Sergio Givone
Brief aus Italien (2)

Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Vorstellung hat das große Theater, ich spreche vom Drama, in Italien – die Geschichte ist mein Zeuge – niemals eine besondere Glückssträhne erwischt. Keine Frage, unter allen Künsten haben die dramatischen nur die bescheidensten Früchte getragen, während der ›Genius Italiens‹ sich in Literatur und Musik – nicht zu reden von Malerei, Bildhauerei und Architektur – auf allerhöchstem Niveau zu artikulieren vermochte. Bei allem Respekt für Ruzante, Goldoni, Alfieri und Pirandello – wir müssen zugeben: Shakespeare, Racine, Caldéron, Kleist, Beckett gehören einfach in eine höhere Klasse. Und dennoch heißt es, die Italiener (nehmen wir einmal wider besseres Wissen an, es gäbe ein solches Volk) hätten einen unersättlichen Appetit auf Späße, Possen, Spektakel, Burlesken, karnevalistische Darstellungen und Hanswurstiaden. In der Tat, darin sind sie die Weltmeister. Denn jede Angelegenheit, sei es im privaten oder im öffentlichen Leben, ist für sie eine Gelegenheit für theatralische Auftritte, die den ganzen Umfang aller nur möglichen Nuancen vom Komischen bis zum Grotesken auskosten, ohne darüber das Tragische zu vergessen. Vor allem jene ganz eigene Form des Trauerspiels, die dazu dient, das Opfer bis zur Vernichtung dem Hohn preiszugeben. Die Piazza ist die Bühne, und in welchem Winkel Italiens gäbe es keine Piazza! Warum ist aber bei diesem Stand der Dinge das Theater in diesem Land keineswegs als die Krone der Künste anzusehen?

Eine Antwort könnte sein, dass in Italien Theater und Leben ein und dasselbe sind, weshalb die künstlerische Sublimierung hier nichts zu suchen hat. Wenn Leben Theater ist, ja wenn es nichts außerhalb des Theaters gibt, dann muss die Kunst darben. Die Gegenprobe ist einfach: Wohl lieben die Italiener das Theater, aber viel mehr noch die Theatralisierung des Lebens, und zwar nicht allein im Schauspielhaus, sondern im praktischen Leben selbst. Wer hat in diesem Land jemals eine Alltagsszene beobachtet, die nicht in der tollsten Weise von theatralischen Mitteln Gebrauch gemacht hätte? Doch fast nie, oder sagen wir besser: niemals nie hat dieses theatralisch eingefärbte Leben den Bühnenkunstwerken oder überhaupt einem anderen Werk Raum gegeben, das die originelle Erfindungsseligkeit der Akteure, die von ihrer Rolle indes gar nichts wussten, hätte kränken können. So als wäre unterwegs etwas Wesentliches verloren gegangen.

Es ist nur allzu offensichtlich, die typische und wahrhaft ursprüngliche Theaterform Italiens ist die Commedia dell’Arte, die sich einige Zeit sogar in ganz Europa ausbreiten konnte. Und tatsächlich ist diese Form vollkommen vom Leben abhängig. Damit soll keineswegs gesagt sein, die Commedia stelle so etwas wie eine Nachahmung oder gar eine Parallelwelt des gelebten Lebens dar; nein, nein, sie ist schlicht und einfach dessen atemberaubend exzessiver, ununterbrochen weiterwirkender Fortsatz. Kurz, auf der Bühne steht das Leben so wie es nun einmal ist, oder, um genauer zu sein: das Leben ist hier als ewige Inszenierung zu besichtigen. Ein Autor fehlt, und der Text ist eine Gelegenheits- und Stegreifrede. Auf diesem ›Thespiskarren‹ verkörpern die Italiener weniger ihre Eigenheiten, ihre Tugenden und Laster, als die unzähmbare Kraft des lebendigen Lebens, die Lust an der schieren Existenz, trotzend dem Elend, dem Unglück, der Illusion und der Desillusionierung. Die Masken sind dabei ohnehin ein ärmlich Ding und lediglich dazu da, die Aufführung in Gang zu bringen und ad infinitum in Gang zu halten.

