Dietrich Harth
Die Bühne als Laboratorium der Gefühle

1.

Wer sich wachsam die täglichen Bildschirmauftritte der politischen Führer und ihrer Adjunkte ansieht, wird an der Inszenierung der Macht nicht zweifeln. Daraus den Schluss zu ziehen, das sei doch alles Theater, verharmlost indessen die Sache, um die es hier geht. Denn die elektronischen ›Bühnen‹ produzieren eine Realität, der die ästhetischen Wahrnehmungskonventionen im Schauspiel kaum gerecht werden können. Ihre Ziele heißen Aktualität und Information, selbst wenn es nur darum geht, gestisch die Botschaften unerschütterlicher Präsenz und einer wie immer legitimierten Entscheidungsmacht zu verbreiten. Reagiert der Zuschauer darauf gefühlsbetont, so stehen ihm in der Regel drei Varianten zur Verfügung: stummes Abnicken, lautstarke Empörung oder gelangweilte Resignation. Dass einer hasserfüllt aufspringt und die Inneneinrichtung zertrümmert, gehört wohl eher zu den Ausnahmen politischer Psychopathologie.

Da der publizistische Diskurs mittlerweile die Theatermetaphorik in grenzenloser Weise auf alle sozialen und politischen Phänomene anwendet, ist es naheliegend, zunächst die diesem Sprachbildtransport zugrunde liegenden Merkmale abzufragen. Geplante Massenkundgebungen – eine moderne Einrichtung – haben ihre Schauplätze, werden inszeniert und machen Gebrauch von passenden Kulissen und Requisiten (Kultbilder, Fahnen, Beleuchtung, Musik etc.), die Hauptredner agieren stimmlich sowie körpersprachlich nach den elementaren Regeln des Frontaltheaters – Stalin und Hitler nahmen entsprechenden Unterricht – und das ›Publikum‹ äußert sich ähnlich wie im Theater mal andächtig, mal applaudierend. Und dennoch, wenn auch alles andere stimmen mag, die Rede vom Publikum ist hier offensichtlich Fehl am Platz. Denn in der Massenkundgebung geht es um Teilnahme, nicht ums bloße Zuschauen. Die zuletzt genannte Einstellung mag zwar dem desengagierten Beobachter zustehen, der das Ereignis analysieren und beschreiben will; wer aber partizipiert, wird nolens volens zum Teil des Gesamtprozesses. Und just darauf hat es die Massenkundgebung abgesehen, was im übrigen auch für kleinere Inszenierungen politischer Versammlungen gilt. Es ist die so genannte ›rituelle Teilhabe‹, die jeden einzelnen in den ominösen Gefühlsrausch eines Kollektiverlebnisses eintaucht, um Kontrolle nicht nur über seine Empfindungen, sondern auch über sein Urteilsvermögen auszuüben.

Der Begriff des Rituellen trifft auf solche Fälle daher weitaus eher als der des Theatralischen zu. Gewiss, auch Rituale und Ritualisierungen haben ihre Schauseiten und damit verbundenen inszenatorischen sowie szenischen Bedingungen. Aber es ist ein Trugschluss, mit der Cambridge Myth & Ritual School des späten 19. Jahrhunderts anzunehmen, das europäische Theater, und nur von diesem ist an dieser Stelle die Rede, habe seine evolutionären Wurzeln in religiösen Ritualpraktiken. Es ist vielmehr aus dem Bruch mit diesen hervorgegangen, woran der kultische Aufführungsrahmen der Dionysien und Panathenäen nichts ändert. Die Verneinung ist nachprüfbar, da sich das Verneinte in den frühesten Dramentexten als Zitat und Argumentationsfigur wiederfindet. Wenn die Ritualpraxis mit den Gefühlen der Teilnehmer spielt, so spielen die Zuschauer im Theater selber die Gefühle nach, die im Laboratorium der Bühne ausprobiert werden. Hier ist der Umgang mit Emotionen in einer Weise an die Instanz des freien, ja des verantwortungslosen Urteils geknüpft, die vom Polittheater instrumentalisiert, wenn nicht zu Zwecken der Machtausübung missbraucht wird.


2.

Den Künsten ist gemeinsam, alle Sinne anzusprechen, je nach Art und Gattung die einen stärker, die andern schwächer. Die traditionelle Unterscheidung zwischen Raum- und Zeitkünsten, für die es im Grunde nur schwache Argumente gibt, betont hier den Raum-, dort den Zeitsinn. Aber das sind Sinne, die nicht unbedingt nur an die physiologisch konkretisierbaren Wahrnehmungen – Gefühl, Geruch, Gehör, Gesicht – gebunden sind; Raum und Zeit sind nicht zuletzt Resultanten rechnerischer und maßnehmender, will sagen: ordnungsstiftender Operationen, die der Verstand gern mit Kognitionseffekten verbindet. Begriffe also, die kraft Erinnerung im Nachhinein modellieren, was sich im Augenblick der Erfahrung dem Wort entzieht. Aber just dieser Aufschub der Geistesgegenwart und ordnenden Rede gehört zum Kernbestand dessen, was die Bühne in darstellender Handlung theatralisch in Szene zu setzen sucht. Wenn daher die früheste Dramenpoetik Raum und Zeit des Bühnengeschehens reflektiert, so bedenkt sie den Rahmen, der die Hauptsache einfasst: Anspannung und Entspannung solcher sinnlichen Erregungen, die mit der Willkür körperlicher Ausdruckshandlungen und nicht mit ihrer intellektuellen Zurichtung in Einklang stehen. Die Katastrophe am Ende der klassischen Tragödie ist nicht zuletzt eine Katastrophe des Logos, die keinesfalls unvorbereitet, sondern e contrario mit schleichender Notwendigkeit – über Täuschungen, Missverständnisse, Lügen vermittelt – das Getriebe temperierter Empfindungen verstört und bis zur Explosion erhitzen kann, ohne dass der Zuschauer deshalb den Kopf verlieren muss.

