John Bendix
Deutsche Begegnungen

Vor zwei Wochen sind wir in Deutschland eingewandert. Nicht wirklich gewandert, mit dem Flugzeug gekommen – gepackt (gearbeitet!), geflogen, gelandet – und dann ein Auto gemietet.

Einwanderung in den Wohlstandsstaat. Der Autovermieter spricht bei der Herausgabe des Wagens nur von Rentabilität und Benzinverbrauch.

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Nach und nach stellen sich die Nachbarn vor. Ja, Frau F. hat schon von Frau T. gehört, dass das Haus vermietet wurde; heißt uns freundlich willkommen in die Nachbarschaft. Herr S. lebt weiter oben. Er stellt sich vor, auf dem Fahrrad, und seine Kinder auch. Er sagt, es sei immer gut, nette Nachbarn zu haben, dabei kennt er uns noch nicht, jedoch eine freundliche Geste. Das Ehepaar gegenüber meint, sie hätten Ausländer gerne, die seien eine Bereicherung. Leider wären sie aber nicht mehr lange hier, die Gesundheit sei angeschlagen, körperlich gehe es nicht mehr. Sie ziehen zur Tochter ins Ruhrgebiet, obwohl sie schon seit 13 Jahren hier wohnen. Das Haus, in dem wir wohnen, am Waldrand, mit Vogelgezwitscher am frühen Morgen, ja, da waren vorher auch schon Ausländer drin. Aber eben Edel-Ausländer.

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Die Beamten bei der Meldebehörde sehen sehr jung aus. Die Beamtin, die unsere Papiere in Empfang nimmt, kann keine 25 sein. Freundlich, kompetent, überhaupt nicht stur. Die fehlenden Formulare und Papiere können bei Gelegenheit nachgereicht werden. Kein Hauch von Kameralwissenschaft oder preußischen Tugenden ist zu spüren, eher Gelassenheit, Ordnung, wie es sich gehört, Verständnis. Das entspricht nicht unserer Erwartung. Geistern in unseren Köpfen noch überaltete Schemen und Gedanken herum? Oder ist es nur hier in der Universitätsstadt so und nirgends sonst?

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In den Geschäften – und wir betreten viele, da der neue Haushalt eingerichtet werden muss – herrschen Freundlichkeit, Humor, Bereitwilligkeit. Fachliche Kompetenz wird zur Schau gestellt in Elektronik, Betten, Waschmaschinen und vielem mehr. Wieder sind es junge und flotte Angestellte, oder auch nicht so junge, die sich aber immer noch flott geben. Haben die Deutschen – was soll eine Verallgemeinerung wie ›die Deutschen‹ eigentlich heißen? – über die Grenzen geschaut und entdeckt, dass der Kunde doch König ist? Welche Vorstellungen und Vorurteile haben wir in unseren Koffern mitgebracht? Oder ist es nur eine optische Täuschung, eine ›Zurschaustellung‹?

5

Spät am Abend, an der Bushaltestelle: Ein betrunkener Pole, offenbar seit langem hier beheimatet, kommt auf mich zu, sagt, ich sei der einzige in der Stadt der ihm zulächele, ich könne kein Deutscher sein. Er weiß nicht, dass ich Betrunkene aus Erfahrung anlächle, um sie zu ›verharmlosen‹. Lieber freundlich sein, als mit der Unberechenbarkeit des betrunkenen Anderen konfrontiert zu werden. Er will wissen, wo ich herkomme, will wissen, ob unsere Großväter sich vielleicht im Ersten Weltkrieg bekämpft haben. Er ist erleichtert, als ich beteure, das sei nicht möglich.

Plötzlich ist die Vergangenheit da: er redet von einer Frau, einer Jüdin, von Auschwitz, vom Überleben, von der Stadtgeschichte, und dass er alt genug werden wolle – er ist 60, sieht aber jünger aus –, um alle zu überleben, inklusive der Ukrainer und Russen, die ihm offenbar etwas angetan haben. Was, das erfahre ich nicht, da das Gespräch in kleinen Rinnsalen überall hinfließt. Ich erzähle aus der Geschichte meiner Familie und überlege im Nachhinein, wo mein Großvater wohl Dienst leistete im Ersten Weltkrieg.