Heute jedoch stellt nicht die Piazza, sondern die Welt den Bühnenprospekt dar. Und in dem Maß, in dem die Welt – anders als die ohnehin vom Verschwinden bedrohte Piazza – den Politikern gehört, drängen die Masken nach vorn. Woher sie kommen? Aus den Theatergarderoben der Macht. Ja, es ist wahr, mit großer Vollendung verkörpern Italiens Politiker die ewigen Rollenfächer der Commedia dell’Arte. Berlusconi, Fini, Bossi und dann natürlich die zahllose Gefolgschaft und Komparserie, die im Ausland noch unbekannt ist, an der aber wir Italiener uns jeden gottserbärmlichen Tag aufs neue ergötzen können – nur die Commedia ist imstande, uns zu erklären, was anderswo als das unauflösliche Rätsel der italienischen Politik wahrgenommen wird.

Schauen wir uns einmal die Haltung des Regierungschefs an. Man beachte: Er ist als ›Cavaliere‹ berühmt, ein Künstlername, bei dem die Kunst nichts zur Sache tut, und außerdem eine Benennung aus der Commedia dell’Arte. Dieser Cavaliere stammt in direkter Linie von jenem Plautinischen miles gloriosus ab, der sich Jahrhunderte lang in den Figuren des Capitano, des Prahlhans, des Großmauls, des eitlen und seichten Laffen vervielfältigt hat. Ein Kerl, der im Grund ein Feigling ist, jedem zu Diensten und nur darauf bedacht, sein Image zu wahren, ein Image, das sich tragischerweise, kratzt man daran, als null und nichtig entpuppt. Unser Cavaliere füllt diese unsterbliche Rolle in perfekter Weise aus. Nomen est omen: Die Maske ist ihm so sehr zur zweiten Natur geworden, dass, würde er sie ablegen, seine eigenen Züge völlig konform mit ihr wären. Und selbst das wäre wiederum nur ein alter Kunstgriff der Commedia. Denn in dieser Tradition verpasste man die Pulcinella-Maske gern einem Schauspieler, der ohnehin von Natur aus Pulcinella ähnelte, so dass die an einem bestimmten Punkt der Handlung vorgenommene Demaskierung im Publikum Verblüffung und amüsiertes Gelächter hervorrief.

Doch wir wollen fragen, wie die Poetik der Commedia dell’Arte, wird sie politisch gewendet, in der Praxis funktioniert. Die Fakten sind ja nur allzu bekannt. Was hier allerdings eine besondere Betonung verdient, das ist der für diese Theatergattung typische Wiederholungszwang. Nun, man hat dem Cavaliere vorgeworfen, er habe, um seinem Wirtschaftsimperium strategische Vorteile zu verschaffen, einige Staatsdiener bestochen. Ein sehr ernster, äußerst schwerwiegender Vorwurf, der unter normalen Umständen den Angeklagten zur Aufgabe aller öffentlichen Ämter gezwungen hätte. Aber hierzulande herrschen keine normalen Umstände, hier regiert das Theater. Um genau zu sein: Wir befinden uns in der Welt der Commedia dell’Arte. Das heißt also, der Cavaliere befolgt gewissenhaft die Regeln der Commedia und nicht die der staatlichen Gesetzgebung. Was tut er also? Er bestreitet die Anklage, wendet sie um und schwingt sie wie eine Waffe gegen die Häupter seiner Gegner. Die gehören natürlich ins Reich des Bösen; politische Widersacher und Richter, allesamt sind kommunistische Agenten. Wer anders als der Cavaliere ist imstande, Italien vor der von diesen Elementen ausgehenden mörderischen Bedrohung zu schützen? So also sieht das Szenario aus.

Hinter den Kulissen wird für ihn inzwischen gearbeitet. Dieselben Parteien, die zehn Jahre zuvor die Aufhebung des Legge sul legittimo sospetto beschlossen hatten, bringen dieses Schandgesetz wieder ins Spiel. Ein Gesetz, das es dem Beklagten ermöglicht, mit Gründen das für seinen Fall zuständige Gericht abzulehnen; über den Ablehnungsantrag hat das Kassationsgericht zu entscheiden. Zweck der Wiederherstellung ist es natürlich, dem Cavaliere ein Gerichtsverfahren und eine nach Faktenlage gewisse Verurteilung zu ersparen. Aber das Kassationsgericht weist die Anwendung der wiederbelebten Norm, die jetzt immerhin Staatsache ist, auf den in Mailand zu verhandelnden Prozess des Cavaliere zurück.