Zu zeigen, wie die Erregung – sei sie aus Argwohn, Fanatismus oder Leidenschaft hervorgegangen – die ordnende, zähmende Kraft der Rede zu zerstören sucht, ist das große Thema der klassischen Dramatik. Allein, in der Regel siegt der rhetorische Logos am Ende selbst noch über das Blut der Opfer und über die Verzweiflung der wider Willen schuldig gewordenen Täter. Das ist der rationale, den rauhen Mythos domestizierende Gehalt jener Katharsis, die den auf dem Höhepunkt der tragischen Handlung entgleisten Sinnenhaushalt wieder aufs Maß einer mit wohlgesetzten Worten artikulierten Rede und geheiligten Sozialregel zurückführt. Von Aristoteles bis Diderot und Lessing gilt daher das Theater als eine therapeutische Einrichtung der Gefühlskultur, deren Anwendungen indes die Adressaten ohne Darstellungkunst nicht erreicht.

Hier sind anders als im Politritual, das Macht über Köpfe und Herzen üben will, mit Hilfe kunstvoll inszenierter Illusion die Gefühle, um der Selbsterkenntnis willen, bis zum Paroxysmus zu steigern und dann aufs erträgliche, verträgliche Maß wieder herabzustimmen. Die tragische Ironie, die sich einstellt, wenn es für die vernünftige, eine Affekthandlung hemmende Einsicht zu spät ist, demonstriert die Grenzen der Vernunft, um die Notwendigkeit normativer Handlungskonzepte unter Beweis zu stellen, ohne den Zuschauern ein politisches Rezept aufzwingen zu wollen. Wo immer Rache die Triebfeder für eine vermeintlich gerechtfertigte Wiederherstellung der Ordnung ist – das gilt auch für Shakespeares Dramen -, schlägt eine übergeordnete Ordnungsmacht zurück, die sich in der märchenhaften Gestalt eines Gottes und in der anonymen Erscheinung eines kosmisch oder gesellschaftlich Allgemeinen materialisieren kann. Die Akteure auf der politischen Bühne dürfen zwar auf solche Mächte pochen und sich bei Gelegenheit ihrer öffentlichen Auftritte mit einem passenden patriotischen, militärischen oder pseudoreligiösen Dekor umgeben, ihr Handeln ist gleichwohl ausnahmslos an den Prinzipien politischer Gestaltungsrationalität zu messen und nicht an der ästhetischen Gestaltung mythischer Narrative. Wird diese Genretrennung grobschlächtig verletzt, übernimmt z.B. der demokratisch gewählte Präsident verbal und gestisch die Attitüde des Heilspredigers, dann ist Gefahr im Verzug, da hier einer die wahren Absichten hinter einer Maske verbirgt.

Auf der Theaterbühne die im Handeln überhaupt wirksame Heteronomie der Zwecke darzustellen, verpflichtet den klassischen Dramatiker, seine Dialoge aus einem narrativen Kern - Mythos, Plot oder Fabel – zu entwickeln. Das Bühnengeschehen zu entliterarisieren oder gar – wie das seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in steigendem Maß zu beobachten ist – zu entdramatisieren, setzt demnach ein Verhältnis zwischen Handlung, dramatischer Rede und Bühne voraus, das sich – betrachtet man die Theatergeschichte seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts – beidem widersetzt: dem literarisch-narrativen Medium der Handlung und der kathartischen Wirkung. Und daher drängt sich die Frage auf, was in diesem Fall mit dem moralisch brisanten Potential der Emotionen geschieht, deren theatralische Darstellungsskala sowohl das zarteste Liebesschmachten als auch den grausamsten Amoklauf der Affekte umfasst.

Die historische Skizze, an der ich mich hier versuche, wird diese Frage nicht einmal annähernd beantworten können, sie ist nur ein bescheidener Entwurf. Als eine der gesellschaftlich hoch angesehenen Kerninstitutionen der westlichen Kultur hat sich das Theater – selbst noch in den Negationsgesten einer traditionsstürzenden Moderne – hartnäckig immer wieder auf die Formen der klassischen Dramaturgie und Dramenpoetik zurück bezogen. Wenn es, wie ein gewitzter Allgemeinplatz behauptet, nichts Beständigeres als den Wandel gibt, so ist die Kulturgeschichte des Theaters dafür ein passender Beleg. Denn es ist seit alters der prominenteste und vielleicht sogar zugänglichste Ort, an dem die Verwandlung (und zugleich der Wandel der Personen, Dinge, Räume und Zeiten) zum eigentlichen Thema geworden ist. Was soziokultureller Wandel im Kontext der Gefühls- und Empfindungsforschung heißen kann, das ist daher – wie ich vermuten möchte – nur allzu deutlich an den Bewegungen abzulesen, durch die die Gestaltungsgeschichte der theatralischen Künste im Laufe der Zeiten hindurchgegangen ist.