Der Pole fleht mich an: »Lerne Hebräisch, bitte lerne Hebräisch!« und als ich zum Bus muss, ruft er noch, »Wenn Sie mal anfangen, Hebräisch zu lernen, denken Sie bitte an mich.« Dass würde ich, bestimmt, wenn ich je so etwas täte. Doch wozu so in der Geschichte wühlen? Wir sind wohl nicht die Einzigen in der Stadt, die mit einigem an Gepäck angekommen sind.

 

Anfang Juli 2001

1

Eine erste Einladung, ein Abendessen. Das Haus und vor allem der Garten sind schön angelegt und gepflegt. Mit Stolz wird erzählt, dass es eine Gemeinschaft mit den Nachbarn gebe. Die Zäune und Markierungen wurden weggenommen. Nur die Hunde respektierten die Grenzen noch, wüssten noch, wo sie nicht hin dürften.

2

Jeder kommt ins Haus: der Elektriker und der Computermensch, beide mehrmals, sogar der Versicherungsfachmann sitzt mit uns am Tisch. Ein Biobauer, so erfahren wir, käme auch jede Woche, um Bestellungen aufzunehmen, falls wir das wollen. Es ist praktisch und angenehm, man muss nicht aus den eigenen vier Wänden raus. Ich denke daran, wie sehr die Privatsphäre dadurch abgedichtet wird – die Kühlschränke dagegen sind zu klein, und man muss raus, um einkaufen zu gehen, und zwar häufig. Bindet die Frauen doch auch ans Haus, oder? Ich denke an Ankara, wo wir eine Zeit lang in einer Wohnung lebten, und der Hauswart Brot und andere Lebensmittel auf Bestellung besorgte. Der Eiermann kam vorbei, die Eierschachteln prekär auf seinem Dreirad balancierend, und der Gemüseverkäufer. Sie hielten unten und riefen in die Etagen hinauf. Auf die Weise lernten wir die türkischen Namen der Esswaren, aber eigentlich zog es uns auf den Markt, wo Leben herrschte.

3

Im Bus sagt eine ältere Frau zu ihrem Nachbarn, dass sie nicht verstehe, was auf meinem T-Shirt steht. Dabei ist es nur eine geographische Angabe und darunter eine Naturszene, schwarz-weiß gezeichnet. Ich erkläre ihr, dass es ein Reisesouvenir sei. Die Landschaft ist vor kurzem unter Naturschutz gestellt worden, und sie erwidert, was man alles nicht wisse und noch lernen müsse, sie sei doch schon in den Siebzigern.

Wieder erscheint die Vergangenheit. Die Frau erzählt vom Krieg, wie sie dienstverpflichtet wurde, sie hatte keine Wahl; war im Osten, in einer Großstadt, und musste nach Berlin, wurde dann in eine andere Großstadt im Osten verlegt. Das verstehe heute keiner mehr, sagt sie, sie stellten Fragen, als ob man die Wahl gehabt hätte, zu gehen oder auch nicht. Ich antworte: »Ja, ich verstehe, das war auch Teil meiner Familiengeschichte«, aber ich meine den Krieg, und was er einem abverlangte, und nicht den ›Dienst‹.

Dann sagt sie: »Früher kannte ich niemanden in diesem Stadtteil, ich wusste gar nicht, wohin dieser Bus fährt«. Wir reden über die Straßennamen, über die fernere Vergangenheit, über ganz alte Dinge, die mit unseren eigenen Familien nichts mehr zu tun haben. Eine jüngere Frau, eine Reihe weiter hinten, fügt historische Details bei, die Diskussion wird lebhaft, und ich denke nachher, dass man mit einem bisschen Humor, Bereitwilligkeit und Redelust die Deutschen mitreissen kann. Optimistisch bin ich, oder ist es nur meine ›Kultur‹, die ich mitbringe?

