Oswald Schwemmer
Mischkultur und kulturelle Identität
Einige Thesen zur Dialektik des Fremden und Eigenen
in der Einheit einer Kultur

Kulturen prägen das Leben der Menschen bis in dessen innerste Bezirke, verleihen ihnen eine öffentlich erkennbare Identität und sind selbst doch keine homogenen Gebilde. Als Inbegriff der in der Geschichte eines Volkes verfestigten Ausdrucksformen bieten sie zwar ein gewöhnlich als Einheit empfundenes Repertoire kollektiv verfügbarer und vor aller reflektierend erst zu erwerbenden Distanz schlichtweg ›gegebener‹ Ausdrucksmöglichkeiten. Gleichwohl haben aber in ihrer Geschichte, in der sie zu dem geworden sind, als das sie nun existieren, viele und zum Teil gegensätzliche Einflüsse in sie hineingewirkt und sind viele und zum Teil gegensätzliche Impulse aus ihnen hervorgegangen. Und nicht nur die eigenen Ideen, Gestaltungsimpulse und Formkräfte eines Volkes haben sich zu dessen Kultur zusammengefügt, sondern auch die pure Macht und Gewalt der Unterdrückung von außen, manchmal aber auch die eigene Bewunderung und Begeisterung für die andere Kultur anderer Völker haben sich in die Kulturen eingeschrieben. Kulturen sind gewachsen und nicht geplant, sie tragen nicht nur die Früchte inspirierter Gedanken und schöpferischer Taten, sondern auch die Narben vergangener Fesseln, des ohnmächtigen Verstummens und des verstümmelten Widerstandes. Kulturen sind vielstimmige Gebilde, und nicht jede Stimme besitzt einen reinen Klang. Kulturen sind in diesem Sinne gewöhnlich Mischkulturen.

Zu einem eigenen Thema und manchmal auch zu einem eigenen Problem wird die Mischform einer Kultur dort, wo sich in dieser Mischung dominante Elemente finden, die einer fremden Kultur entstammen und der Stempel des Fremden so das Eigene mitprägt. Wie kann sich – oder kann sich überhaupt – eine eigene kulturelle Identität bilden, wenn das Eigene sich über das Fremde mitzudefinieren hat? Tatsächlich scheint fast überall diese besondere Form einer Mischkultur vorzuliegen, in der Eigenes und Fremdes die Frage nach der Identität abfordern, nach der kulturellen, aber auch der nationalen Identität – und damit zugleich immer wieder auch nach der persönlichen, der individuellen Identität. Lässt sich eine solche Mischkultur überhaupt als eine eigene Kultur verstehen, in und mit der man lebt und zu der man gehört und gehören will? Gibt es in der auch vom Fremden geprägten Pluralität der Faktoren und Impulse eine grundlegendere Einheit, die das Fundament für eine lebbare Identität sein kann? Oder müssen wir einzelne Elemente aus der Mischkultur herauslösen und als eine ›Leitkultur‹ definieren, aus der wir unsere Identität herleiten?

›Identität‹ bedeutet hier vieles: Selbstwertgefühl und Vertrautheit, Abgrenzung gegen andere und gegen Fremdes, Einbeziehung ins Eigene und Selbstverständliche. ›Identität‹ bedeutet für uns alle ein gemeinsames Feld von Orientierungen für unser Denken, Fühlen und Handeln und für jeden einzelnen ein Maß, unter dem sich seine Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit entwickeln und präsentieren kann. Zur ›Identität‹ gehören schließlich auch die symbolischen Welten: die Bild- und Sprachwelten, die Handlungs- und Wahrnehmungswelten, in denen wir aufwachsen und leben und in denen wir – nicht zuletzt auch dies – sterben können.

Wer über eine Kultur in ihrer Mischform redet, scheint in einer besonderen Weise über Identität zu reden, über eine gebrochene oder nicht-identische Identität, über die Geschichte eines Anderen im Eigenen, eines Fremden im Vertrauten oder des Eigenen im Anderen, des Vertrauten im Fremden. Man kann diese Formulierungen auch als eine verknappte Darstellung unserer Gegenwartssituation lesen: nämlich der Rolle, die eine lokale oder regionale Identität – überhaupt noch oder gerade jetzt wieder – spielt in einer globalisierten Handelswelt mit einer, zumindest als Element des Eigenen, allgegenwärtig werdenden und überall gleichen Minimalkultur.

