Akademische Rituale
(hochschule ost, 3./4. Quartal 1999)

Am 28. März 2001 wird an der Southwestern University (Georgetown / Texas) der 14. Präsident in sein neues Amt eingesetzt, Anlass für eine einwöchige Feier, an der die ganze Stadt, und nicht nur diese, beteiligt ist. Gwen Kennedy Neville hat in einer Festrede mit dem Titel Symbolizing the University: Ritual, Performance, and Celebration aufgezählt, was die Akteure und das Publikum erwartet: »It is a week filled with events. In the unfolding days, we will pass through lectures, concerts, exhibits, films, and a gala benefit ball, to arrive finally at next Wednesday’s finale: the installation ceremony itself. The ceremony begins with an elaborate procession. There are school children, escorted by Southwestern students; delegates from SU student organizations; alumni class representatives; delegates from scholarly societies and from other universities, arranged in the order of their founding; the Southwestern faculty, deans, and vice presidents; church officials; and members of the Board of Trustees; all followed by a platform party and, lastly, the one to be installed... At every event in this week of festivity there will be food. There are lunches, dinners, catered suppers, continental and full breakfasts, and, finally, after the installation ceremony, a vast 5000-box lunch reminiscent of an old fashioned church picnic.«

Etwas Vergleichbares sucht man an deutschen Universitäten vergebens. Gewiss, die Bedingungen sind sehr verschieden: dort die große Bedeutung privater, hier das Politikum staatlicher Wissenschaftsinvestitionen. Die glanzvollen, kostspieligen, von zahlreichen planning committees in monatelanger Zusammenarbeit zusammgebastelten Rituale oder gar die mit der verhaltenen Lust eines biblischen Picknicks einhergehende Feier der Communitas – wer würde das hierzulande wollen oder gar durchstehen? Welche akademische Institution wäre bereit, sich mit der Veröffentlichung von Ritualhandbüchern – amerikanische Beispiele: Presidential Inaugurations: Planning for More than Pomp and Circumstance oder Academic Costume Code and Ceremonial Guide - dem zu erwartenden Hohn und Spott auszusetzen?
Wissenschaft ist hierzulande nichts zum Feiern, die öffentliche Repräsentation ist ihr so fremd wie dem Asketen der Schlabberlatz. Zum heiligen Kodex selbst jener Universitätsdisziplinen, die sich mit der Deutung kultureller Symboliken und mit rituellen Praktiken beschäftigen, gehört die eiserne Regel: Was man erforscht, das halte man sich vom Leib. Warum das so ist, und warum der in den 90er Jahren wieder aufgekommene Streit über das Entstauben eingemotteter Talare so kleinkariert wirkt, darüber geben Auskunft die Beiträge der von Peer Pasternack in Leipzig herausgegebenen, wenig bekannten Zeitschrift hochschule ost, deren 8. Jahrgang (3./4.Quartal 1999) dem Thema »Akademische Rituale - Symbolische Praxis an Hochschulen« gewidmet ist.

Wolfgang Kraushaars in diesem Journal publizierte Betrachtung mit dem schönen Titel Symbolzertrümmerung untersucht die Zeit der späten 60er. Ausgangspunkt ist der berühmte Studentenprotest während der Hamburger Rektoratsfeier im Jahr 1967, dessen Slogan »Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren« sich gegen die Agenten einer versteinerten Herrschaftsgeschichte richtete. Diese Anspielung auf die Verstrickung der Universitäten in die Gewaltpolitik der Nazis verstand zumindest einer der anwesenden Ordinarien sehr wohl, der Islamwissenschaftler Berthold Spuler, der den Studenten damals wütend zurief, sie gehörten ins KZ. Kraushaar beschreibt hier eine Schlüsselszene des ritualisierten Antirituals, deren Ablauf und Wirkung ziemlich genau erklärt, warum wir Deutsche uns mit dem Rituellen, das ja keineswegs aus unserm Alltag verschwunden ist, so schwer tun: repressiv wirkender, vernunftwidriger, ja mörderischer Mißbrauch unter der Hitlerdiktatur und Personalkontinuität unter dem Mäntelchen einer autoritär verkommenen Symbolsprache. Wer in den 50er und 60er Jahren studierte, der weiß ein Lied von dem Befehlston zu singen, den nicht wenige Ordinarien im Seminar beibehielten, als wäre das ein Gütesiegel ’deutscher’ Wissenschaft.