4

Ich kaufe ein eher teures Fahrrad für meine Tochter, ihr erstes. Ein schönes Fortbewegungsmittel, um den Schulweg attraktiver zu machen. Zu ihrer vorherigen Schule wollte sie oft nicht zu Fuß gehen. Der Verkäufer ist flott, er kennt sich aus, nennt all die technischen Details, die mir nicht viel sagen. Eine Woche später, an einem Samstagnachmittag, gehe ich kurz vor Ladenschluss (sicher ein gravierender Fehler) mit meinem Fahrrad zum gleichen Laden. Mein Rad hat eine lange Reise hinter sich, war eingepackt und bedurfte der Inspektion durch einen Fachmann, wovon es viele gibt in dieser Stadt.

Der ist offenbar gestresst, zeigt seinen Terminkalender, nein, vor nächster Woche sei nichts zu machen. »Ist schon recht«, sage ich und frage, ob ich das Fahrrad da lassen könne. Der Fachmann wird ungeduldig, fast wütend, und sagt, das gehe auf keinen Fall, er habe keinen Platz und am Montag stünden schon die nächsten Kunden vor der Tür, ich müsse halt wiederkommen. Im nächsten Laden ist man freundlicher: »Heute klappt es nicht mehr, erst am Montag, aber eine Inspektion ist kein Problem.« Das Fahrrad bis nächste Woche da zu lassen, ebenfalls nicht. In Amerika, denke ich, ist der Kunde immer König.

5

Bei der festlichen Verabschiedung einer Gruppe rede ich mit einem Mann, der, wie mir scheint, ziemlich antifeministische Meinungen vertritt, des Sinnes, wenn Frauen wirklich in die Chefetagen aufsteigen wollen, so sollen sie es halt. Ich erwidere – hoch zu Ross: »Aber die Strukturen! Die Restriktionen, das Eingebundensein ins Häusliche, die Notwendigkeit für eine Frau, da zu sein – denn wie viele Männer tun das, selbst heute? –, wenn die schulpflichtigen Kinder mittags heimkehren und essen wollen! Es gibt doch andere Lösungen.« Er beharrt, das sei eine Entscheidung, welche die Frauen selber treffen müssten, sie könnten ja ein Kindermädchen einstellen. Da mischt sich seine Frau in die Diskussion: »Ach, du redest immer von denen, die diese Chance und das Geld dazu haben. In meiner Praxis sehe ich täglich Frauen aus unteren Schichten, bei denen das überhaupt nicht zutrifft!«

Ich bin froh über die Unterbrechung, ein feministischer Mann gilt wohl als Feind in den eigenen Reihen. Insgeheim denke ich, dass es manchmal für Frauen ein Ausweg ist, die Mutterrolle anzunehmen, nicht den Stress des Berufslebens zu wählen. Aber auch, dass dies die Rechtfertigung einer ungleichen Situation ist, da es viele Berufe gibt, die von Männern dominiert werden, aber nur wenige von Frauen, und dann sind sie im Vergleich oft unterbezahlt. Sind das undeutsche Gedanken? Wieder zuviel im ideologischen Koffer mitgeschleppt?

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Nach dem Fahrraderlebnis, gehe ich, gar nicht betrübt – sich im Recht zu fühlen ist doch etwas Schönes –, zum Video-Laden. Ich inspiziere den Geldbeutel und stelle fest, dass ich nur einen Hunderter habe. Oh je, das wird wieder Ärger geben. Die Kassierer in den Läden beklagen sich oft, dass sie kein Kleingeld haben, manche weigern sich sogar, größere Scheine zu wechseln, im Bus ist das schon gar nicht möglich, und ich brauche eine Fahrkarte. Ich sehe mich nach einer Bank um, aber es ist Samstagnachmittag. Wie komme ich auf die Idee, um diese Zeit Kleingeld bekommen zu können? »Ach, was für ein deutscher Gedanke, sich der Situation so zu ergeben, so tun, als ob alles einfach unmöglich wäre.« Ich habe es doch gerade erlebt, wie einfach die Lösung sein kann. Wieder ein Versuch mit Humor! Die Videos bringe ich mit einem Tag Verspätung zurück, so muss ich noch draufzahlen, habe aber leider nur den Hunderter. »Geht das? Ich komme Ihnen entgegen, indem ich weitere Videos ausleihe.« Die Antwort von hinter der Theke kommt mit Humor: »Doch, doch, geht schon, kein Problem, war ein guter Tag heute. Es wurde viel ausgeliehen.« Die ältere Dame scherzt mit der jungen Angestellten, sie helfen mir sogar, ein Video zu finden. Wieder alles locker, ungetrübt.