3.

Wie jede Kunst ist auch die der Dramatik und die des Theaters eine Sache der Formgebung und mithin des Konstruierens. Form ist in diesem mit ästhetischer Erfahrung gekoppelten Gedanken nicht als etwas Kontingentes zu denken. Vielmehr steht der Begriff für ein exklusives Verfahren der Enthüllung, das im Medium des Logos als Rede allein nicht zu realisieren ist. »The work of art«, heißt es z.B. in Susanne K. Langers kunstphilosophischem Versuch Feeling and Form, »reveals the patterns of possible sentience, vitality, and mentality, objectifying our subjective being – the most intimate ›Reality‹ that we know.« Die künstlerische Formgebung als Ent-Hüllung eines ansonsten Verborgenen zu betrachten, korrespondiert der Suche nach einer nur außerhalb des Begrifflichen, das heißt im Nicht-Diskursiven aufblitzenden Erkenntnis. Weshalb es plausibel erscheint, in den historischen Wandel der Künste den der ästhetischen Erkenntnis einzuschließen. Wandel bedeutet Veränderung, ohne damit sagen zu wollen, der Übergang, den die Veränderung anzeigt, sei in jedem Fall wahrhaftig ein Qualitätssprung. Vielmehr ist die Wandlung nichts anderes als der Modus des histrionisch bzw. darstellerisch Möglichen: Die Erscheinungsweise hat sich geändert, die Person bleibt dieselbe. Die Sprache ist hier sehr genau, da Person und Maske semantisch zusammengehören, und es keine andere Form der Selbst-Darstellung gibt als die des In-Szene-Setzens vor andern, also vor Zuschauenden. Wir sagen: »Sie oder er zeigt Gefühle« und machen mit dieser Redeweise aufmerksam auf die Notwendigkeit, zwischen dem Erregt-Sein und dem Erregung-Zeigen zu unterscheiden.

Susanne Langers Ansicht der ästhetischen Erkenntnis bedarf gleichwohl einer Erweiterung. Denn die im Kunstprozess wahrnehmbare Objektwerdung des Subjektiven im Modus des histrionisch Möglichen wirkt wiederum zurück auf die Selbstwahrnehmung und ist daher ein die Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen ›social and intimate reality‹ markierender Vorgang, ein Vorgang, dem wir im übrigen zahlreiche Vermittlungsbegriffe verdanken, die das In-der-Welt-Sein mit guten Gründen als eine natürliche und zugleich künstliche Bühnen-Konfiguration zu fassen suchen. Nun steht die Evolution der materiellen Kultur inklusive Technik in enger Wechselwirkung mit dem Bedürfnis, die Wahrnehmungsfähigkeit resp. Sensibilität zu entlasten und zugleich zu erweitern. Woran wäre das besser abzulesen als an den Kunstprozessen des Theaters, deren variable Plastizität auf nichts anderes als eine äußerst intensive Fokussierung der Wahrnehmungsprägnanz – das Zuschauen – bezogen ist? Und das gilt ohne Unterschied sowohl für traditionelle als auch für profan-avantgardistische Realisationen, die beide einen umfangreichen und ausgeklügelten technischen Apparat in Bewegung setzen müssen, um das Publikum vom bloßen Glotzen abzubringen und zum aufmerksamen Zuschauen zu verführen.

Das Theater als autonomen Kunstprozess neben Musik, Malerei, Poesie, Tanz, Film etc. zu verteidigen, ist das Ergebnis einer erst Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Entwicklung, die unter anderm eine sehr allmähliche, hier und da auch widerwillig vollzogene Anerkennung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zur Voraussetzung hatte (Naturalismus). Frühere Zeiten haben dem Theater den Status einer autonomen Kunstform nicht zugesprochen oder ihm diesen verweigert. Zu naheliegend war es, die Institution an ihrem rhetorisch-didaktischen Erfolg zu messen oder ihr diesen zumindest zu unterstellen. Das mochte hier und da auch dann noch ins Gewicht fallen, als die Fusion zwischen Technik und Performanz den Gedanken einer ›reinen‹ Theaterkunst (im Sinne der Autonomie) nur noch auf dem Umweg über die Theorie des Gesamtkunstwerks einsichtig machen konnte. Als Gesamtkunstwerk vereinige das Theater, so lautete das Credo, alle anderen Künste: Poesie, Musik, Rezitation, Malerei, Tanz, Architektur, Film und Fotografie. So gilt es als die hybride Kunstform par excellence; positiv formuliert: als eine nur im Symbolraum der Bühne wirksame Umdeutungssynthese aller anderen Kunstgattungen. So jedenfalls sieht es das 20. Jahrhundert, das die ökonomische Wertigkeit der Kultur enorm gesteigert hat und mit den anderen Künsten auch dem Theater als neuer Wirtschaftsbranche zu huldigen lernte. Die moralische Modellierung der Gefühle – sei es im Sinne der aristokratisch-stoischen Abhärtung, sei es im Sinne der bürgerlichen Mitempfindung – ist allenfalls noch als nostalgisches Gedenken im Theaterbetrieb der Moderne zu ahnen. Schrecken und Jammer mit allen daraus folgenden kathartischen Effekten erzeugen allenfalls die von Zeit zu Zeit den Subventionstheatern verordneten Haushaltskürzungen.

