Hans P. Lichtenberger
›Ein Anderer ist Ich!‹
Bemerkungen zum ontologischen Krimi der Stellvertretung

1.

Adornos »Rat an Intellektuelle: lass dich nicht vertreten« (Minima Moralia, Aph. 83) beschwört ein Authentizitätspathos, wie es im 20. Jahrhundert sonst nur noch der Existenzphilosophie zu eigen war. Kants Einsicht, dass es in Fragen der Moral keine Stellvertretung gebe, hatte die Richtung gewiesen. In dem Maße, in dem die gesellschaftliche Arbeitsteilung sämtliche Lebensbereiche durchdrang, kultivierte jedenfalls das Bürgertum die aus der idealistischen Philosophie in den allgemeinen Bildungsfundus abgesunkene Idee der Unersetzlichkeit des Individuums. Die Karriere des Identitätsgedankens bis hinein in Lehrpläne, Trivialpsychologie, Talk-Shows und Modereklamen vollzog sich parallel und komplementär zu einer alle Sphären durchdringenden universellen Substituierbarkeit. – Dies ist nicht neu und selbst eine beliebte Figur der Zeitkritik. Dass die Grenzen des Privaten und Öffentlichen, von Individualität und Allgemeinheit längst durchlässig geworden sind, ist ebenfalls bekannt. Dass Subjektivität sich nur durch Intersubjektivität generiere, dass sie eine naturale Basis in der Evolution habe, ist vielfach durchleuchtet und wiederholt.

Weder soll hier das postmoderne Totenlied auf das Ende des Subjekts nachgeleiert werden, noch werden die neuerdings wieder zahlreicheren Atteste über dessen Weiterleben kommentiert. Beiderseits ist auffällig, dass die basale Grunderfahrung einer generellen Vertretbarkeit und einer faktisch statthabenden funktionalen Stellvertretung kaum in das jeweilige Konzept subjektiver Identität – ob bejaht oder abgewiesen – eingeht. ›Stellvertretung‹ ist kein soziologisches oder philosophisches Theoriemuster, allenfalls ein juristisches und politologisches. In der Theologie ist seine Anwendung strittig. Das alles mag seine Gründe in der Diffusität des Begriffs haben, der sich schwerlich auf eine allgemeine Struktur vereindeutigen lässt. Es mag auch sein, dass dieser Begriff zwischen vorhandenen Theoriefronten zu unliebsam oszilliert, als dass er griffig operationalisiert werden könnte. Nicht völlig abzuweisen auch die Vermutung, dass das im Phänomen Stellvertretung Beschlossene bestimmte Wurzeln unsres Selbstverständnisses zu peinlich berührt.

Das Phänomen liegt auf der Hand: Eltern vertreten ihre Kinder, Anwälte ihre Mandanten, Politiker die Wähler, Funktionäre die Mitglieder, Priester die Gläubigen, Experten die Wissenschaft... Aber auch der Papst vertritt einen unsichtbaren Höheren, der Gouverneur die Krone, der Vize den abwesenden oder sonstwie verhinderten Chef. Der Star vertritt die Sehnsüchte der Massen, der Sündenbock die Wut der Horde, die Konsumware die Unerfülltheiten des Lebens, Stellvertreterkriege die wahren Konflikte. - Ersichtlich sind diese drei durchaus vermehrbaren Exempelreihen strukturell nicht aufeinander abbildbar.

Die europäische Sprachtradition hat für die unterschiedlichen Vorgänge ein reiches Ensemble an Begrifflichkeiten entwickelt; so z. B. ( – in lateinischer Wurzel – ) repraesentatio, delegatio, substitutio, procuratio, intercessio, vicariatio. Konnotiert sind diesem Begriffsfeld zugleich Prozesse des Symbolisierens, Opferbringens und Ersatzleistens. Demgegenüber ist das deutsche Wort ›Stellvertretung‹, das erst ab dem 18.Jahrhundert belegt ist, von umfassender Unschärfe. Ihm ist zudem der Geruch des Unechten, Unauthentischen zugewachsen, da es sich nolens volens zum Gegensatz des Autonomiegedankens entwickelt hat. Frei ist ein Subjekt da, wo Stellvertretungsverhältnisse enden; Stellvertretung bedeutet eine nichtintegrierbare Nichtidentität. Eines Stellvertreters bedarf, wer nicht in der Lage ist, die eigenen Angelegenheiten wahrzunehmen. Die moderne Umettikettierung des Stellvertreters zum Dienstleister beruhigt wohl die Mentalität des Vertretenen, verändert aber nicht die Bedürftigkeit. In dieser ist umfassende soziale Abhängigkeit mitgemeint.

