imperialen Vormacht der Wohlstandszone auf der einen und der weltumspannenden UNO-Organisation auf der anderen Seite gestaltet.

Solbach: Arbeitet die Politikwissenschaft der Politik zu? Sind die Begriffe der Politikwissenschaft politische Begriffe oder sind es Metabegriffe? Den Vorwurf, dass es sich um Kampfbegriffe handle, hat man ja Schmitt gemacht - Vögelin zum Beispiel -, er hat ihn nie zurückgewiesen. Wie sieht es mit dem ›deskriptiven Aspekt‹ aus, wie hält die Politikwissenschaft es damit? Ich hatte für mich die Frage so formuliert: Ist das der Odysseustyp des Intellektuellen, der der Politik zuarbeitet, und ist das überhaupt eine Disjunktion? Ist eine Wissenschaft, die nicht Odysseus ist, Kassandra? Aber die Frage haben wir eigentlich schon abgearbeitet...

Münkler: Ich glaube, dass sich diese Spaltung zwischen Odysseus und Kassandra auch in der Politikwissenschaft beobachten lässt. Sie hatte eine gewisse Hypertrophie in Richtung Kassandra zu Zeiten, in denen es schick war, Politikwissenschaft nur als kritische Wissenschaft zu begreifen, die der Politik die moralisch lange Nase dreht und Abstand hält. Aber dafür ist ein hoher Preis zu zahlen: Hinterher hat man es immer besser gewusst, aber um den Preis, unwirksam zu sein. Es ist ein auf Dauer ruinöser Luxus, wenn man eine Position einnimmt, in der man es notorisch besser gewusst, aber nichts bewirkt hat. Da hat sich im Laufe der späten Siebziger und Achtziger Jahre das Klima etwas gewandelt. Es gibt inzwischen eine größere Offenheit, als Politikwissenschaftler auch Politikberatung im weiteren Sinn zu machen. Das ist in der Regel moralisch ganz harmlos, z. B. wenn Naturwissenschaftler gewisse Standards für Arzneimittel festschreiben, Politikwissenschaftler der Regierung ein Gutachten über die demographische Entwicklung oder über die Belastung der Alterssicherungssysteme anfertigen, damit sie bestimmte Grundlagen für ihre Entscheidungen hat. Gut, da kommen dann auch genuin politische Fragen mit herein, weil die nächste Frage an die Wissenschaftler natürlich lautet: Wenn sie die Situation so und so beschreiben, was schlagen sie dann vor, um die Szenarien in zehn, in zwanzig Jahren zu meistern? Was können wir jetzt machen? Was müssen wir in Zukunft tun? Ich würde nicht unbedingt sagen, da arbeitet die Politikwissenschaft oder einzelne Politikwissenschaftler der Politik zu, sondern sie beraten diese. Letzten Endes aber bleiben die Politikwissenschaftler in einer komfortablen Position der Unverantwortlichkeit. Sie werden für ihre Vorschläge nicht abgewählt, sie werden dafür auch nicht belohnt, indem ihnen Macht gegeben wird, sondern zunächst einmal machen sie Vorschläge. Die haben sie nach einem anderen Kriterienkatalog zu vertreten und zu rechtfertigen als die Politiker, nämlich nach dem der wissenschaftlichen Akkuratesse und Stimmigkeit. Die Politiker müssen dies dann gegenüber der Wahlbevölkerung durchsetzen, und dabei übernehmen sie vielleicht den einen Vorschlag und den anderen nicht. Möglicherweise halten sie ihn dennoch für sinnvoll und richtig, sehen aber keine Chance, eine Mehrheit dafür zu bekommen. Dann bleiben sie halt auf Distanz.

Insofern handelt es sich um ein relativ komplexes Spiel zwischen der Politik und der Wissenschaft, die - wenn man das systemtheoretisch sagen darf - als aparte Teilsysteme ihren eigenen Rationalitäten gehorchen, die einige Verbindungs- und Verknüpfungslinien haben - und das war’s.