Die Frage nach dem Verhältnis des Fremden und des Eigenen in einer Kultur artikuliert mehr als eine Frage an die historische Genese dieser Kultur. Sie benennt exemplarisch ein Problem, das wir alle haben, die in den Sog dieser kommerziellen und kulturellen, politischen und technischen, administrativen und militärischen Globalisierung geraten sind. Es ist ein Problem, das nur als Paradox formuliert werden kann: Die regionalen Kulturen werden immer stärker ausgehöhlt und mit Versatzstücken einer minimalistischen Einheitskultur aufgefüllt – und zugleich verstärkt sich das Bedürfnis nach der Pflege einer eigenen, regionalen Kultur bis hin zum drohenden oder wirklichen ›Kampf der Kulturen‹ (Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21.Jahrhundert. München / Wien 1996). Im Verschwinden des kulturell Eigenen in einem kulturellen Allgemeinen entsteht zugleich Wiederentdeckung der eigenen kulturellen Besonderheit – und dies bis hin zum kämpferischen Bestehen auf dieser Besonderheit: unter allen Umständen und gegenüber allen Verfremdungen, bis hin zu einem kulturellen Fundamentalismus.

Die Allgemeinheit des Problems mag es begründen, einige allgemeine Überlegungen zur kulturellen und individuellen Identität, zum Austausch zwischen den Kulturen und zum Verstehen des Fremden wie dem Verstehen seiner selbst vorzutragen. Ich tue dies in 16 Thesen, die – aufgeteilt auf drei Gruppen – dem Sinn und den Schritten einer Identitätsbildung (1), der Polarität von Fremdem und Eigenem (2) und der Integration des Fremden im Eigenem (3) gewidmet sind. (In einem größeren Zusammenhang habe ich diese Fragen behandelt in meinem Buch Die kulturelle Existenz der Menschen. Berlin 1997.)

1. Kulturelle und persönliche Identität

These 1:

Unsere kulturelle oder individuelle Identität wurzelt in einem geordneten Gefüge von Ausdrucks- und Wahrnehmungs–, von Denk- und Handlungsformen, von Formen des Fühlens und Wollens, die uns als Muster in unserem Leben eine Orientierung bieten. Unsere Identität gewinnen wir dadurch, dass dieses Gefüge tatsächlich unser Leben prägt, dass wir mit ihm sozusagen verwachsen und es als unsere eigene Lebensform verinnerlicht haben.

These 2:

Ohne eine Identität in diesem Sinne der verinnerlichten Orientierungsmuster wären wir unfähig zu existieren. Identität ist daher nicht etwas, das man sich zulegen und auch wieder ablegen kann. Identität ist die Form unseres Selbst, ohne die wir überhaupt kein Selbst wären.

These 3:

Wir gewinnen unsere Identität, d. h. wir werden wir selbst, nur dadurch, dass wir unsere Ausdrucks- und Wahrnehmungs–, unsere Denk- und Handlungsformen, die Formen unseres Fühlens und Wollens durch die Symbole unserer kulturellen Umwelten ausbilden und zugleich damit zu Symbolen unseres eigenen Lebens verdichten und befestigen. Jede geistige Formbildung ist eine Symbolisierung. Formen des Ausdruckslebens und der Wahrnehmung, Formen der Bewusstseinsereignisse und der geistigen Vollzüge gibt es nur als Vergegenwärtigungen, als Repräsentationen von Prozessen, die sonst nur abliefen, auftauchten und wieder verschwänden, die möglicherweise sogar Spuren in uns hinterließen, aber keine Erinnerungen. Das bloße Auftauchen und Verschwinden eines Eindrucks oder einer Vorstellung, das bloße Passieren oder Geschehen, verbliebe in einem unfassbarem Strom, dessen fließende Formen im Wechselspiel ihres Entstehens und Vergehens immer schon vorbei wären. Wir könnten sie nie als diese oder jene erfassen. Wir könnten sie nicht identifizieren, weil wir sie uns nicht repräsentieren, vergegenwärtigen könnten. Vergegenwärtigen können wir sie nur, wenn wir ihnen einen Halt und Stand geben, wenn wir sie in einer Form fixieren, in der sie repräsentiert sind – und d. h., wenn wir sie symbolisieren. Ein Symbol ist eine fixierte Repräsentation. Selbst unsere flüchtigsten Regungen und Empfindungen werden für uns als diese Regungen und Empfindungen nur erfassbar, gewinnen für uns eine Identität als diese Regungen und Empfindungen nur, wenn sie in irgendeiner Weise symbolisiert, durch Repräsentationen fixiert sind. Ohne diese elementare Identität unseres Ausdrucks–, Wahrnehmungs- und Gefühlslebens ist keine Identität unserer Person, unseres Denkens und Wollens möglich. Dass dann auch keine kulturelle Identität entstehen kann, versteht sich von selbst. Denn kulturelle Identität hat nur eine symbolische Existenz.