2.

Stellvertretung ist ein öffentlicher Akt, der intermediär zwischen Individuum und Allgemeinheit eingeschaltet ist. Sie tritt ein, wo dieses Verhältnis nicht mehr unmittelbar gegeben ist; jede Steigerung gesellschaftlicher Differenzierung treibt immanent den entsprechend erhöhten Bedarf an Stellvertretungsleistungen hervor. Sofern jener Prozess zugleich auch der einer zunehmenden Individualisierung ist, treten Stellvertretung und Individualität in ein prekäres Spannungsverhältnis, das sich mit Rollentheorien wohl nur auf der Ebene des Funktionssystems abfedern lässt. Denn, wie gesagt, im gleichen Maße wie Vertretbarkeit generalisiert wird, wächst trotzig die Zuschreibung der personalen Unersetzbarkeit des Individuums. In diesem Sinne macht auch der deutsche Terminus die Unterscheidung von Individuum und ›Stelle‹, also dem Ort, den es einnimmt, ohne mit ihm identisch zu sein. Doch lässt sich ein stellenloses Individuum allenfalls in der Transzendentalphilosophie oder auf dem Arbeitsmarkt denken.

Jeder Mensch erfährt und übt Stellvertretungen, deren Umfang und Abstufungen sich weitgehend der bewussten Wahrnehmung entziehen. Nur zu einem geringen Teil sind aktive oder passive Vertretungen dem zurechenbaren Willen eines Subjekts geschuldet, sie sind zumeist Widerfahrnisse, die die freie Entscheidung empfindlich einschränken. Aus ihrer Latenz können sie plötzlich unversehens als Verpflichtungen, schmerzhafte Einschränkungen oder Entmündigung aktualisiert werden. In sie eingegangen sind stets die Erwartungen Anderer; die Differenz von Selbst- und Fremdzuschreibungen kann hier zu unlösbaren Konflikten führen.

Elementar gesehen, heißt aktive Stellvertretung, dass jemand für einen Anderen spricht oder handelt oder etwas erleidet, der dazu selbst zeitweilig oder grundsätzlich nicht in der Lage ist. Für den Vertretenen bedeutet es, dass jemand seine Interessen wahrnimmt, der dies erfolgreicher tun kann als er selbst; dies kann Aufbau oder Entmächtigung seiner Person bedeuten. Stellvertretung ist in jedem Falle eine triadische Struktur, denn die Vertretung jemandes durch jemanden geschieht immer gegenüber einem Dritten. Stellvertretung funktioniert nur auf der Bühne, vor einem Publikum oder einer Instanz. Es kommt letztlich nicht darauf an, ob die Beziehung zwischen Vertreter und Vertretenem die eines freiwilligen Kontraktes ist, entscheidend ist, dass die dritte Instanz dies Verhältnis anerkennt. Schlussendlich wird dies die Öffentlichkeit sein. Entzieht diese dem Stellvertretungsverhältnis die Anerkennung, so bricht es zusammen, so wie ein Schauspieler, der auf der Bühne nicht mehr als Darsteller, sondern als Privatperson agiert, ausgepfiffen wird.

Anerkennung zwischen Vertreter und Vertretenem findet statt als die Anerkennung Ungleichartiger als ungleicher. Vertretung basiert nicht auf Reziprozität in ein und derselben Hinsicht, sondern auf der Akzeptanz der asymmetrischen Verteilung von Fähigkeiten und Kompetenzen. Mit dem Hegelschen Konzept der Anerkennung hat diese Konstellation vermutlich nur dies gemein, dass beide Seiten sich selbst entfremdet sind. Der Vertreter, indem er nicht auf eigene Rechnung, sondern für seinen Mandanten handelt, der Vertretene, indem er seine Selbstbestimmung in die Hände des Anderen gelegt hat. Oder sollte man besser sagen, dass in ihrer Interaktion sich beide Parteien verdoppeln? Jeder Partner zeigt sich als ein Anderer, als der er für sich ist oder zu sein meint. Das Verhältnis des ›Als ob‹ regiert beide Seiten. Wer handelt hier ›wirklich‹? Gibt es überhaupt einen Täter?

3.

