Ludger Pries, Internationale Migration
Bielefeld (transcript) 2001, 79 Seiten

Nicht faktische Migrationen, sondern soziologische Migrationstheorien sind das Thema des knapp 80 Seiten umfassenden Bandes. Der Überblick über wichtige Theorien internationaler Migration von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart will das »time lag« zwischen der deutschen und der »fortgeschritteneren« nordamerikanischen Migrationssoziologie (vgl. S. 57ff.) überbrücken. Während die deutsche Migrationsforschung immer noch weitgehend von »klassischen Theorien internationaler Migration« bestimmt sei, haben sich in Nordamerika hierzulande nur spärlich rezipierte »neue Ansätze zur Forschung zu internationaler Migration« herausgebildet, die ergänzend zu den klassischen Theorien hinzutreten sollten, um alle Typen internationaler Migration theoretisch angemessen erfassen zu können. Die sechs theoretischen Ansätze, die Pries als ›klassische‹ anführt (z.B. »neoklassische und neue Ökonomie der Arbeitsmigration«, »Wert-Erwartungs-Theorie«, »Demographische oder geographische Gesetzmäßigkeiten«), haben bei aller Verschiedenheit gemeinsam, dass sie internationale Migration als »eine räumlich und zeitlich eng begrenzte Ausnahmeerscheinung in einem ansonsten streng sedentären Leben« (S. 8) fassen und so auf die Frage »Wer wandert warum von einem nationalstaatlichen Container in den anderen?« fixiert bleiben (S. 53). Dieses Container-Modell, das im Konzept des Nationalstaates geographischen und sozialen Raum als deckungsgleich denkt, kann somit zwar E- und Remigration erklären, bekommt aber, so der Verfasser, bestimmte Typen von Migration im Zeitalter der Globalisierung gar nicht erst in den Blick.

Die neueren Ansätze hingegen stellen nicht mehr nur die Frage nach Wirkungsmechanismen (raum-zeitlich isolierten Pull-/Pushfaktoren) zwischen Herkunfts- und Ankunftsregion, sondern fokussieren die »Emergenz neuer pluri-lokaler Wirklichkeiten« (S. 33). Migration wird auch als »dauerhafter Zustand und damit als eine neue soziale Lebenswirklichkeit für eine wachsende Anzahl von Menschen« (S. 32) begriffen, was die Migrationsforschung »aus einer eher randständigen Position in das Zentrum soziologischer Gegenwartsdiagnose rücken« (S. 60) könnte. Nicht mehr ausschließlich das Warum der Migration, sondern vor allem deren Wie interessiert. Pries nennt sechs verschiedene Ansätze neuerer Forschung, die diese neue Lebenswirklichkeit z. B. als »Migrationsnetzwerke oder -kreisläufe« oder »internationale Migrationssysteme« beschreiben. Ein zentraler Gedanke ist dabei derjenige der »Cumulative Causation«, der besagt, dass »einmal initiierte Wanderungen komplexe Wandlungsprozesse in den Herkunfts- und Ankunftsräumen bewirken, die eine Stabilisierung und Ausweitung von Migration wahrscheinlich machen« (S. 40 f.). Pries selbst trägt die Begriffe der ›Transmigration‹ und des ›Transnationalismus‹ zur neueren Forschung bei. Neben den Migrantentypen des E- bzw. Immigranten, der einmalig unidirektional migriert, des Remigranten, der Wohn- und Lebensort für eine kurze Zeit wechselt, um in seine Herkunftsregion zurückzukehren, und dem des Diaspora-Migranten, dessen grenzüberschreitende Wanderung religiös oder durch loyalitäts- oder organisationelle Abhängigkeiten motiviert ist und der sich bei starker kultureller Rückbindung an seine Mutterorganisation bedingt wirtschaftlich, sozial und mental in der Ankunftsregion einrichtet (vgl. S. 39 f.), beschreibt Pries einen vierten Typus, den ›Transmigranten‹. Das Verhältnis von Herkunfts- und Ankunftsregion ist bei diesem Typus durch die »Herausbildung von auf Dauer angelegten transnationalen sozialen Räumen« (ebd.) geprägt. Im Gegensatz zum Container-Modell fallen hier sozialer und geographischer Raum nicht zusammen. Transnationale soziale Räume werden als »relativ dauerhafte, auf mehrere Orte verteilte bzw. zwischen mehreren Flächenräumen sich aufspannende verdichtete Konfigurationen von sozialen Alltagspraktiken, Symbolsystemen und Artefakten« (S. 53) beschrieben, die gegenüber den sozialen Gegebenheiten der einzelnen Regionen eine neue, eigene Qualität aufweisen. Pries erwähnt die von Ong und Nonini (Aihwa Ong, Donald Nonini (Hg.), Ungrounded Empires. The Cultural Politics of Modern Chinese Transnationalism, London-New York 1997) beschriebene »Dritte Kultur«, die sich in Netzwerken zwischen China und den USA aufspanne und sich vom westlich-liberalen Kapitalismus unterscheide, das sie u. a. von »clanartigen Familien-Wirtschaftsunternehmen, konfuzianischen Wertvorstellungen« (S. 52) bestimmt sei.

Betrachtet man nun die inter- bzw. transnationalen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei, sieht man schnell, dass eine Beschreibung der Migrationsbewegungen und –netzwerke mit den Konzepten der E- bzw. Remigration mangelhaft bleiben muss. Pries legt in seinem als Einführung gedachten Band den Schwerpunkt auf die auch in Deutschland seit den 90er Jahren aufkommenden neuen Ansätze der Migrationsforschung, die diesem Manko beikommen wollen und »wertvolle Impulse« (S. 60) zur Erforschung neuer Migrationsphänomene geben. Zu bedauern ist, dass gerade das Konzept des »transnationalen sozialen Raumes«, das Pries favorisiert, relativ abstrakt bleibt. Sind alle anderen Darstellungen der jeweiligen Theorien von zwar konstruierten aber plastischen Beispielen begleitet, so fehlt dieses im letzten Kapitel »Transnationalismus und Transmigration«. Auch bleibt unklar, was konkret mit den im transnationalen sozialen Raum verdichteten »sozialen Alltagspraktiken, Symbolsystemen und Artefakten« gemeint ist. Wären diese konkreter bestimmt und hierarchisiert, könnte man ggf. auch eine bessere Abgrenzung des Typus des Transmigranten gegen den des Diaspora-Migranten vornehmen, auf dessen sozialen Raum die o. g. genannte Definition des transnationalen sozialen Raumes durchaus auch zutrifft, und der somit nur quantitativ (Anzahl der bewohnten Orte und der Ortswechsel) und nicht »qualitativ« (S. 51) vom Transmigranten unterschieden ist.

Frank Nöllenburg (Hagen)