Die für die Gegenwart charakteristische Indifferenz gegenüber der theatralisch produzierbaren Macht der Gefühle hat eine komplexe Vorgeschichte, die hier nur anzudeuten ist. Bis zur naturalistischen Theaterreform Emile Zolas und André Antoines galt die Institution weitgehend als Magd der dramatischen Literatur. Daran mochte auch die normative Überlieferung der aristotelischen Poetik mitschuldig gewesen sein. Denn Aristoteles widmete dem Theater als Ort der Performanz den geringsten Teil seiner Lehrschrift. Sein Thema war die Gattungspoetik, er behandelte das Verhältnis zwischen Mythos und Mimesis, schrieb über Lexis (Sprache) und Dianoia (gedanklichen Gehalt), über Affekterregung und Katharsis und gestand der tragischen Poesie einen philosophischen, sprich: ethischen Bonus zu, während er das, was die Modernen besonders fasziniert - die spezifische Unvollständigkeit des dramatischen Textes – aus seinen grundlegenden Gedankengängen ausschloss. Wenn aber der dramatische Text – wie oft zu hören ist – den Status einer Partitur besitzt, so bedarf er wie jede andere Notation der Aufführung. Und mit dieser Abhängigkeit vom Performativen ist er frei für Interpretationen, die nicht den Gesetzen der literarischen Hermeneutik gehorchen, sondern den Löwenanteil der Bedeutungsproduktion den Medien nonverbalen Ausdrucks und einer kreativen Vorstellungsarbeit schulden.

Damit fallen dem Zeigen – der Geste, Mimik, Choreographie und Körperhaltung, dem Kostüm, der Raumgestaltung und Lichtregie – Aufgaben zu, die dem Sagen geradezu in die Quere kommen und den sprachlich artikulierten Sinn aufheben oder sogar vernichten können. Die Zuschauer sind davon in einem Maße betroffen, wie die Zeichen der Szenographie, des Lichts und der außersprachlichen Akustiksignale (Musik, Geräusch etc.) scheinbar unvermittelt, wiewohl technisch produziert, als Elemente einer imaginierten Welt zur Erscheinung kommen. Ob realistisch oder phantastisch, das tut nichts zur Sache, da beide Eigenschaften nur Varianten des Imaginären sind. Weshalb die nonverbalen ikonischen und kinästhetischen Zeichenkonstellationen in der Vorstellungs- bzw. Performanzwelt der Bühne, selbst wenn sie bloß illustrierend einen kanonischen Text begleiten, die kreative Mitarbeit des zuschauenden Vorstellungsvermögens verlangen. Was unter dieser Voraussetzung Erkenntnis bedeuten kann, lässt sich an einer Formulierung ablesen, die sich bei Schopenhauer, einem – sit venia verbo – nachromantischen Vordenker des Performativen, findet: »In der Kunst ist [...] das allerbeste zu geistig, um geradezu den Sinnen gegeben zu werden: Es muss in der Phantasie des Beschauers geboren, wiewohl durch das Kunstwerk erzeugt werden.« Auch hier ist die ästhetische Erkenntnis, auf die der Satz anspielt, eher eine Erfahrung, die das »geradezu« der unmittelbar den Sinnen gegebenen Welt über die Produktivkraft des bilderzeugenden Vermögens (»Phantasie«) der Betrachter lenkt, um diesen Vorgang, der die wahrgenommene Welt nicht linear, sondern logarithmisch aufbaut, als besonderen Schöpfungsakt vom gewohnheitsmäßigen Wahrnehmen zu unterscheiden. Im Theater ist es die heteromorphe Zeichenmenge, die im Zuschauer die Welt als Vorstellung evoziert, wenn es ihm gelingt, das Heteromorphe gestalterisch zu synthetisieren. Je hybrider ihm aber die Gestaltungselemente erscheinen, je größer der Einzugsradius synkretistischer Anleihen bei fremden Theaterkulturen, desto härter stößt die Inszenierung mit den Erwartungen der Zuschauer zusammen. Das muss nicht zum Abbruch der Kommunikation führen, verändert aber die Resonanzbeziehungen zwischen Bühne und Publikum und kann gerade deshalb zu jenem Staunen führen, das Antonin Artaud beschrieb, als er zu erstenmal das balinesische Tanztheater sah.

Die Theaterkunst als eine hybride Kunstform zu verteidigen, fällt nicht schwer, erinnert man sich der Tatsache, dass diese Kunst selbst noch in ihren vulgärsten Spielarten etwas von jenem die bestimmten Raum-, Zeit- und Handlungskoordinaten auflösenden Verwandlungszauber bewahrt, der mit der a-kausalen Traumlogik übereinstimmt. Der Komplexität der – mit Aristoteles zu sprechen – Handlungswende (Peripetie) und Situationsverwandlung entsprach schon bei diesem Theoretiker der Appell an einen Übergang des ›unreinen‹ in ›reines‹ Empfinden, auf den noch Lessing mit dem in der Psychologie des 18. Jahrhunderts geläufigen Begriff der gemischten Empfindungen angespielt hat.
Zwei Bemerkungen sind in diesem Zusammenhang angebracht: Erstens ist die Behauptung der Theaterkunst als einer autonomen, von anderen Künsten abzugrenzenden Kunstgattung kaum älter als hundert Jahre. Die damit gesetzte Identität der theatralischen Künste beruht auf einer abstraktiven Generalisierung ihrer konstitutiven Merkmale unter dem Begriff der ›Theatralität‹. Dieser Terminus ist indessen nicht auf das Bühnenhandeln allein beschränkt, sondern kennzeichnet ganz allgemein eine Qualität öffentlichen Handelns, die explizit performative Darstellungs- und Inszenierungsakte einschließt und zugleich die Emotionen eines soziokulturell unbestimmten Publikums anzusprechen sucht. Die histrionischen Auftrittsinszenierungen bestimmter Politiker in den Massenmedien finden unter dem Schlagwort Theatralität ebenso Platz wie die als show business aufgezogene Werbung für einen neuen Konsum- oder Luxusartikel. Dass die ganze Welt eine Bühne sei, das bewahrheitet sich längst dank der Massenmedien in einem andern als dem Shakespeareschen oder Calderónschen Sinn: Wo immer ein Bildschirm Platz hat, ist die kinästhetisch wirksamste Inszenierung virtueller Welten auch ohne Bühnen- und Zuschauerraum sofort verfügbar, und das verändert beides: die Erwartung sowie die Wahrnehmung. Die Feiertagsregel des Theaterbesuchs fällt weg, die virtuellen Welten der elektronischen ›Bühne‹ gehören zum Alltag.