Davon zu unterscheiden ist eine Wissenschaft, die den Anspruch auf absolute Wahrheit erhebt und versucht, diese dann der Politik überzustülpen. Das wäre Platons Idealstaat, das wären vielleicht im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert gewisse saint-simonistische Konzepte, das ist die Phantasie der Technokraten. Aber es hat sich herausgestellt, dass das in der Demokratie nicht funktioniert, weil letzten Endes dann doch - jedenfalls in Fragen, die nichts mit den Standards für Arzneimittel zu tun haben - der Wähler entscheidet, wie er seine Zukunft gehandhabt wissen will.

Solbach: Aber gibt es überhaupt wertfreie Begriffe in der Hinsicht? Zum Beispiel, wenn Sie sagen: »er liefert demographische Beschreibungen« oder Expertenwissen. Sind seine Begriffe wertfrei? Oder nimmt er nicht auf die Weise auch politischen Einfluss? Allein schon die Lesart einer Statistik hängt von der Theorie ab, die hinter ihr steht oder die ich vertrete.

Münkler: Es ist sicherlich richtig, dass in diese Analysen und Prognosen immer Wertungen mit einfließen. Ich würde davon auch nicht viel Aufhebens machen, solange die Verfasser dieser Texte oder ihre Kommentatoren die Wertungen ausweisen und als solche sichtbar machen. Also in der Form: auf der Grundlage dieser und jener Werte kommen wir zu dem Ergebnis, dass... Also zum Beispiel auf der Grundlage des Wertes, dass man Akademikerinnen nicht aus Gründen der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland dazu verpflichten kann, mindestens drei Kinder zu haben. Das wäre ja eine denkbare Konsequenz, und in der Tat ist es eines der ernstzunehmenderen Probleme, dass bestimmte Populationen keine oder wenig Kinder haben. Auf der Grundlage solcher Werte wird dann etwas anderes vorgeschlagen und es werden Anreizsysteme entwickelt. Also, das muss man ausweisen, dann ist das schon in Ordnung.

Es gibt Probleme, die sind schwieriger, das gebe ich gerne zu. In meinem eigenen Bereich, der Kriegstheorie und Terrorismusforschung, ist alles sehr viel delikater. Das hängt am Begriff des Terrorismus und auch an der Frage, über die ich mich mit Erhard Eppler gestritten habe, ob das, was ich als neue Kriege beschreibe, als ›Krieg‹ bezeichnet werden darf oder ob es sich nicht vielmehr um Formen organisierter Kriminalität handelt. Aber da es hier auch nicht um Arkanwissen geht, das durch irgendwelche sinistren Kanäle über den Bundesnachrichtendienst in die Köpfe von Entscheidern hinein diffundiert, sondern ich das in der Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt habe, genauso wie Erhard Eppler, war es dann in der öffentlichen Debatte auch möglich, die Positionen entsprechend gegeneinander zu gewichten.


Der neue Leviathan


Solbach: Steht Europa im Dritten Weltkrieg? Bush hat nach dem 11. September den zeitlich und räumlich unbegrenzten Krieg gegen den Terrorismus ausgerufen und vor kurzem in einer Rede laut BBC zum wiederholten Mal vom dritten Weltkrieg gesprochen. Aber keiner der europäischen Staaten hat den Krieg ausgerufen. Was es gibt, ist ein Spektrum von Verhältnissen oder eine gestaffelte Situation. Es gibt die Rede von der Allianz gegen den Terror, es gibt die Beteiligungen in Afghanistan, es gibt Truppen im Irak, es gibt die Friedenstruppen, es gibt die Staaten, die abseits stehen wie Deutschland und Frankreich. Aber es gibt auch Amtshilfe für eine Macht, die sich nicht darauf beschränkt, den Terrorismus polizeilich zu verfolgen, sondern ihn gleichzeitig als Kriegsfeind behandelt. Wenn Europa Amtshilfe leistet, wie sieht das vor diesem Hintergund aus? Es gibt Guantanamo, es gibt Abschiebungen in Folterstaaten. Oder zum Beispiel die Vorgänge in Italien, die jetzt bekannt geworden sind, von denen man noch nichts Näheres sagen kann...

Münkler: Es gab auch diesen deutschen Staatsbürger, dessen sich die CIA bemächtigt hatte...

Solbach: Ganz genau, ja.