Stellvertretung ist in der Sprache der Luhmannschen Systemtheorie ein Verfahren zur Reduktion von Komplexität. Da ich in einer unübersehbar komplexen Welt nicht alles, was mich betrifft - und was wäre das nicht? – selber machen oder regeln kann, müssen Andere für mich handeln oder Erfahrungen machen. Das Vertrauen in die Zuverlässigkeit dieser Relationen ist so systemnotwendig wie lebensnotwendig für den Einzelnen. Zumeist ist es abgestützt durch Routinen, nur in exzeptionellen Fällen legitimiert es sich durch Gründe. Unsicherheiten der Wahrnehmung und Unentscheidbarkeiten des Handelns werden so entschärft und bearbeitbar gemacht. – Die Akzeptanz von Vertretungen impliziert also eine gewisse Risikobereitschaft, die zwischen bedingungslosem Vertrauen, akribischer Vergewisserung und grenzenlosem Misstrauen pendeln kann. Der Fall, dass ein Stellvertreter bereits da ist, ist wohl häufiger als die freie und ausdrückliche Wahl desselben. Insofern muss das Vertrauen mit der Möglichkeit von Enttäuschung rechnen, da der Vertetene weiß – wenn er es denn weiß - dass er nicht über hinreichende Kapazitäten verfügt, um eine Situation definitiv beurteilen und angemessen in ihr agieren zu können. So klafft stets ein Spalt zwischen dem Modus formeller Vertragsbeziehungen, in dem sich das Verhältnis ausdrücken kann, und der einseitig riskanten Vorleistung, die der Vertretene in der Hoffnung erbringt, nicht enttäuscht zu werden. Doch der rückhaltlos Vertrauende entmächtigt sich selbst und gibt jede selbständige Verhaltensmöglichkeit preis, der radikal Misstrauende kompliziert sein Leben unerträglich bis zur finalen Handlungslähmung.

Wer auch immer handeln will, muss sich darauf verlassen können, dass er in jeweils anderen Kontexten gerade nicht zu handeln braucht, dass das Andere für ihn erledigen. Vertretung schenkt Zeit unter den Bedingungen von deren Knappheit. Insbesondere da die Zukunft das häufig angstbegleitete Feld überkomplexer Möglichkeiten ist, müssen Vertretungsverhältnisse auf jedenfalls kalkulierbare Dauer angelegt sein. Der abrupte Entzug von Vertretungen kann Lebensentwürfe völlig desorientieren. Vertretung schafft Zeitgewinn für die Gegenwart und Stabilitätsräume für die Zukunft.

Doch wird sie mit Gründen stets von Misstrauen begleitet, da sie mit immensen Risiken behaftet ist. So können auf beiden Seiten die persönlichen Selbstverständnisse sich ändern oder auch völlig aus dem Ruder laufen. Vertretung kann für den passiv Verwickelten die Wahrnehmung eigener Inkompetenz oder Ersetzbarkeit aufdrängen, die nur Personen von einer gewissen inneren Sicherheit zu ertragen vermögen. Sie kann auf der anderen Seite ebensosehr Selbstüberschätzungen auslösen wie auch das Gefühl, einer Verantwortung nicht genügen können, nicht zuletzt die Frustration, für unfähige Andere statt für die eigenen Belange handeln zu müssen.

Aber auch eine noch so gut gemeinte Vertretung kann misslingen. Dann zeigt sich die Stellvertretung als ein System organisierter Verantwortungslosigkeit. Stellvertretung ist kein imperatives Mandat, sondern beinhaltet Freiheitsspielräume des Beauftragten. Der Vertretene ist nicht oder nur in geringem Maße verantwortlich für das Tun seines Vertreters, aber er hat die Folgen zu tragen und zu erleiden. Wohl trägt der Rhetorik nach der Vertreter die Verantwortung, aber in aller Regel bleibt er von den Folgen unbetroffen. Das Honorar ist auch für den verpatzten Prozess fällig, der gescheiterte Manager erhält den goldenen Handschlag, der Politiker ein neues Amt.

Da misslungene Stellvertretungen nur selten einklagbar sind, bedürfen sie besonderer Techniken der Verarbeitung von Enttäuschungen. Charakteristisch dafür ist, dass nicht die Rolle selbst infrage gestellt wird, sondern lediglich deren Vorzeichen umgetauscht: der Stellvertreter wird zum Sündenbock. Angesichts der mit zunehmendem Narzissmus anschwellenden Flut von Enttäuschungen steigt der Sündenbockbedarf entsprechend.