Zweitens: Seit alters wurde in der europäischen Tradition die dramatische Literatur auf relativ unbestimmte, ineinandergreifende emotionale Affizierungswerte bezogen, auf einen Metabolismus gemischter Empfindungen, den die klassischen Theoretiker von früh an mit normativen Konzepten zu bändigen suchten und in diesem Prozess (Gefühlskultur) dem Wort und also dem dramatischen Text einen besonderen Stellenwert im Spiel der Emotionen eingeräumt haben. Die Autonomiebewegung geht auf Distanz zu dieser Tradition. Aber sie verfällt in ein Paradox, da sie zwischen Autonomisierung und Re-theatralisierung im Sinne der Rückkehr zu rituellen, von der Literatur befreiten Darstellungsformen keinen Unterschied macht. Der kulturelle Wandel, der sich in dieser Entwicklung zeigt, hat mit dem Verlust der ethischen Normierung und mit dem zugleich damit einhergehenden Gewinn an darstellerischer und bühnentechnischer Vielfalt in den konkurrierenden Theaterreformbewegungen zu tun, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts die Szene beherrschten.


4.

Der Begriff der Theatralität wurde zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts von einem Anti-Naturalisten, von dem Russen Nikolai Nikolajevich Evreinov geprägt, während gleichzeitig mit ähnlicher Absicht die Reformer Adolphe Appia, Edward Gordon Craig und Georg Fuchs in Theorie und Praxis für die Autonomisierung der Theaterkünste kämpften. Maeterlinck und Craig gaben dem Anti-Naturalismus eine Richtung, die sich mit Tendenzen des französischen Symbolismus vergleichen lässt. Beide träumten von einer Wiedergeburt der theatralischen Suggestion ohne herkömmliche Schauspielerauftritte; beide hätten am liebsten anstelle der eigenwilligen, ihre Individualität zur Kunstform hochstilisierenden Berufsschauspieler Androïden oder Marionetten auf die Bühne gebracht. Diese Neigung zur »Kunstfigur«, zu einem mechanisch bewegten Fetisch, der die Menschfigur auf der Bühne ersetzt, war ein Versuch, die Schwelle zum Bühnenraum, die Rampe, zu resakralisieren, um auf diese Weise zumindest temporär die Grenze zwischen sozialer und imaginärer Welt im Sinne eines von der gewöhnlichen Wahrnehmung radikal unterschiedenen Kultereignisses zu verstärken. Im Rückblick indes erscheint diese später von Oskar Schlemmer und noch später von Robert Wilson in abgewandelter Form fortgeführte ›Reinigung‹ vom kontingenten Gefühlsausdruck des ›Fleisches‹, scil. der Schauspielerindividualität, wie eine notwendige Negation des Konventionellen, die auf der tabula rasa der autonomen Bühne eine andere, eine metatheatralische, die Schwelle zur Illusion zerstörende Expressivität kultivieren wollte.

Die Überwindung der Schwelle, die so häufig mit der avantgardistischen Forderung in Verbindung gebracht wurde, die Kluft zwischen Kunst und Leben zu schließen, bleibt aber ein leeres Konzept, wenn die doch nach wie vor bestehende Wechselbeziehung zwischen Innen und Außen, zwischen Kunstraum und Sozialraum darüber in Vergessenheit gerät. Denn das Theater ist nun einmal der Ort, an dem der Abstand zwischen Figur und Subjekt, zwischen dargestelltem und gelebtem Gefühl das beherrschende Thema bleibt; weshalb auch das neo-avantgardistische Schauspiel der zweiten Nachkriegszeit mit den großen Gefühlen des klassischen Theaters, mit den dort kultivierten Pathosformeln der Theatralität, frei und ohne zu langweilen spielen konnte.