Und nun erfolgt der Theaterstreich, ein Einfall, der nur im Rahmen der Commedia dell’Arte Sinn macht. Denn der Cavaliere lässt daraufhin die Maske des unbefleckten und furchtlosen Helden fallen, hört auf, den Zuchtmeister zu spielen und präsentiert sich als Opfer. Mit Hilfe dieser neuen Maske gelingt es ihm, einer Öffentlichkeit, die aus allerlei Gründen Straffreiheit zu schätzen weiß (Straffreiheit für die Mächtigen, so räsonniert das Publikum, bedeutet soviel wie Straffreiheit für alle, und sind in Italien nicht so gut wie alle wegen irgendeines Delikts auf Pardon angewiesen?), ein Gefühl ergriffener Teilhabe einzuflößen. Tritt also der Cavaliere vor die Nation und verbreitet über das gleichgeschaltete Fernsehen eine Botschaft, die sich etwa so zusammenfassen lässt: ›Ist es das, was Ihr wollt? Die Demütung dessen, der Euch vor der Gewalt und Anmaßung des Richterstandes schützt? Wollt Ihr, dass der italienische Traum von der Straffreiheit zuende geht? Nur Ihr allein könnt über mich richten, ja, nur Ihr, die Ihr mich gewählt habt. Oder wollt Ihr vielleicht den Sieg der Justiz?‹ Tosender Beifall. Doch nun bittet der Cavaliere – das ist der zweite Theaterstreich – noch einmal um einen Moment Aufmerksamkeit. Er hat nämlich den Beweis für die Unredlichkeit derer, die ihm vorwerfen, er mache Gesetze zu seinem persönlichen Privatgebrauch. Denn, so seine Worte, das Legge sul legittimo sospetto hätte ihm ja die Möglichkeit geben sollen, die Anklage des Mailänder Gerichts zurückzuweisen. Aber daraus wäre ja nun nichts geworden usw. Das ist großartig, Cavaliere! – Franco Cordero, ein hervorragender Jurist Italiens, hat dazu folgendes gesagt: Das wäre etwa so, als hätte jemand einem andern Gift in die Suppe getan, aber sein mörderisches Ziel aufgrund einer unvorhersehbaren chemischen Reaktion verfehlt, woraufhin der Täter von seinem Opfer verlangen würde, sich bei ihm dafür zu bedanken, dass es am Leben geblieben ist. Ich erlaube mir hinzuzufügen, dass es so etwas nur in der Commedia dell’Arte zu sehen gibt.

Studiert man die Abenteuer des Cavaliere nicht nur anhand seiner jüngsten Schaustellungen, nimmt man vielmehr den ganzen Bogen seines Aufstiegs in den Blick, so entdeckt man einen Zug an unserem Helden, der ihn ganz zweifelsfrei als Commedia-Figur kenntlich macht. Dieser Zug liegt in seiner Wandlungsfähigkeit. Wir meinen hier nicht jene quasi postmoderne Verwandlungskunst à la Zelig, für die charakteristisch ist, dass sie mit dem Verlust jedweder Identität zum Verlust der Subjekthaftigkeit führt. Vielmehr geht es hier um eine prämoderne Kunst der Verwandlung, in der das Subjekt es selbst bleibt, obwohl es permanent seine Haltung ändert und sich in allem zweideutig gibt: also eine Verwandlungskunst nach Art des Pulcinella, des Harlekin und des Pantalone. Wie jeder weiß, hat Pulcinella (das gilt auch für all seine Begleiter) überhaupt keinen eigenen Gedanken und auch keine eigene Meinung. Keine anderen Kriterien leiten ihn als der unmittelbar wirksame Eigennutz. Was auch immer geschieht, sei es erbärmlich oder erhaben, stets geht es ihm darum, einen Vorteil daraus zu ziehen, oder eine drohende Gefahr abzuwenden. Und so ist er bereit, jeden Part in der Commedia zu übernehmen, ohne jemals die ihm eigene Maske abzulegen. Niemand weiß, ob er Freund oder Feind ist, ob zuverlässig oder ein Schuft, ob er einen bösen Streich ausheckt oder bereit ist, auf andere zuzugehen. Das weiß nicht mal er selber, denn in jedem Augenblick kann er seine Meinung, seine Allianzen, seine Strategien ändern. Ja mehr noch: Er ist imstande, mit guten Gründen einen bestimmten Standpunkt zu vertreten und diesen im selben Moment ins Gegenteil zu verkehren. Das stürzt alle in größte Verwirrung, rettet ihn aber vor der Katastrophe.