These 4:

Die symbolische Fixierung unseres Ausdrucks–, Wahrnehmungs- und Bewusstseinslebens schafft die Möglichkeit, ein geistiges und kulturelles Leben zu entwickeln. Oder anders gesagt: Die symbolische Befestigung der fließenden Gefühls- und Bewusstseinswelten schafft Konturen, gibt uns eine geistige Gestalt, mit der wir uns in der Welt präsentieren und uns zu einem Selbst gestalten können. Die expressiven, affektiven und emotionalen Grundlagen unserer Existenz sind gleichsam die strömenden Energien unserer geistigen Existenz, die in den Symbolen einer Kultur ihre Form finden und dadurch zu den Motiven und Impulsen unseres Denkens, Fühlens und Wollens werden können. Unsere geistige Formung ist eine individuelle Formung in einer Welt von kulturellen Formen, in einer Welt von ineinander verschränkten Formwelten, von Bild- und Sprach–, von Handlungs- und Wahrnehmungs–, von Ausdrucks- und Hörwelten sowie von allen anderen Welten, in denen Formen des Lebens sich in Symbolen befestigt haben. Die symbolischen Welten sind die Atmosphäre, in der wir als geistige Wesen atmen, bilden ein Gestaltungspotential, das in die Poren unseres Denkens, Fühlens und Wollens, unseres Wahrnehmungs- und Ausdruckslebens eindringt und es mitformt. Wir sind durch und durch Kulturwesen. Unser Kultur ist nicht nur die Außenwelt der Werke, die in der Geschichte der Arbeit der symbolischen – und technischen – Gestaltung geschaffen worden sind. Unsere Kultur existiert auch als die Innenwelt unserer innersten Gedanken und Gefühle, unserer unmittelbarsten Wahrnehmungen und Ausdrucksgebärden. Gerade in unserer Individualität sind wir Kulturwesen. Und unsere Kultur ist nicht nur eine Werkewelt, sondern auch eine Gefühls- und Gedankenwelt, eine Ausdrucks- und Wahrnehmungswelt. Und unsere Individualität ist immer eine kulturelle Individualität.

These 5:

Unsere persönliche und unsere kulturelle Identität sind nicht zu trennen, aber sie sind nicht dasselbe. Durchtränkt von und verwurzelt in den kulturellen Symbolwelten, wird uns die Arbeit an der Selbstgestaltung nicht erspart. Wir können nicht einfach das Überkommene übernehmen. Täten wir das, es verwandelte sich aus einem kulturellen Werk in ein persönliches Klischee, bliebe allgemein und wäre kein Schritt auf dem Wege zu unserer eigenen Individualität, zu unserem persönlichen Selbst. Gestaltung ist nur möglich als Umgestaltung. Die Arbeit der Individuation verbleibt uns als Aufgabe auch dort, wo die kulturellen Werke unserer symbolischen Welten schon Werke vergangener Individuationen sind.

These 6:

Wir sind nie nur wir selbst als in sich abgeschlossene Individuen. Wir sind immer auch das, was die anderen sind, die in unserer Kultur leben. Das macht den Austausch und den Umgang mit diesen anderen in derselben Kultur leichter. Auch wenn wir uns nicht verstehen, miteinander streiten oder gegeneinander kämpfen, verbleiben wir im Umkreis gemeinsamer Symbole und Orientierungen. Wir verlieren dann nicht die eigene Orientierung. Wir mögen Gegner sein. Aber wir sind uns in einem elementaren Sinne vertraut. Wir erkennen die Richtung unserer Gefühle und Äußerungen, auch wenn sie sich gegeneinander wenden. Dies ist anders in unserem Verhältnis zu den kulturell Anderen, zu den anderen, die in einer anderen Kultur leben. Sie sind uns in einem elementaren Sinne fremd.