Münkler: Ich würde meinen: der Begriff ›Dritter Weltkrieg‹ ist zu hoch gegriffen, er passt nicht. Wenn man sich vor Augen führt, was der Erste Weltkrieg und was der Zweite Weltkrieg gewesen sind, dann ist das der falsche Begriff.

In den ersten Stunden der Schlacht an der Somme sind auf beiden Seiten 40000 Soldaten gefallen. Das sind mehr als zehnmal soviel Tote wie beim Anschlag auf die Twin Towers, und das war nur ein Tag innerhalb eines Geschehens, das sich über mehr als vier Jahre hingezogen hat. Für den Zweiten Weltkrieg gilt das in ähnlicher Weise. Also ›Dritter Weltkrieg‹, das ist falsch. Andererseits würde ich aber auch sagen: diese neueren Formen des transnationalen Terrorismus sind eine Form von Krieg unter radikal asymmetrischen Bedingungen. Das drückt sich unter anderem im Verschwinden der Figur aus, die ich vor fünfundzwanzig Jahren einmal ›den zu interessierenden Dritten‹ genannt habe. Sie ist zentral für den nationalrevolutionären wie sozialrevolutionären Terrorismus, der seine Ursprünge im neunzehnten Jahrhundert hat. Die Gewalt der Terrorgruppen ist hier als Botschaft an einen Dritten adressiert: das kann eine ethnische Gruppe sein, eine religiöse Gruppe, das können das Proletariat, die Bauernschaft, die Putzfrauen, was auch immer, die Völker der Dritten Welt sein, damit sie in dem Duell zwischen den noch kleinen und schwachen Gruppen und dem mächtigen Staat Partei ergreifen. Das bedeutete in der operativen Durchführung von Anschlägen, dass keiner aus diesen Gruppen ums Leben kommen durfte. Wenn die IRA in London Bomben in die Luft gehen ließ, war sie natürlich darum besorgt, dass unter keinen Umständen ein katholischer Ire dabei war. Deswegen hat sie eine halbe Stunde vorher angerufen, und dann wurden die Gebäude geräumt, die Bombe ist detoniert und die britische Polizei war wieder einmal gedemütigt, weil sie das nicht hat verhindern können. Aber das war's dann auch. Während die Anschläge in London heute morgen, die in der Tradition der Anschläge von Istanbul und Madrid und sicherlich auch New York stehen, sich undifferenziert gegen jeden richten, und das ist einfach eine grundlegend andere Qualität. Dazu gehört auch, dass das Dogma der klassischen Terrorismusforschung, Dynamit und Pistole seien die Waffen der Terroristen, Massenvernichtungsmittel kämen nicht in Frage, so nicht mehr gilt. Die AUM-Sekte war ein erstes Warnzeichen in dieser Richtung. Man muss in der Tat damit rechnen, dass auch Massenvernichtungswaffen zum Einsatz kommen, zumindest kommen können.

Die Bekämpfung dieses Terrorismus ist ein Mix aus unterschiedlichen Maßnahmen. Da sind zunächst einmal die normalen polizeilichen Maßnahmen, die dazu dienen, die Logistik der Gruppen zu schwächen, Schläfer aufzuspüren, kurzum die Terroristen in Ruheräumen und Aufmarschgebieten sowie im Anschlagszentrum in ihrer Bewegungs- und Operationsfähigkeit einzuschränken. Da ist zweitens das geheimdienstliche Mittel - von den herkömmlichen Inlands- und Auslandsgeheimdiensten bis zu militärischen Geheimdiensten -, um an möglichst viel Informationen zu kommen, damit solche Anschläge verhindert werden. Wir wissen nicht genau, wie hier die Erfolgsrate aussieht, da es nicht sinnvoll ist, das in den öffentlichen Raum hinein zu kommunizieren. Man kann davon ausgehen, dass auf diesen beiden Ebenen operiert wird. Auf der ersten Ebene kommt es dann häufig zu einer Anklage, die verhandelt wird, also erfahren wir, dass hier erfolgreich gegengehandelt wurde. Auf der zweiten Ebene ist die Sache undurchschaubarer, da kommt es häufig nicht zur Anklage, sondern zu präventiven Exekutionen, zumindest im globalen Rahmen. Das ist schmutziger Krieg, die Fortsetzung dessen, was in den Zeiten des Kalten Krieges auf der Spionagebene stattgefunden hat.