Eine nicht unerhebliche technische Voraussetzung für die Wiederverzauberung der Bühne im Sinne einer antihistoristischen Auflehnung seit der Wende um 1900 war unter anderm die rasche Verbreitung der Elektrizität in den Theaterhäusern. Wie sehr die Städtebilder – nicht zuletzt die dort ansässigen Wahrnehmungs- und Lebensgewohnheiten – durch die Elektrifizierung verändert wurden, liegt auf der Hand. Wie sehr die Symbolkraft der Raumästhetik und emotionalen Wirkung der Bühnenbilder durch die neue Technik, der die erst im 19. Jahrhundert eingeführte Verdunkelung des Zuschauerraumes entsprach, gesteigert worden ist, lässt sich leicht ermessen, bedenkt man die unbegrenzte, dem offenen Licht verbotene Beweglichkeit der elektrischen Lampen. Der neue Lichtzauber hat die performativen Verwandlungsmöglichkeiten der szenographischen Interpretation grenzenlos erweitert und damit zugleich die Spielweisen der Akteure sowie die rezeptiven Einstellungen des Publikums um ein Vielfaches intensiviert. Der Entwicklung einer autonomen, ins Imaginäre ausgreifenden Raumästhetik, wie sie die Anti-Naturalisten und -Realisten forderten, kam das natürlich entgegen. »Was in der Partitur die Musik,« schrieb Adolphe Appia schon im Jahre 1899, »das ist im Reiche der Darstellung das Licht: das Ausdruckselement im Gegensatz zum Elemente des andeutend orientierenden Zeichens. Das Licht kann, gleich der Musik, nur das ausdrücken, was dem »inneren Wesen aller Erscheinung« angehört.« Die Musik wird zum neuen Leitmedium für die Rhythmisierung der theatralischen Repräsentation, der Traum – für Appia, Craig und die Expressionisten – zum Paradigma für die unvergleichliche ›Logik‹ der unbewussten Bildproduktion.

Zeigte die naturalistische Bühne das Subjekt in seiner Abhängigkeit von den auf der Szene mimetisch nachgestellten Sozialräumen, so erlaubte es die rasch bis ins Virtuose verfeinerte Beleuchtungstechnik, virtuelle, bis weit in die Tiefe der Szene gestaffelte Räume zu fokussieren oder zu isolieren, deren Erscheinungsformen als Bildentwürfe für innere Spannungen und Verwerfungen des dargestellten Selbst wahrgenommen werden konnten. Zu denken ist etwa an die emotiv äußerst wirkungsvolle Konzentration des gebündelten Lichts auf physiognomische Details oder an den typisch expressionistischen Wechsel zwischen Hell und Dunkel und die völlige Isolation der Spielfigur in einem punktförmigen, aus dem Dunkel herausgeschnittenen Lichtraum: Symbolisierung der sozialen Einsamkeit und der bis zum Wahn gesteigerten Zerrissenheit des Subjekts. Doch auch die expressionistische Theaterästhetik verneinte den bestimmten Affektausdruck und eine dem entsprechende nachhaltige Wirkung im Sinne der Gefühlskultur. Auch bot der Konflikt zwischen Bewusstem und Unbewusstem der Kreativität bessere Chancen als die deterministischen Theorien einer vom Milieu abhängigen Psyche. »Abgetan sind die psychologischen Studien. Abgetan ist die Natur auf der Bühne.« hieß es programmatisch in einem 1916 in der Zeitschrift Der Sturm veröffentlichten Manifest Lothar Schreyers, »Abgetan ist die Illusionsbühne. Abgetan ist die Bühne als Museum für Geschichtsanschauung und Trachtenkunde. Abgetan ist die Bühne als Museum für Literaturgeschichte. Die Bühne ist Kunststätte geworden.«

Mit den schnell verbesserten Angeboten neuer Techniken – Beleuchtung, Drehbühne, Projektion, Tonübertragung usw. – wuchs auch das künstlerische Interesse an der Szenographie als einer die herkömmlichen Raum- und Zeiterfahrungen überwindenden Simulationskunst, deren avancierteste Formen – Environment und Installation – allmählich sich von der Bühne gelöst haben, ohne dadurch die emotiven Effekte des Theatralischen zu vernachlässigen. Die Moskauer Kubo-Futuristen und Konstruktivisten experimentierten mit abstrakten, je nach Beleuchtung veränderlichen, über mehrere Ebenen sich erstreckenden Montage- und Gerüstaufbauten, deren technizistische Ästhetik Choreographie und Körperausdruck der Figuren bestimmte. »Statt Dekoration«, so kommentierte Sergej Eisenstein die funktionalistischen Bühnenbilder der Warwara Stepanowa, »ein Satz akrobatischer Trick-Apparate, die als Möbel getarnt sind«.

Etwa gleichzeitig mit den technischen Veränderungen kam das Verlangen auf, den Abstand des Schauspielers zu sich selbst und zur vorgegebenen Rolle besser als bisher analytisch auszuloten. Erst seit den laborähnlichen, schließlich schulbildenden Proben-Experimenten mit verschiedenen Spielweisen durch Stanislawski lässt sich mit Fug und Recht von einer Professionalisierung der Schauspielkunst reden. In zahlreichen Aufzeichnungen, die schriftlich, später – man vergleiche die Modellbücher Brechts – fotografisch verfuhren, wurde der nonverbale Körperausdruck für weiterreichende Studien festgehalten. Erst unter diesen Voraussetzungen kommt das moderne Theater als ein anthropologisches Versuchsfeld zu Bewusstsein; eine signifikante Verlagerung des bis dahin vor allem auf ethische und/oder kunstimmanente Fragen konzentrierten Interesses.