Flüchtige Kontakte mit Ausländern haben die meisten Deutschen, lese ich. Meine Begegnungen sind bisweilen auch flüchtig, aber interessant, vielseitig, verleiten zum Nachdenken. Ich lese auch, die Ausländer sollten sich integrieren. Aber in welches Deutschland, das flotte oder das partnerschaftliche? Es gibt sicher weitere Varianten.

 

Mitte Juli

1

Wir fahren nach Berlin, schauen uns um. Ein Freund, selber zugewandert, zeigt uns einige Sehenswürdigkeiten, auch das Hotel, wo gerade der Bericht der Süssmuth-Kommission vorgestellt wird. Ich lese die Details anschließend in der Zeitung. Für deutsche Verhältnisse vielleicht ein mutiger Schritt, aber nur wenige Einwanderer und Ausländer können auf diese Art und Weise nach Deutschland kommen. Aus demographischen Gründen bräuchte Deutschland Hunderttausende, wenn nicht Millionen, nicht nur einige Zehntausende, doch das scheint zu radikal zu sein. Vielleicht wird Deutschland politisch doch noch, wenn auch ganz bescheiden, zu einem Einwanderungsland. Aber wohl nicht in den Köpfen der Politiker oder der Bevölkerung.

Wir treffen uns in Berlin auch noch mit anderen Ausländern, die hier verweilen, um Forschung zu treiben, in einem indischen Restaurant. Wir reden übers Reisen, über Erlebnisse, über Fremdheitserfahrungen: Ausländer im Ausländermilieu. Wirken wir abstoßend? Stört es die Deutschen am benachbarten Tisch, dass wir nicht deutsch reden?

2

Wir kaufen ein Auto, und ich bemerke, wie ich ins Schwärmen gerate, obwohl ich normalerweise nicht über Autos nachdenke. Das sind nur Fortbewegungsmittel, viel Emotionen stecke ich nicht hinein. Aber das Auto ist ein Hybridauto, und meine Gesprächspartner stolpern schon über das Wort. »Was ist das, hybrid?« Dabei ist die Gen-Debatte doch so aktuell. Das Auto hat einen Doppelantrieb, einen elektrischen und einen Benzinmotor. Stecker braucht es nicht, denn die Batterie lädt sich beim Fahren wieder auf. Bei niedrigen Geschwindigkeiten fährt das Auto fast ausschließlich elektrisch. Bei Beschleunigung oder bei Bergfahrten schaltet es automatisch den Benzinantrieb zu. Sobald der Benzinmotor nicht mehr benötigt wird, schaltet das Auto ihn wieder ab, auch bei Rotlicht, und man fährt leise elektrisch weiter. Das Ganze ist unheimlich clever zusammengesetzt. Als ich es zum zehnten Mal erkläre, sagt meine Gesprächspartnerin: »Ja, da sind Sie aber auch ein Vorreiter.«

Der Stolz über die Qualität der in Deutschland produzierten Autos wird nun doch ein wenig angekratzt, denn wie kann ein Ausländer, der ein im Ausland hergestelltes Auto fährt, als Vorreiter für die Deutschen fungieren? Aber ich bin ja nicht wie diese anderen Ausländer, ich komme nicht arbeitssuchend nach Deutschland und ich belaste auch nicht den Wohlfahrtsstaat. Stattdessen tue ich, was ich in meiner Heimat auch täte: mit dem Kauf fordere ich die heimatliche Industrie auf, beim globalen Angebot mitzuhalten. Solche Vorreiter sind nicht immer gerne gesehen, denn sie forcieren den Wandel, provozieren vielleicht Arbeitsplatzverluste. Wer möchte das schon? Besser die Vorreiter ignorieren?