Das Verlangen nach Diskussion und öffentlicher Rechtfertigung anachronistischer und zur Dressur verkommener Bildungspraktiken, den der Studentenprotest diesem Imponiergehabe entgegensetzte, begann an fast allen Universitäten Westdeutschlands mit der studentischen Travestie überkommener Ritual- und Symbolpraktiken. Die Karnevalisierung der Machtinsignien traf, wie die überstürzten und heftigen, nicht selten hasserfüllten Reaktionen der Lebenszeitstelleninhaber zeigten, keineswegs bloß die Hülle, sondern vor allem das elitäre Selbstverständnis und undemokratische Statusdenken des Professorenkartells. Rituale und rituelle Symbole sind, wie sich an diesem Beispiel genauestens belegen ließe, keine ’leeren’ oder bloß dekorativen Selbstläufer. Sie geben vielmehr der Idee – hier der einst gültigen Idee der korporativen Elite – jene wahrnehmbare Gestalt, an der sich die Sehnsucht nach exklusiver Gruppenidentität immer wieder orientieren kann und festmachen lässt. Mit wissenschaftlicher Rationalität hat das überhaupt nichts zu tun; im Gegenteil, hier stoßen institutionelle Hierarchiezwänge und unbändige Geistesfreiheit in dramatischer Weise zusammen: »Es führt zu nichts Gutem,« notierte einst der Student Walter Benjamin, »wenn Institute, wo Titel, Berechtigungen, Lebens- und Berufsmöglichkeiten erworben werden dürfen, sich Stätten der Wissenschaft nennen.« Die in der Institution mit symbolischer Gewalt durchgesetzte Ungleichheit ist, wie Bourdieu mit seinen Mitarbeitern in der Studie Titel und Stelle (1981) nachgewiesen hat, Ausdruck der gesellschaftlich etablierten Machtreproduktion. W. Kraushaar lässt die Frage offen, ob und in welchem Maß Selbstverwaltung, Forschung und Lehre auf Ritualisierungen verzichten können.

Im Einleitungsaufsatz des Themenheftes des Journals hochschule ost sieht das anders aus. Falk Bretschneider und Peer Pasternack beziehen sich hier auf die Situation dreißig Jahre nach der Protestbewegung. Sie diskutieren die Vor- und Nachteile einer ritualisierten Organisationskultur und machen bewusst, dass die 90er Jahre hier und da Zeuge eines verschämten Revivals der Talarkostümierung zuerst an ost-, später erst an westdeutschen Universitäten wurden. Da es vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein winziger Schritt ist, konnten diese Revivals sich vor dem Spott vor allem der öffentlichen Medien nicht retten. Was meist einen guten Grund hat, da selten klar wird, welche Communitas-Funktion der Rückgriff überhaupt erfüllen soll. Da holt einer das Kostüm aus der Kiste, ohne sich Gedanken über die Rolle zu machen, die mit dem symbolischen Kleiderwechsel verbunden ist – zur Entschuldigung werden nicht selten irgendwelche selbstironischen Floskeln bemüht. Mit einem Wort: Die Inszenierung mündet in unfreiwillige Komik.

Bretschneider/Pasternack versuchen nun, im Anschluss an ethnologische und soziologische Thesen, die Funktionen akademischer Rituale zu entschlüsseln, eine für die kritische Selbstreflexion der Institution nützliche Lektüre. Die Autoren unterscheiden zwei grobe Klassen: alltagsakzessorische und alltagstranszendierende Rituale. Zur ersteren gehören die altbackenen, eine eiserne Ungleichheit indizierenden Anrede- und Grußformen (Kollege, Spectabilität, Magnifizenz) und natürlich auch solche Idiotismen wie »professorabel«oder »ordinariabel«, die dem so qualifizierten Menschlein die künftige Würde eines erhabenen Tiers attestieren. Unsere Autoren rechnen auch die Prüfungen zu den alltagsbegleitenden Ritualen, obwohl sie als Initiationsrituale doch Status und Karriereaussichten der KandidatInnen entscheidend verändern – oder sollte man heut eher sagen: in Sackgassen führen? Bretschneider/Pasternack sehen durchaus die Farce im Mittelpunkt der Prüfungen, da diese »von einer Stufe der Unmündigkeit zur nächsthöheren Stufe der Unmündigkeit« führten. Ganz zu schweigen von der Habilitation, die vor allem dazu dient, die ’Selektionskriterien’ für Nachwuchswissenschaftler immer wieder aufs neue am Maßstab der Anpassungsfähigkeit auszurichten. An zwanghaften Integrationsritualen ist in der Universität wahrhaftig kein Mangel, ja sie werden augenblicklich noch um sog. Eignungs- oder Orientierungsprüfungen erweitert. Dass Sozialisation im Bildungsbereich der Wissenschaften nur dann gelingen kann, wenn die Studierenden aus den rigiden Ritualisierungen der Schule entlassen werden, ficht offenbar niemanden an. Kein Wunder, dass selbst der Studentenprotest an den Hochschulen zu einem wirksamen Integrationsritual für junge Semester verkommen ist.
Alltagstranszendierende Ritualereignisse sind in den Augen unserer Autoren solche Verrichtungen wie Symbolverwaltung (Zeugnisse mit Titeleigenschaft) und Prestigezuteilung (honoris causa, Medaillen usw.), Immatrikulationsfeiern, Urkundenzeremonien (z.B. Aushändigung des Doktordiploms), Jubiläen, Umzüge in vollem Ornat, Sponsionsformeln, wissenschaftsethische Selbstverpflichtungen und dergleichen mehr. Zu dieser Klasse quasi-sakraler Riten und Ritualisierungen sollen aber auch jene ans Überzeitliche appellierenden Mythenbildungen der Hochschule gehören, die sich auf der Ebene materieller Symbole, aber auch in so alchemistischen Devisen wie »Semper apertus« oder »Aus Tradition in die Zukunft« und natürlich in entsprechenden Wappen, Siegeln, Inschriften, Gründervätern und Götzenbildern verkörpern. Der Soziologe spricht in diesem Zusammenhang vom Prozess der »Selbstcharismatisierung«, was ja von Selbstbeweihräucherung nicht gar so weit entfernt ist. Kurz, Academia – eine naheliegende Generalisierung – ist eigentlich ohne Rituale ein Nichts.