In den 20er und 30er Jahren erschienen zahlreiche Untersuchungen, die zwischen Psychologie, linguistischer Ausdruckstheorie und philosophischer Anthropologie angesiedelt waren und gern mit Bühnen- bzw. Theatermodellen arbeiteten. »Vom Wesen der Gefühle«, »Deutung des mimischen Ausdrucks«, »Ausdruckstheorie«, »Vom Wesen und Sinn des Spiels« hießen die Bücher, von denen Helmuth Plessner in seiner zuerst 1941 erschienen Anthropologie des Lachens und Weinens ausging. Lange vor den akademischen Versuchen, die Genese, den Ausdruck und die Funktion der Emotionen auf Begriffe zu bringen, haben sich die Theatermacher darum bemüht, die komplexen Beziehungen zwischen Gefühl, Gestik, Mimik, Gebärde und Darstellungskunst im Ambiente eines allein dem Probehandeln reservierten Bühnenraums durchzuspielen. Stanislawski und sein abtrünniger Schüler Meyerhold gingen, nach einem Wort Meyerholds, von scheinbar entgegengesetzten Programmideen aus: Stanislawskis »Psychotechnik« von innen, Meyerholds »Biomechanik« von außen. Betrachtet man die beiden Ansätze aber als komplementäre Formen, so entsteht der Eindruck einer anthropologischen Dialektik avant la lettre. Denn beide Praktiker haben den Abstand zwischen dem Gefühl als Medium und Fluidum subjektiver Erfahrungen einerseits und der Beherrschung körperlicher Ausdrucksgebärden andererseits ernst genommen. Zudem haben beide versucht, wie ihre Bezeichnungen bestimmter Trainingsmethoden als »Technik« und »Mechanik« belegen, den Schauspielern diesen Abstand über instrumentelle Techniken der Körperdisziplinierung bewusst zu machen. »Die wirkliche Kunst«, so fasst Stanislawski seine Erkenntnisse zusammen, »lehrt, wie man bewusst die unbewusste Kreativität in sich anregt.«

Diese Kreativität, die der Schauspieler auf dem Umweg über die Selbstdistanz entdecken und kultivieren soll, ist nichts anderes als die darstellerische Fähigkeit, eine Rolle zu verkörpern, die der Text des Dramas andeutet und die der Regisseur als Teil jenes Geschehens entwirft, das im Zuschauer zusammen mit Lust- und Unlustgefühlen die Deutungsarbeit aktiviert. Wie der vorgegebene Text zur Ausführung kommt, ist indessen nicht schematisch festzulegen, da wie jede Partitur auch die des Dramas für sehr verschiedene Realisationen (performances), z.B. auch die von der Moderne favorisierten parodistischen à la Pirandello oder Valle-Inclan, offen ist. Hilfreich ist die Programmatik alias Poetik der Theatermacher nur für die Zeit ihrer anerkannten Autorität als Neuerer. So ist es beispielsweise ein Merkmal des Epischen Theaters, die Figur und ihre Rolle als ein entpersönlichtes Sozialschema vorzuzeigen; und es ist ein Spezifikum des Absurden Theaters, die Figur in einem aussichtslosen Kampf mit den Dingen, aber auch mit ihrem ureigensten Ausdrucksmedium, der Rede, vorzuführen. Doch die Nachwelt des lebendigen Theaters hält sich nicht mehr an die Autor-Intentionen. Ausnahmslos in allen Fällen enthüllt das Spiel nicht nur – wie Susanne Langer wollte – eine innerliche Realität. Vielmehr offenbart es im Zuge der veränderlichen Aus- und Aufführungen einen Grundzug der menschlichen Kon-Figuration, nämlich die Verkörperung des Subjekts mit allen seinen scheinbar natürlichen Empfindungen im Schema einer von Tradition und Gesellschaft vorgegebenen, wie ein Objekt rekonstruierbaren Figur. In der Aktion (performance) des Schauspielers/der Schauspielerin wird das anschaulich und so ins Bewusstsein des Publikums gerufen, was Plessner die »Abständigkeit« nennt, die Differenz zwischen Selbst und gesellschaftlich geprägter Rolle, auf deren Basis der Bühnendarsteller die Technik der Selbst-Beherrschung eingeübt hat.


5.

Was die Anthropologie in diesem Zusammenhang über das zugleich natürliche und künstliche Verhältnis des Subjekts zur Figur zu sagen hat, das kehrt in der Praxis der zeitgleichen Dramatiker und Theatermacher in zweifacher Form wieder. Zum einen in den Versuchen des Epischen Theaters, im Detail wie im Ganzen der dramatisch erzählten Geschichten die gesellschaftliche Produziertheit der Gefühle und ihrer Ausdrucksgebärden zu demonstrieren: Brechts Dramaturgie der Widersprüche. Die andere Variante moderner Theaterkunst, die mit der »Abständigkeit« zwischen Subjektsein und vorgeschriebener Rollenfigur spielt, ist das Theater der Entblößung, das mit den Namen Artaud, Grotowski, Julian Beck & Judith Malina (Living Theatre), aber auch mit manchen Produktionen Peter Brooks und George Taboris verbunden ist, die das Artaud’sche Motto »Briser le langage pour toucher la vie« in die Tat umgesetzt haben. Theater der Entblößung: damit spiele ich nicht nur auf die sichtbare Nacktheit in den Produktionen der Genannten an; vielmehr geht es hier nicht zuletzt um die schamlose Entblößung, wenn nicht gar Entfesselung der Triebgebärden bis hin zu einer der gespielten Trance ähnlichen performance, die weniger etwas Gegebenes verkörpert, als vielmehr den gepeinigten Leib und mithin die kreatürliche Gebrechlichkeit des Subjekts den peinlich berührten Blicken der Zuschauer preisgibt.