Es braucht hier keine Rolle zu spielen, ob in einer historischen Kulturanthropologie der Sündenbock als der Prototyp des Stellvertreters ausgemacht wird; in komplexen Gesellschaften scheint allemal der Sündenbock als die Rückseite des Januskopfes Stellvertretung aufzutreten. Sein Signum ist nicht die funktionale Handlungsentlastung, sondern die psychische Entlastung durch Übertragung. »Fluch und Segen der Sündenböcke« - um einen Buchtitel zu zitieren – lassen sich nicht auseinanderdividieren.

Das dehnbare Band einer stillschweigenden Übereinkunft beider Seiten wird zerrissen, wenn Stellvertreter ohne Zustimmung oder gar gegen den Willen der Betroffenen sich selbst ernennen. Das können bloße paternalistische Anmaßungen sein, wie sie aus dem täglichen Leben bekannt sind. Pikanter sind die Fälle, in denen künstlerische, intellektuelle und politische Eliten Stellvertretungspositionen für die zurückgebliebene Masse der Unmündigen beanspruchen. Die fehlende Legitimation kann hier nur von übergeordneten Instanzen beigeholt werden, vom Weltgeist, vom Geschichtsprozess, von der Nachwelt oder anderen einwandsimmunen Ermächtigern.

So notwendig derartige Rollenusurpationen für gesellschaftliche Entwicklungen auch sein mögen, – in ihnen wird auch das latent Komische, das alle Vertretungen begleiten kann, manifest. Es offenbart sich der Bühnencharakter dieses Geschehens. Kein Wunder, dass die Verwechslungskomödien früherer Jahrhunderte und des heutigen Films für die Phänomenologie der Stellvertretung facettenreicher und erschließender sind als die elaboriertesten Subjektivitätstheorien.

Der entgegengesetzte, nicht minder zur Komik neigende Fall ist der des selbsternannten Opfers. Es nimmt einen angenehmen Ort ein, indem es die Beteuerung, nicht schuld an der eigenen Misere zu sein, mit einer subtilen Strategie der Macht verbindet. Das freiwillige Opfer ist der Täter, der es nicht gewesen ist. Es macht im Gegenzug die Anderen zu unfreiwilligen Stellvertretern seiner selbst. Auch hier klappt die Komödie der Vertauschungen nur, wenn alle mitspielen und das Publikum Beifall klatscht.

4.

Dass der Mensch das mimetische Wesen sei, gehört zum Standardrepertoire heutiger Kulturphilosophie. Nachzulesen ist diese Entdeckung freilich schon bei Platon und Aristoteles. Ihre heutige Beliebtheit verdankt sie nicht zuletzt der Tatsache, dass sie den Menschen von der Last rationaler Begründungen befreit. Mimesis tritt ein, wo selbstverantwortete Begründungen fehlen, weswegen auch immer. Alltägliches Leben wird weitgehend ohne solche auskommen, will es sich nicht bis zum Handlungsstillstand überfordern. So ist Nachahmung ein elementares Orientierungsmuster des Sozialen, in dem sich noch die vermeintlich individuellste Attitüde verfängt. Als vorrationales Verhalten ist sie auch von der abstrakten Regelbefolgung unterschieden; als die Triebfeder zu dieser gewährt sie Abweichungsspielräume, in denen sich das Moment des Subjektiven darstellen kann.

Wenn Mimesis die anthropologische Grundstruktur der Stellvertretung bezeichnet, so ist das mit ihr angesprochene Verhältnis ungleich komplexer als das von Urbild und Abbild. Dieses ist lediglich ein stillgestelltes Derivat einer fundamentalen Dynamik., die in dem Paradox besteht, dass ich den Anderen nachahme, der wiederum mich nachahmt. Wir beide spielen in Doppelrollen ohne einen normativen Bezugspunkt.

Nach René Girard ist diese mimetische Rivalität die Ausgangssituation aller Kultur. Der Andere – das ist die widersprüchliche Konstellation – erscheint jeweils zugleich als Vorbild wie als Konkurrent. Er ist der bewunderte und gehasste Doppelgänger meiner selbst. Dabei interessiert nicht primär der Andere als solcher, die Rivalität entzündet sich am Objekt, das er und ich begehren. Das Objekt gibt die mimetische Außensteuerung; seine qualitative Bestimmtheit ist dabei weniger entscheidend für die Richtung des Begehrens als der aus der Rivalität entspringende Wunsch, es ebenfalls zu haben. Dieses Dreieck der Begierde kann besichtigt werden in den jeder pragmatischen Vernunft entbehrenden Prestigetänzen, die Hauptgegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit sind, wie auch in einem Wirtschafts- und Konsumverhalten, das auf dem Exorzismus des Realitätsprinzips beruht. Marketingstrategien sind nur Verstärker dessen, was in der Mimesis schon immer angelegt ist: nicht ich wähle, sondern ich werde gewählt.