3

Ich höre viel über die Standortdebatte. Als ob der ›geographische Ort‹, an dem man sich auf der Welt befindet, irgendwie Vor- oder Nachteile brächte. Die Debatte mutet eigenartig, fast archaisch an, als ob wir noch in der Hansezeit steckten, wo es wichtig war, dass eine Stadt an einem schiffbaren Fluss lag. Wie soll der Standort von Bedeutung sein, wenn die Wirtschaft informationsbasiert funktioniert? Stattdessen vernehme ich Angst in dieser Debatte, Angst, dass Deutschland nicht mehr mithalten kann, Angst, dass andere Standorte bevorzugt werden könnten, und das, obgleich Deutschland eine der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt ist. Ich kenne diese Worte: Standort, Leistung, Tugend, Errungenschaft. Ich weiß, wie schwierig sie zu übersetzen sind, da sie eng mit dem heimatlichen Kontext verknüpft sind, und ich weiss auch, wie sehr sie die Basis bilden für die flotten jungen Deutschen, die nach Bali in die Ferien fliegen.

4

Drei Stunden fahre ich mit der Bahn in eine andere Stadt, um einem festlichen Akt beizuwohnen. Ein langjähriger Mitarbeiter, den auch ich seit langem kenne, wird verabschiedet. Die Gespräche kreisen wieder um Deutsches und Fremdes, um Kultur und Essen, um Strukturen und Erfahrungen im Ausland und mit Ausländern. Aber ein ›Inländer‹, der sich mit Ausländischem befasst, ist stets etwas unbequem, steht selber ein bisschen abseits der eigenen Kultur, hat nicht den gleichen Blickwinkel, kennt zu viele andere Perspektiven und hat sie sich zu eigen gemacht. Das kommt in den Festreden zum Vorschein: dies Unbehagen am ›Internationalen‹ und über einen Mann, der einfach nicht los ließ und ständig herausforderte.

Bei einer Lektüre stieß ich auf die These, dass der eigentliche Unterschied zwischen progressiven und konservativen Menschen weniger eine ideologische Haltung als eine Einstellung zum Wandel selbst sei und zum Tempo des Wandels. Die Konservativen geben zu, dass sich die Dinge ändern, nur wollen sie die Änderungen hinausschieben, um Zeit zur Anpassung zu haben. Das kann dazu führen, dass es zu überhaupt keiner Änderung kommt oder dass diese erst nach Jahrzehnten eintreten. Vielleicht ist das insgesamt ein Grund, weshalb ältere Menschen häufiger konservativ sind: sie klammern sich am Gewohnten fest und verweigern, sich in eine Zukunft zu stürzen, die nicht mehr ihre eigene sein wird.

 

August

1

Wir machen Urlaub, sind aber eigentlich noch gar nicht richtig ansässig. Etwas stimmt da nicht ganz, dass wir vor geleisteter Arbeit schon Ferien genießen können. Es gibt diesen so deutschen Begriff des Erholungsurlaubs, als ob es eine andere Sorte Urlaub gäbe, die anstrengender und überhaupt nicht erholsam ist. Vielleicht ist es ja nur eine Rechtfertigung, wenn man die 37,5-Stundenwoche (oder noch weniger) hat, um sagen zu können: »Nach all dem Stress im Job habe ich Erholung nötig.« Einfach Urlaub zu machen, hört sich wohl faul an, erholen muss man sich. Ich komme aus einem Land, wo mehr gearbeitet und weniger geurlaubt wird, von Erholung ganz zu schweigen.