All das trifft auch auf den Cavaliere zu. Nehmen wir als Beispiel die nicht gar so unbedeutende Kriegsfrage. Dazu nicht Stellung zu beziehen, erscheint beinahe unmöglich: man ist entweder dafür oder dagegen. Anders der Cavaliere. Kaum hatte er eine europäische Position bezogen (»Wir fällen unsere Entscheidung in Abstimmung mit den anderen Ländern Europas.«), schon flog er in die Vereinigten Staaten, um dem »lieben Freund George« die vorbehaltlose Zustimmung Italiens zu dessen Kriegsplänen zu überbringen. Er war noch gar nicht angekommen, da ließ er bereits (gegenüber den Journalisten im Flugzeug) verlauten, wohl sei Italien an der Seite der USA, aber Truppen, geschweige denn die heiß geliebten Alpini, werde man nicht schicken; kurz, unsere Teilnahme würde ideeller Natur sein. Kein Wunder, dass sich die Amerikaner darauf keinen Reim machen konnten. Aber kaum ist der Cavaliere 24 Stunden später bei Putin in Moskau, da heißt es, er stimme mit diesem darin überein, den Inspektoren mehr Zeit zu geben und sich überhaupt nach den Vereinten Nationen zu richten. Damit noch nicht zufrieden, macht er sich an sein diplomatisches Meisterstück. Wie hieß es doch gestern in der Presse? Der Cavaliere habe den libyschen Führer Ghaddafi getroffen und ihn aufgefordert, die Rolle des Vermittlers zu spielen. – Unser köstlicher Cavaliere, ist er nicht großartig!

Ghaddafi als Vermittler zwischen Bush und Saddam Hussein: einen so betäubend-betörenden Gedanken zu fassen, kann nur auf den Brettern der Commedia dell’Arte gelingen. Auch andere witzige Nebenrollen des Cavaliere können sich sehen lassen. Vor allem die anonym reportierten, die als echte Repertoire-Gags gelten müssen. Interessenkonflikte? Wieso, die gibt es doch gar nicht, da ohnehin alles in einer Hand liegt. Richter, die vorhaben, in völliger Autonomie und ohne Rücksicht auf den Volkswillen Recht zu sprechen? Die sollen nach Verdienst, nämlich nach dem beurteilt und verdammt werden, was sie sind: arrogant, parteilich, subversiv. Und die Tatsache, dass Demokratie und Telekratie nicht identisch sind? Ja gewiss doch, die Telekratie ist eben besser.

Das Gebot der Stunde heißt aber: dem Cavaliere zu geben, was dem Cavaliere gebührt. Oft wird er als großer Verführer hingestellt, als ›meneur des foules‹, um jenen berühmten Binet zu zitieren, mit dem sich gern Mussolini verglich; worauf übrigens die weit verbreitete Behauptung zurückgeht, zwischen dem faschistischen Duce, der eher Verführer als Führer war, und dem Unseren gäbe es eine gewisse Nähe und historische Kontinuität. Doch dem ist nicht so. Und das festzuhalten, ist wichtig, will man die Beziehung zwischen Theater und Politik begreifen. Denn der Cavaliere ist kein Verführer, vielmehr steht er als Rezitator auf der Bühne, und alles dort oben macht er vor den Augen seines Publikums. Die Italiener, die scharf aufs Spektakel, vor allem auf das der Commedia dell’Arte sind, wissen das zu schätzen und wollen, dass er weiterspielt. Glauben sie an den Cavaliere? Lassen sie sich durch seine Possen täuschen? Ja und nein. Es ist halt wie im Theater, wo man so tut, als glaube man der Fiktion. Aber das Publikum scheint sich nicht darüber im Klaren. Erst wenn der Vorhang geschlossen ist, muss es mit der Realität wieder rechnen. Die Rechnungen aber, die ihm dann vorgelegt werden, sind mehr als gepfeffert.

Florenz, im März 2003

Aus dem Italienischen übersetzt von Dietrich Harth