Aber es gibt auch eine dritte Ebene, und das ist der Gebrauch des Militärs gegen terroristische Netzwerke. Die haben nämlich hier und da einmal einen Knoten. Der bekannteste Knoten waren die Lager von Al Qaida in Afghanistan. Die nun mit militärischen Mitteln zu attackieren, mit dem Ziel, die Ressourcen dieser Gruppen so sehr in Anspruch zu nehmen und zu verbrauchen, dass sie mehr mit ihrer Selbsterhaltung beschäftigt sind als mit der Herstellung strategischer Angriffsfähigkeit - das geht nicht mit Polizei und Geheimdienst. Das ist die militärische, die genuin kriegerische Komponente aus der Sicht der bedrohten Staaten.

Summa summarum: Ein dritter Weltkrieg ist es nicht, es ist eine Zwischenform zwischen Kriminalität und Krieg. Aber das ist ja überhaupt das Signum der neuen Kriege, dass es in ihnen die klassische Unterscheidung zwischen Kriminalität und Kriegshandlung, die darauf beruhte, dass die Staaten und nur die Staaten die Monopolisten des Krieges waren, also auch diese Grenzziehung kontrolliert und beherrscht haben, dass es diese Unterscheidung so nicht mehr gibt, sondern dass sie im Zeichen der Globalisierung, der Entterritorialisierung der Akteure, der schwindenden Steuerungs- und Regelungsfähigkeit der Staaten an Bedeutung verloren haben. Das ist auch ein Preis für Entstaatlichung.

Solbach: Was bedeutet eine zeitlich und räumlich unbegrenzte Kriegserklärung politisch? Ist Krieg gegen ein Feindbild, das immer neue Feinde generiert, überhaupt denkbar? Also, von ihrer Antwort her gesehen, eine Variante auf die Frage: Ist der Krieg gegen Terror Krieg oder ist er etwas anderes? Entscheidend ist der virtuelle Charakter des Kriegsgegners: es handelt sich um keine fest umrissene Gruppe. In der Geschichte der Kriegserklärungen ist das ein Novum: Wer immer uns noch anfeinden wird, den werden wir vernichten. Das heißt, der Feind ist sozusagen ein zukünftiger.

Kann man das auf der Ebene symbolischer Kriegserklärungen sehen? Man erklärt der Mafia den Krieg, dem Hunger, der Armut in der Welt, den Drogen, wem oder was auch immer. Aber wenn es militärisch konkret wird, ist das eine andere Sache.

Münkler: Es ist deutlich mehr als allgemeine Metaphorik, die im Übrigen in den USA sehr viel verbreiteter ist als bei uns, was damit zu tun hat, dass man in Europa einen anderen Krieg im kollektiven Gedächtnis hat als in den Vereinigten Staaten. Aber es ist mehr als Metaphorik. Vielleicht können wir uns dem Problem nähern, wenn wir uns vor Augen führen, dass die europäischen Kriege spätestens nach 1648, also nach dem Westfälischen Frieden, im wesentlichen Staatenkriege gewesen sind. Und dass unter diesen Umständen Kriegserklärung und Friedensschluss den Krieg in einen relativ engen Zeitkorridor hineingebracht haben. Imperiale Kriege - ausdrücklich imperiale und nicht imperialistische Kriege - an den weichen Grenzen von imperialen Ordnungen waren seit jeher andere Kriege als zwischenstaatliche Kriege. Zum Beispiel die imperialen Auseinandersetzungen an der Militärgrenze zwischen der Donaumonarchie und dem Osmanischen Reich: dort war jenseits der Kriege, die mit den großen Heeren in den Ebenen des Balkan geführt wurden, der Kleinkrieg endemisch, er fand eigentlich permanent statt. Oder wenn wir an die Funktion der Kosaken als der leichten Truppen des zarischen Russlands denken: auch für die war der Krieg endemisch. Oder auch an die Rolle der US-Kavallerie in der Auseinandersetzung mit den Indianern. Konfrontiert mit einem Gegner, der selbst nicht Staatsgestalt hat, gibt es die Möglichkeit einer formellen Kriegserklärung und eines formellen Friedensschlusses in dieser Weise, ich will nicht sagen nicht, aber nur in geringerem Maße. Und was wir gegenwärtig haben, ist ein Krieg, der eher nach diesem Modell zu begreifen ist. Ein Krieg, der unterschwellig, untergründig geführt wird – eine ganze Zeit lang passiert nichts, dann auf einmal passiert wieder etwas. Und die Zeit, in der nichts passiert, ist nicht durch politisch verantwortlichen Akteure als Friedenszeit ausgehandelt und festgezurrt worden. Das ist wohl die Situation, in der wir uns gegenwärtig befinden und - wie ich annehme - für die nächsten Jahrzehnte im 21. Jahrhundert befinden werden.