Mimesis ist eine Relation, die nicht im Subjekt allein zu verankern ist. Ihren Ausgang nimmt sie bei dem Nachgeahmten. Sie ist ein Prozess, der Differentes gleich macht. Mimesis ist Identifikation mit der Dominanz des Anderen oder des Objekts. Was an Identität bleibt aber dem mimetischen Wesen, das Selbstverlust zum Programm erhoben hat? Welche Stabilität kann noch gelten, wenn unter den Bedingungen wechselseitiger Mimesis der Rollentausch der Doppelgänger stattfindet? Wer ist wie identifizierbar, wenn jeder sowohl sich als auch den Anderen doubelt?

Ob sich dieses »who is who?« der mimetischen Theorie wirklich durch das bekannte Sündenbockparadigma und die daraus folgende Religions- und Kulturtheorie schlüssig auflösen lässt, bleibt sehr die Frage. Auf Eindeutigkeit gestellte Vertretungsfunktionen sind jedenfalls Versuche, das mimetische Chaos zu ordnen. Doch dieses liegt ihnen zugrunde und kann jederzeit wieder aufbrechen. Seine Ambiguität bleibt – wie vital oder schwach auch immer - ihnen immanent.

5.

Stellvertretung ist ein Prozess, bei dem sich Identitäten verwischen. Doch die Differenz zwischen Vertreter und Vertretenem bleibt unaufhebbar. Sie ist abhängig von der Vielfalt der Vertretungshinsichten, den gewählten Medien, den positionellen Gegebenheiten der Partner, den möglicherweise wechselnden Adressaten, den Fluktuationen im Selbstverständnis der Beteiligten. Da Stellvertretung mit Handeln und Situationen zu tun hat, gibt es keine wahre oder falsche, sondern allenfalls eine adäquate oder inadäquate Stellvertretung.

Adäquate Stellvertretung stünde unter dem uneinlösbaren Anspruch, den Anderen ebenso oder gar besser zu verstehen als dieser sich selbst versteht. Hermeneutik und Psychologie sind in dieser Frage zu keinem Ende gekommen. Schon das Problem, ob einer sich selbst angemessen verstehen könne, wird aporetisch bleiben. Es kommt hinzu, dass Selbstverstehen nicht einem selbstbezüglichen Ich unmittelbar gegeben ist, sondern durch Verstehen und Missverstehen der Anderen sich allererst konstituiert. Darin liegt allerdings die begrenzte Chance jener Kommunikation, die alltagspragmatisch zumeist zureichend funktioniert.

Die Fremdheit beider Seiten ist nicht nur unaufhebbar, sie ist für das Geschehen selbst notwendig. Anstelle oder zugunsten eines Andern handeln setzt gerade voraus, dass man nicht in seiner Haut steckt. In der Unüberwindbarkeit dieses Bruches liegen aber die Enttäuschungspotentiale. Nicht nur, dass das Selbstverständnis des Vertretenen nicht unverwandelt transportiert wird, sondern dass es häufig genug aufgebrochen werden muss. Wiederum wird der Vertreter nicht völlig selbstlos handeln, sondern immer auch in eigener Sache. Diese Differenz wird sich in seinem Agieren nie völlig zur Deckung bringen lassen.

Selbst- und Fremdverstehen bleiben bei beiden Partnern nicht nur im üblicherweise zu unterstellendem Umfang diffus, sondern auch grundsätzlich getrennt. Die nötigen Übersetzungsprozesse sind kein unendliches hermeneutisches Gespräch, sondern werden durch Handlungszwänge abgebrochen.

Stellvertretung ist Repräsentation eines Abwesenden. Abwesenheit ist dabei nicht nur räumlich aufzufassen. Es gibt auch funktionelle Abwesenheit bei leiblicher Anwesenheit. Wie Abwesendes zur Präsenz komme, ist seit der Antike eine der Grundfragen der Philosophie. Teilhabe-Modelle wie auch Dialektik sind Versuche, etwas in einem anderen zur Darstellung zu bringen. Stellvertretung in ihrer schillernden Phänomenologie partizipiert an beiden Formen. So nimmt sie auch an deren Aporien teil.