2

Wir gehen zur Post und holen die aufgelaufenen Sendungen ab, wir stehen Schlange. Der Mann hinter uns macht eine geringschätzige Bemerkung über die Langsamkeit der Post, beklagt sich, dass man Schlange stehen muss, beklagt sich über eine Postkarte, die er von einem Stadtteil zum anderen schickte und die volle zehn Tage unterwegs war. Ich denke: das sind Wohlstandsklagen, an einem etwas heruntergekommenen Serviceangebot herumzunörgeln, obwohl es sich im internationalen Vergleich immer noch sehen lassen kann. Ich will dem Mann von meiner Mutter im Ausland erzählen, die sich mit 80 weigert, in die Hauptpost zu gehen, da sie jedes Mal mindestens eine halbe Stunde anstehen muss und dann noch unfreundlich bedient wird. Aber es ist wie überall: man sieht nur die Situation, die man vor der Nase hat, und denkt nicht daran, wie gut man es hat, da man die anderen Erfahrungen (noch) nicht gemacht hat.

3

Ich fahre in eine andere Stadt, geschäftlich, um diejenigen kennen zu lernen, mit denen ich sonst nur per Email Kontakt habe. Man ist freundlich, herzlich, fast belanglos. Arbeit wird mir zugeschoben, zukünftige Projekte werden besprochen. Am Morgen, vor den diversen Verabredungen, nehme ich mir Zeit, durch die Straßen zu schlendern. Es ist noch früh und nur wenige Geschäfte haben bereits geöffnet. Ich stehe an einer Kreuzung, eine Straßenbahn fährt vorbei. Ich sehe, dass keine weitere kommt, weder von rechts noch links, also überquere ich die zwei Schienenspuren, ohne groß nachzudenken. Doch da ist eine Ampel und hinter mir bleiben zwei Damen stehen, schließlich zeigt die Ampel Rot. Als es endlich Grün wird, noch immer ist keine Straßenbahn in Sicht, schreiten sie vorwärts. Alles, was nicht verboten ist, ist erlaubt. Bei roter Ampel zu gehen ist verboten, egal wie der Verkehr ist. Es ist wohl eine Mentalitätssache, ob man in so einer Situation geht oder stehen bleibt, da schimmert der Gesetzes- und Richtlinienstaat wieder durch. Oder waren die Damen einfach zu vertieft ins Gespräch, um so richtig acht zu geben?

4

An diesem Tag nehme ich einen Imbiss mit einem meiner Kontakte in einer Art Cafeteria. Es gibt eine Terrasse, doch sie ist ziemlich voll. Wir finden noch einen freien Zweiertisch. Einer der Architekten vom Nachbartisch – das Restaurant wird offenbar umgebaut, große Pläne liegen ausgefaltet auf der Tischplatte – hat sein Sakko über einen der Stühle an unserem Tisch drapiert. Wir bitten höflich um den Platz. Nur widerwillig bemüht sich einer der jüngeren Männer, das Kleidungsstück zu entfernen, widerwillig, da der Älteste in der Runde unterbrochen werden muss, es ist sein Sakko.

Wir sprechen darüber, wie es mit den Deutschen in der Öffentlichkeit so ist, wie leicht sie sich ärgern, wie schnell sie unangenehm werden, wie unsensibel oder anders sie sich benehmen als diejenigen, die aus anderen Kulturkreisen stammen. Mein Gesprächspartner führt es auf das Imponiergehabe und die Wichtigtuerei zurück, ich hingegen plädiere dafür, dass öffentliches Leben hierzulande immer schwerfällig war, kein dolce far niente, sondern Ellbogengesellschaft. Man muss sich bewähren, verwahren, verteidigen, sonst ist der Platz weg. In meinem Land würde man sich vielleicht entschuldigen, wäre wenigstens freundlich, würde nicht ergrimmen wegen einer Jacke.

5

In der Lokalzeitung steht ein Interview mit einem Festorganisator, der betont, was ihn aufrege in Deutschland, sei die Paarung von Inkompetenz und Arroganz, und was ihn langweile, das ständige Aufzeigen von Grenzen. Arrogant sein kann jedes Volk (wie auch inkompetent) und soziale Grenzen sind keine lokale Besonderheit, sondern finden sich in jeder menschlichen Gemeinschaft. Bemerkenswert finde ich den selbstkritischen Ton, die Aufregung eines Deutschen über die Deutschen. In anderen Ländern gälte so etwas möglicherweise als Nestbeschmutzung oder würde als unpatriotisch angesehen.