Darüber aber muss niemand sich wundern, da die Organisationskultur einer jeden auf Hierarchien – also auf essentieller Ungleichheit – aufbauenden Institution des Rituellen allein schon um der Selbsterhaltung willen bedarf. Symbolische Gewalt ist hier endemisch und lässt sich am besten dort studieren, wo sie performativ in Erscheinung tritt: in den Ritualen und Ritualisierungen z.B. der Gremiensitzungen, der formelhaften Kommunikationsstile, der Amtseinführungen, der Examina und Evaluierungen sowie der von Zeit zu Zeit anstehenden Vergangenheitsbeschwörungen (z.B. bei Jubiläen). Entscheidend ist, dass Rituelles hier nicht wie ein dekoratives Kleid einem wie immer beschaffenen Geist – etwa einem Wissenschaftsethos – übergestülpt wird, sondern dass die in durchgängiger Vielfalt vollzogenen Rituale die Institution als solche hervorbringen, bestätigen und aufrecht erhalten.

»Die wesentlichen Botschaften akademischer Rituale«, schreiben Bretschneider/Pasternack, »sind also: Historizität, Distinktion und Hierarchie.« Was das für jedes einzelne Mitglied der Wissenschaftsinstitution bedeutet, umschreiben die Autoren mit dem Hinweis auf die schwierige Vermittlung zwischen individueller und kollektiver Identität. Je rigider die Anmaßungen sei es der Institution, sei es der in ihr beheimateten Forschergruppen kollektive Identität einfordern, desto schwächer fällt die Kreativität des Einzelnen aus. Genau da liegen die Gefahren einer von oben nach unten dekretierenden Hierarchie und der permanenten Kontrollen (Prüfungen, Leistungsmessungen etc.) unter dem einseitigen Aspekt z.B. wirtschaftlicher Effektivität. Wissenschaftliche Kreativität, das legen die Beobachtungen von Bretschneider und Pasternack nahe, braucht weite Spielräume, in denen die Akteure Licht und Luft haben, um den Gruppenritualen, auf die sich die Forschungsprozesse stützen, selber Gestalt geben zu können.

Eine ganze Reihe kritischer Einzeluntersuchungen im vorliegenden Zeitschriftenheft stützt diese Einschätzung. Alle Beiträge bleiben konkret, das heißt, sie gehen auf eigene Erfahrungen, Beobachtungen und Analysen vor Ort (in West- und Ostdeutschland) zurück. Zur Debatte stehen die rituelle Verschleierung der mit Berufungsverfahren verbundenen Machtspiele, der drohende Absturz in die Sozialhilfe nach dem Durchgang durchs akademische Aufstiegsritual, Schwächung des Rituellen in der Gruppenuniversität usf. Alles in allem eine lesenswerte, zum Nachdenken herausfordernde Sammlung, die nicht in allen Fällen explizit von akademischen Ritualen redet, sie aber auch in der indirekten Darstellung als etwas durchaus Zweideutiges beleuchtet.

Ein Fazit könnte lauten: Wenn die Universität die ihr noch verbliebene Autonomie wahren und zugleich ihre innere Organisation im Sinne des Hierarchieabbaus und der Mitbestimmung verändern will, dann muss sie wohl ihre notorisch männerbündische Ritualfixiertheit aufgeben. Dass sie als eine komplizierte, korporativ strukturierte Institution aufs Rituelle nicht ganz verzichten kann, liegt auf der Hand. Fragt sich nur, welche Rituale zu erfinden sind, um sie aus der Trägheit des Herkommens heraus zu führen. Vielleicht entstehen diese so ganz nebenbei, wenn die Hochschulen damit beginnen, intensiver als bisher den in ihnen beheimateten Sachverstand öffentlichkeitswirksam zu organisieren. Das kann zum einen geschehen, indem sie sich zur öffentlichen Selbstkritik bekennen (z.B. in bezug auf das prekäre Verhältnis zwischen Forschung und Ethik), zum andern dadurch, dass sie ihre notorische Distanz gegenüber aktuellen Problemlagen aufgeben und das unverzügliche Eingreifen der wissenschaftlich begründeten Reflexion in die Auseinandersetzungen um politische, kulturelle und ökonomische Lebensfragen zum Prinzip erheben. 

Dietrich Harth