Das irritiert uns Europäer, weil wir auf einen bestimmten Typus von Krieg fixiert sind, insbesondere die Deutschen oder, wenn Sie es mich mal zuspitzen lassen, die Preußen besonders, wohingegen die Mächte, die eine lange außereuropäische Kolonialgeschichte haben, namentlich die Briten, dadurch viel weniger irritiert sind. Die sind das gewohnt, die haben diese Form der Kriegführung immer praktiziert.

Solbach: Ich habe noch eine andere Frage dazu. Es gibt Kritik aus den USA selbst und zwar von Noam Chomsky. Und zwar sagt Chomsky, wenn es Schurkenstaaten gibt, dann ist Amerika selber eine Art Schurkenstaat. Seit Jahrzehnten übe der Westen resp. Amerika staatlichen organisierten Terror aus, der mehr Menschenleben koste als der sogenannte Terrorismus. Und er stellt die Frage, in welchem Ausmaß es letzteren ohne ersteren überhaupt gäbe.


Münkler: Chomsky ist seit dem Vietnamkrieg das Enfant terrible der amerikanischen politischen Linken, und er hat auch immer wieder wunderbare Ideen, irritiert das Land und erheitert und erbaut seine Anhänger und Freunde. An dem, was er sagt, ist ja auch manches richtig beobachtet, es ist nur nach meinem Dafürhalten falsch katalogisiert. Es ist sicher richtig beobachtet, dass die USA unter Henry Kissinger ziemlich schmutzige Finger hatten – in Chile beispielsweise bei dem Putsch gegen Allende.

Solbach: Sie haben einmal gesagt, dass ein Feindbild oft ein abgespaltenes Selbstbild ist.

Münkler: Ja, ja. Das kann man gar nicht in Abrede stellen. Die Differenz zu den Schurkenstaaten ist gleichwohl eine andere. Wenn man nun einmal konstatiert, dass sich aufgrund der ökonomischen, der technologischen und auch politischen Dynamiken die USA als die Ordnungsmacht der Wohlstandszone herausgebildet hat und sie dafür gesorgt haben, dass aus dieser der Krieg verschwunden ist, dann unterscheiden sie sich ganz fundamental von einem Staat wie dem Saddam Husseins, der, um in den Besitz von Bodenschätzen, Ressourcen und Geld zu kommen, seine Nachbarn in einem großen Krieg angegriffen hat. Erst den Iran - dieser Krieg hat acht Jahre lang gedauert und ist so ähnlich wie der Erste Weltkrieg, mit Stacheldraht, Giftgas und Massensturmangriff geführt worden - und anschließend Kuweit.

Es ist sozusagen ein netter intellektueller Schachzug zu sagen, die USA seien selber ein Schurkenstaat, aber der ist politisch nicht weiter gedeckt. In gewisser Hinsicht bewegt sich Chomsky da auch in einem performativen Selbstwiderspruch: wären die USA ein Schurkenstaat wie Nordkorea oder der Irak - wie Nordkorea einer ist, der Irak einer war -, dann könnte er so etwas im Herzen des Schurkenstaates nicht sagen. Das ist eine Arabeske der politischen Kultur der USA, und es ist wunderbar, dass es sie gibt, aber ein Ausfluss von politischer Weisheit ist es nicht unbedingt.