 

Mitte Oktober

1

Eine recht bewegte Zeit seit dem 11. September und spürbare Betroffenheit im Lande, fast als seien es Frankfurt und Berlin und nicht New York und Washington, die getroffen wurden. Emotional gefärbte Reden im Bundestag direkt nach dem Ereignis, mit offenen Dankes- und Solidaritätsbekundigungen gegenüber den Amerikanern. Einige beteuern sogar, dass sie nicht hier im Bundestag stünden, hätten die Amerikanern im Zweiten Weltkrieg nicht eingegriffen.

Nun sind wieder die Querelen im Gange, das Ringen um politische Vorteile, die Uneinigkeit in den eigenen Rängen. Ist es unmöglich, Solidarität als tägliches Brot der Politik zu betreiben, bleibt in der Politik vielleicht nur wenig Raum für Ergriffenheit? Oder ist es einfach so, dass Politik mit der Verteilung von knappen Gütern zu tun hat? Emotionen aber kann man nur teilen oder mitteilen, nicht verteilen.

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Heute habe ich meinen deutschen Pass bekommen, und da steht drin, dass ich mich nun offiziell ›Deutscher‹ nennen darf. Hatte man lange eine andere Identität, einen anderen Pass, gab auf die Frage »Woher kommen Sie?« eine andere Antwort als »Deutschland«, so stellt sich die Frage der Zugehörigkeit. Ich merke, dass ich ohnehin dazu neige, einen Unterschied zu machen zwischen meiner ›Herkunft‹ und meinem jetzigen ›Wohnsitz‹. Das Gute an der Sache ist, dass ich die alte Staatsangehörigkeit beibehalten kann. Ich muss keine Wahl treffen; nicht ›entweder/oder‹, sondern ›sowohl-als-auch‹ ist die Devise. Im Hinblick auf das Unheil, das der Nationalismus im 20. Jahrhundert ausgelöst hat, glaube ich jedoch, dass es grundsätzlich besser wäre, überhaupt keine Staatsangehörigkeit zu besitzen. Gerade das Beharren auf dem Nationalen scheint schlimme Folgen für die Menschheit gezeitigt zu haben.

Die vielbeschworene Frage der ›Integration‹ ist in meinem Fall kompliziert, denn anhand meiner bisherigen Lebensweise gelte ich nicht einmal in meinem Heimatland als besonders gut ›integriert‹, da ich zu viel Zeit im ›Ausland‹ (sprich Europa) zugebracht habe. Das Umgekehrte wird jetzt wohl in Deutschland der Fall sein. Doch lassen sich daraus sowohl Vor- wie Nachteile ziehen. Ein Deutscher sagte mir vor einigen Monaten, dass es geradezu ein Vorteil sei, dass ich nicht in Deutschland sozialisiert wurde, da die bestehenden Schranken mir offenbar weniger ausmachten bzw. mir nicht wie Hemmschwellen erschienen.

Doch ›Integration‹ bleibt oft nur oberflächlich, das Bekenntnis zu demokratischen Werten ist leicht abgelegt, aber genau so zu sein wie die ›Inländer‹ ist nahezu unmöglich, selbst nach langer Zeit. Es ist auch nicht so erstrebenswert, denn die Inländer werden ja gerade durch die Anwesenheit der ›Nicht-Inländer‹ bereichert (wenn auch manchmal widerwillig), und die Ausländer zu ›Klonen‹ der Deutschen zu machen, die vielleicht noch deutscher als die Deutschen wären, ist nicht besonders lustig. Ich möchte mich mit einem Status der ›Halbintegration‹ begnügen: genug, um am deutschen Leben teilzunehmen, aber unter Beibehaltung einer gewissen Distanz. Dieser Zwischenstatus bringt niemandem völlige Ruhe, weder mir selbst noch meinen (jetzt neuen) Mitbürgern, er ist im Gegenteil produktiv, denn alle müssen sich etwas mehr Mühe geben, miteinander zu leben.