Die Symbolik der Entblößung auf den Bühnen der zweiten Nachkriegszeit steht in einem direkten Zusammenhang mit jener Dehumanisierung des Subjekts und Dezentrierung des Logos, die nicht nur das Denken nach Auschwitz stigmatisiert haben. Gordon Craigs Beobachtung der ambivalenten, zugleich schöpferischen und destruktiven Macht der Gefühle erscheint vor diesem Geschehenshintergrund in einem andern Licht. Die Scham aufgeben, das heißt im Theater der Entblößung, die Gefühle der Pietät und Zurückhaltung verletzen, um – wie es George Tabori formuliert – die Erinnerung mittels Schmerz wach zu halten. »Ich hatte keine Mätzchen nötig, keine Tricks, keine Eselsbrücken,« lässt Tabori einen von einem Schauspieler dargestellten Schauspieler sagen, »ich rollte nicht die Augen, wenn ich über die Bühne schritt, aber jeder Augenblick war gestaltet, ein Kunstwerk [...]. Ich trug keine Maske, ich scheute mich nicht, mich zu entblößen bis auf die Knochen, um zu zeigen, was das ist – der Mensch! Und kratzt man ein bisschen daran, gleich kommt ein Jude zum Vorschein – «. Selbst die Entblößung ist noch Kon-Figuration. Denn sie demonstriert einen Anspruch auf Anerkennung, der jenseits der mit dem Kostüm sich ablösenden Individualität beheimatet ist: im Innern der Person, das weltabgewandt seinen Halt in der Verschmelzung mit einer mehr oder weniger deutlich markierten Sakralsphäre sucht - und scheitert. Das ›arme Theater‹ Grotowskis kann hierfür als prominentes Beispiel gelten, ein Theater, das nicht zufällig an Traditionen anzuknüpfen suchte, in denen die Rituale des Kultopfers und der Passion im Mittelpunkt der Handlung standen.

An solchen extremen Versuchen, die reflektierte Ästhetisierung des Theatralischen zugunsten einer vitalisierenden Re-Ritualisierung zurückzuweisen, ist meist der verzweifelte Wunsch abzulesen, der säkularen Kultur eine mythisch verklärte Kultfunktion zurückgeben zu wollen. Wenn das politisch engagierte Theater auf diesen Topos zurückgreift, um die Expressivität seiner Botschaft zu verstärken oder die Herrschaftspropaganda mit jener Aura des Kultischen zu veredeln, die den Verstand vor den Kollektiv-Emotionen in die Knie gehen lässt, so gibt es allerdings den Laboratoriumscharakter zugunsten eindeutiger Gefühlsmanipulationen auf. Samuel Beckett hat auf solche Verirrungen mit der Dramaturgie des Verschwindens geantwortet. In dem Stück Breath ist die Bühne bis auf etwas undefinierbaren Müll leer und nur hin und wieder schwach beleuchtet, Atemgeräusche und Schreie ersetzen Rede und Musik. Aber Lichtwechsel und Geräusche sind nach peinlich genauen Vorgaben rhythmisch zu orchestrieren, so als greife eine nach unbekannten mechanischen Gesetzen arbeitende Maschine in die Menschenwelt ein.

Die Alternative zu Becketts tabula rasa, die Gefühle nicht ausklammert, sondern sie durch die Reduktion eines angedeuteten Lebens auf ein langes Sterben in Horror umschlagen lässt, ist die fröhliche Botschaft des Anthropologen, im theatralischen Aufführungsmix der Affekte könnten sich heute mühelos alle Kulturen über bestehende reale und imaginäre Grenzen hinweg verständigen. »The Ethnographies, literatures, ritual, and theatrical traditions of the world«, schreibt Victor Turner in From Ritual to Theatre, »now lie open to us as the basis for a new transcultural communicative synthesis through performance. For the first time we may be moving towards a sharing of cultural experiences, the manifold ‹forms of objectivated mind› restored through performance to something like their pristine affectual contouring.« Es wäre ein Missverständnis, wollte man Turner unterstellen, er baue allein auf die grenzenlose Verfügbarkeit der wissenschaftlich archivierten Kulturen. Denn auch seine optimistische Verkündung der »neuen transkulturellen Kommunikation« beruht auf einer um Aktualität bemühten Fortschreibung der aristotelischen Tradition: Die im konventionellen Dramenaufbau entscheidende, mit Umschlag und Verwandlung identische Krisis – eine Schwellenphase - erscheint in der von ihm vorgeschlagenen kulturanthropologischen Lesart als ein Modell solcher Grenzübertretungen, die zum Umsturz eines alten und zur Geburt eines neuen Symbolsystems führen können. Das ›Trans-kulturelle‹ wäre dann nur ein anderes Wort dafür, dass in der globalisierten Kultur dieser Prozess der Schwellen- und Grenzübertretungen eine Dauereinrichtung wird. Die Bühne hätte unter dieser Voraussetzung keine Mühe, ihre Funktion als Laboratorium der Formen und der überraschenden Formverwandlungen weiter auszubauen.

Ob das aber auch für die Beteiligung der Zuschaueremotionen gilt, ist eine andere Frage, da die ›Sprache‹ der Gefühle einer kulturell präformierten Idiomatik vergleichbar ist, die in jeder Situation fremdkultureller Kontakte einer spezifischen Übersetzungsleistung bedarf.