Solbach: Krieg ist nur so lange asymmetrisch, wie sich kein ebenbürtiger Gegner findet. Werden sich die Vereinigten Staaten im Nahen Osten durchsetzen? Wenn ja, womit? Gibt es angesichts der Lage im Irak noch ein vernünftiges strategisches Ziel? Die Region ist nicht befriedet, es gibt keine Demokratie, keine ökonomische Stabilität, kein sicheres Öl. Könnte man sagen, dass der Ölpreis der sicherste Indikator für das Scheitern der USA in dieser Zone ist?

Münkler: Ich will versuchen, meine Antwort zu teilen. Natürlich gibt es die Möglichkeit einer Resymmetrierung der weltpolitischen Konstellation im Teilbereich des Militärischen dadurch, dass jeder Staat mit Nuklearwaffen und Interkontinentalraketen ausgestattet würde. Sobald das der Fall wäre und jeder Staat eine hinreichende Anzahl von Nuklearwaffen hätte, um auch die Vereinigten Staaten anzugreifen und eine für sie schmerzliche Anzahl von Großstädten zu vernichten, wäre eine symmetrische Konstellation wieder da. Ich sage das, weil ich damit deutlich machen will, dass dies eine Situation ist, die wir uns unter gar keinen Umständen wünschen können. Gemäß der klassischen Sicherheitsüberlegungen wäre das Risiko der Multiplikation von nuklearen Akteuren unbeherrschbar: Auch wenn allen diesen Staaten klar wäre, dass ein solcher Schlag ihre Selbstvernichtung bedeuten würde, wäre er nicht prinzipiell ausgeschlossen. Das ist der erste Punkt. Der zweite ist, dass damit wohl auch substaatliche Akteure in den Besitz von Nuklearwaffen kommen könnten, also Akteure, deren Vernünftigkeit nicht durch ihre Verletzlichkeit garantiert wird. Das ist eine Situation, die wir wirklich fürchten müssen. Das heißt, wir sind nicht mehr in einer Situation, wo wir die Resymmetrierung der militärischen Fähigkeiten als ein erstrebenswertes Ziel ansehen können, ja ansehen dürfen.

Zum Irak, dem zweiten Punkt Ihrer Frage: Nach meiner Auffassung ist die schwierige Situation der Region nicht erst jetzt durch die jüngste Irak-Intervention der USA hervorgerufen worden, sondern besteht schon sehr viel länger. Die amerikanische Intervention, die ein Versuch zur Lösung des Problems war, ist fehlgeschlagen. Das geschieht häufig, dass Problemlösungsversuche das Problem größer machen als es vorher war, und das wird man in diesem Fall wohl so sagen müssen.

Aber das Problem ist tiefsitzend; es hat seinen ersten richtigen Thrill bekommen mit dem Wegfall des Schah-Regimes, insofern der Iran die militärische Ordnungsmacht der Region war und Saudi-Arabien der ökonomische gate keeper, der den Ölpreis immer wieder kontrolliert hat und dazu auch in der Lage war und ist. Die imperiale Ordnung, wie sie durch die USA garantiert wird, ist im Prinzip darauf begründet, dass strategische Ressourcen - und Öl ist eine der wichtigsten strategischen Ressourcen - auf einem Markt gehandelt werden und nicht durch Staaten mit militärischen Fähigkeiten erobert werden.

Es war die Politik Nazi-Deutschlands, sich mit militärischer Gewalt die Kontrolle solcher Ressourcen - seien das nun ukrainischer Weizen oder Öl am Kaspischen Meer oder was auch immer - anzueignen. Die Verabredung zwischen Churchill und Roosevelt in der Atlantik-Charta von 1941 sah vor, Frieden möglich zu machen und die Attraktivität von Krieg dadurch zu minimieren, dass man diese strategischen Ressourcen für Geld kaufen kann und nicht auf den Einsatz militärischer Gewalt angewiesen ist. Insofern ist die Aufrechterhaltung dieser Ordnung, die von den USA betrieben wird, so etwas wie ein kollektives Gut, an dem wir alle partizipieren, und - das will ich jetzt gegen die offiziellen Begründungen des Irakkrieges von Rumsfeld bis Bush auch so sagen - letzten Endes ist die Intervention der USA durch diese Aufgabe motiviert gewesen. Sie liegt gewissermaßen auf der Linie ihrer imperialen Raison. Alles andere haben sie kommuniziert, um politische Unterstützung innerhalb ihrer eigenen Bevölkerung zu mobilisieren. Das ist gründlich in die Hose gegangen und war teilweise auch dümmlich aufgebaut. Das Problem des Nahen und Mittleren Ostens ist also im Kern die Selbstblockade der arabischen Gesellschaften. Diese Selbstblockade muss gelöst werden, aber keiner weiß, wie das gehen soll. Die Europäer wissen es letzten Endes auch nicht, denn ihre Versuche, dort weiter zu kommen, sind nicht überzeugend. Jedenfalls kann man nicht sagen, dass sie dort eine breite Erfolgsbilanz haben.


Entzweiung durch Vereinigung


Solbach: Nehmen wir als Faktum: Amerika ist ein Empire. Es rechtfertigt die Parameter seines Handelns nicht unbedingt, aber es setzt sie. Sehen Sie Bedarf bzw. eine Rechtfertigung für eine alternative europäische Politik oder ein alternatives europäisches Politikkonzept? Die nächsten Fragen möchte ich auch als Unterfragen dazu verstehen. Die erste hieße: Wird Europa eine Nation?

Münkler: In gewisser Hinsicht kann man sagen, dass es einen europäischen Ordnungsentwurf alternativ zum amerikanischen gibt. Etwas vereinfacht heißt das, dass die Europäer die Weltordnung als eine Aggregation von Staaten denken, während die Amerikaner, eher imperial, Ordnung nicht polyzentrisch-plurivers denken, sondern als Verhältnis von Zentrum und Peripherie. Zur Umsetzung des europäischen Konzepts bedarf es einer großen Fähigkeit zur Mobilisierung von Ressourcen, um den Prozess des Zerfalls von Staatlichkeit von Kolumbien über Afrika bis nach Zentralasien aufzuhalten und umzukehren. Es bedarf eines ungeheuer langen Atems, um in diesen Ländern einigermaßen korruptionsresistente Eliten an die Macht zu bringen, und schließlich einen harten Willen dazu. Diese drei Bedingungen zu benennen, bedeutet, zu diagnostizieren, dass sie in Europa so nicht vorhanden sind. Wir gelangen mit dem kleinen Balkan und mit Afghanistan bereits an die Grenzen unserer Möglichkeiten. Der Skandal ist ja schon, dass wir vom subsaharischen Afrika die Finger lassen, von Darfur oder - in Wahrheit viel schlimmer - vom Kongo. Insofern spricht vieles dafür, dass letzten Endes auf der Ebene der Praktikabilität sich das amerikanische Modell durchsetzen wird und die Europäer vielleicht auf der Ebene des Feuilletons ihren Gegenentwurf immer mal wieder ins Spiel bringen - Habermas, Derrida -, dass aber auf der Ebene der Implementation davon nicht viel zu sehen sein wird.

Im Ernst haben die Europäer aber das Problem, ihre eigenen Ränder stabilisieren zu müssen. Das ist Osteuropa, das ist die Gegenküste des Mittelmeeres, also der nordafrikanische Raum, und das ist vor allen Dingen diese in ihr eigenes Fleisch hineinragende schwärende Wunde vom Kaukasus bis zum Balkan. Wenn es ihnen gelingt, diesen Bereich zu stabilisieren, dann agieren sie eher als eine Art Subzentrum der amerikanischen Ordnung denn als Alternative. Und auf dieser kleinen Ebene können sie auch unter Beweis stellen, dass sie nation building erfolgreicher machen können als die Amerikaner, wofür vieles spricht, da die Amerikaner sich in dieser Hinsicht keine Kompetenzen angeeignet haben, die Europäer dagegen vielleicht doch. Das wird man dann sehen.
Das sind aber keine grundsätzlich antithetischen Modelle, es ist sozusagen ein Wettbewerb um best practice.

Solbach: Gibt es überhaupt klare – historische, kulturelle, politische - Voraussetzungen für die Bildung einer Nation?

Münkler: Man kann das innerhalb der europäischen Geschichte als den Prozess der Nationalisierung Europas beschreiben, wie ich das auch in einem Buch zusammen mit Kathrin Mayer und Hans Grünberger gemacht habe – in Form einer historisch, diskurstheoretisch angelegten Rekonstruktion. In dieser Weise ist das sicherlich ein einmaliger Vorgang, den es vergleichbar weder im ostasiatischen Bereich (wo sich im Falle Chinas eine imperiale Ordnung mit starker Zentralisierung entwickelt hat) noch in Nordamerika gegeben hat. Ich glaube aber nicht im Ernst, dass die europäischen Nationen in Revision ihrer Geschichte zu einer europäischen Nation werden können. Alles, was wir in der letzten Zeit beobachtet haben, spricht eher dagegen. Das ist aber auch nicht schlimm. Die Aufblähung des nationalstaatlichen Ordnungsmodells auf europäischer Ebene ist letzten Endes ein totgeborenes Kind. Insofern denke ich, dass für die Europäer ein eigener Weg jenseits von Imperialität und Nationalität zu gehen ist, auf dem sie sicherlich im einen Fall hier Anleihen machen werden und im anderen Fall dort. Aber die Vorstellung einer europäischen Nation, das ist so ein typisches Intellektuellenkonzept und beschreibt bestimmte Wünschbarkeiten. Wenn man lange am europäischen Hochschulinstitut in Fiesole ist, dann hält man das für möglich, weil man es da mit einer europäischen Kommunität zu tun hat. Aber wenn man sich die Wahlkämpfe anschaut, kommt man zu einer anderen Meinung.

Solbach: Zerfall ist hässlich. Wann zerfällt Europa?

Münkler: Nein, ich glaube nicht, dass Europa zerfällt. Es ist eine Aggregation von Staaten mit vielfachen gemeinsamen Interessen und vor allem mit gemeinsamen Herausforderungen an ihren Rändern. Man kann freilich nicht ausschließen, dass auch einmal ein Staat aus der Europäischen Union wieder austritt, weil einer Mehrheit seiner Bevölkerung die Art der Integration nicht gefällt oder die mit ihr verbundenen Souveränitätsabgaben ihr zu weit gehen. Großbritannien ist womöglich dafür ein Kandidat – was ich selbst übrigens sehr bedauern würde. Aber das wäre nicht das Ende der EU, sondern nur ihre Verkleinerung, also eine partielle Umkehrung des Erweiterungsprozesses der letzten Jahrzehnte. Aber auch dem kann man entgegensteuern, indem man Europa in unterschiedlichen Stufen integriert. Wir haben das zur Zeit ja schon: Weder der Schengenraum noch der Euroraum sind mit dem der EU deckungsgleich. Zur Zeit steht das freilich noch alles unter der Zukunftsperspektive, dass alle diese Räume dermaleinst, wenn Europa seine endgültige Gestalt erreicht haben wird, wie das formelhaft lautet, zur Deckung kommt. Aber warum eigentlich? Es wäre doch viel vernünftiger, diese unterschiedlichen Integrationsintensitäten als ein Wesensmerkmal der europäischen Ordnung zu akzeptieren. Dann müsste man freilich vom Nationalstaat als Vorbild der europäischen Integration abgehen und sich stärker an imperialen Integrationsformen orientieren: Stärker und dichter im Zentrum, weniger zu den Rändern hin. Und kein politischer Zwang zur Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse. Ich nehme an, dass es so kommen wird, weil der Beitrittsdruck von außen die bisherige Integrationspolitik überfordern wird. Man muss nur bereit sein, vom Imperium zu lernen – nicht hinsichtlich gewaltsamer Expansion, sondern vielmehr hinsichtlich flexibler Integration. Dann muss Europa auch keine Mauern um sich bauen, die keiner übersteigen kann. Wir sollten nicht vergessen: Die mythische Europa ist auf dem Rücken des Stieres von Kleinasien nach Kreta gekommen. Diesen Weg sollten wir nicht zumauern.