2. Das Fremde und das Eigene

These 7:

Fremd erscheint uns jemand, wenn die elementare Gemeinsamkeit fehlt, die durch eine gemeinsame Kultur geschaffen und erhalten wird. Das beginnt bei der anderen Kleidung, dem anderen Aussehen, der anderen Mimik und der anderen Gebärdensprache, den anderen Bräuchen und der anderen Ausdrucksweise und endet bei der anderen Weise zu denken, zu fühlen, zu wollen. Dabei geht es meist nicht um das völlige Unverständnis. Wir mögen die Gebärde, die uns herbeiruft oder fernhält, durchaus verstehen. Aber was wir dann gleichwohl nicht verstehen, ist, ›wie sie gemeint ist‹: freundlich oder ärgerlich, heftig oder begütigend. Nicht völliges Unverständnis, sondern ein teilweises Missverständnis charakterisiert unser Verhältnis zum Fremden.

These 8:

Die Mischung von Verständnis und Unverständnis lässt im Fremden sozusagen zwei Individuen hervortreten: das kulturelle Individuum und das persönliche Individuum. Das kulturelle Individuum ist das Mitglied einer anderen symbolischen Welt und uns fremd, das persönliche Individuum kann uns dagegen trotz seiner Fremdheit verständlich werden. Die Begegnung mit dem kulturell fremden und persönlich verständlichen Individuum mag uns sogar einen Weg ebnen zu einem wenigstens teilweisen Verständnis der anderen kulturellen Welt. Allerdings gibt es ebenso häufig auch den anderen Fall, dass die kulturelle Fremdheit das persönliche Verstehen erschwert oder sogar verhindert. Jedenfalls ist es das kulturelle Individuum, das wir als erstes wahrnehmen. Die Wahrnehmung des kulturellen Individuums steckt am Anfang den Rahmen ab, innerhalb dessen wir überhaupt einen Austausch oder einen Umgang beginnen können.

These 9:

Auch wir selbst nehmen uns zunächst mit den Augen der anderen wahr. In diesen anderen Augen sind wir ebenfalls vor allem ein kulturelles Individuum. Was wir als persönliches Individuum sind, müssen wir erst zeigen – und zwar in Abweichungen von den kulturellen Mustern der individuellen Repräsentation. Diese Abweichungen können als Variationen oder als Oppositionen auftreten. Die Terminologie der Linguisten gibt uns hier theoretisches Rüstzeug an die Hand.

These 10:

Als kulturelle Individuen besitzen wir eine kulturelle Identität. Diese tendiert in ihrer Struktur zur Verfestigung und Selbstbestätigung. Für unser Ausdrucksleben hält sie Formeln bereit. Für unsere Wahrnehmungen bietet sie uns paradigmatische und stereotype Bilder. Für unser Fühlen werden in ihr Geschichten tradiert, deren kanonisierte Dramatik die Dynamik unserer Gefühle formt. Für unser Denken und Wollen enthält sie ein Gefüge von Ideen, deren allgegenwärtige Präsenz und Präsentation die kollektiven Selbstverständlichkeiten erzeugt. Für unser Verhalten kontrolliert sie Kodizes, die uns berechenbar machen. Die kulturelle Identität gewährt uns Entlastung in der Orientierungsformel und kann uns zugleich in eine erstarrte Gedankenlosigkeit führen, in der wir eine persönliche Identität nur noch präsentieren, ohne sie errungen zu haben.

These 11:

Die Erstarrungstendenzen, die einer jeden Kultur zunächst einmal immanent sind, lassen sich von innen und von außen aufhalten. Von innen ist es das persönliche Individuum, das nur in Abweichung – in einer »kohärenten Deformation« (wie Maurice Merleau-Ponty sagt) – die kollektive Gedankenlosigkeit und allgemeine Verfestigung der kanonisierten Formen und Kodizes durchbrechen kann. Der Existenzialismus setzt auf diesen Weg. Von außen ist es die Öffnung für andere Kulturen – der Austausch und die Auseinandersetzung mit ihnen –, der die alten Selbstverständlichkeiten auflöst, auch wenn dann wieder neue Selbstverständlichkeiten geschaffen werden mögen.

These 12:

Eine Kultur ist zumeist kein homogenes Gebilde. Sie erfasst unterschiedliche Gruppen einer Gesellschaft unterschiedlich. Sie verbindet daher nicht nur, sie trennt auch. Für ihre Verbindungen und Trennungen hat sie allerdings selbst zumeist wieder Muster des Umgangs damit, so dass Verbindungen nicht Verschmelzungen sind und Trennungen nicht Sprengungen des kulturellen Zusammenhalts. Eine Kultur ist in sich so lebendig wie die Spannungen, die sie zwischen ihren verschiedenen Momenten und Impulsen aufrechterhalten und aushalten kann. Nicht die Homogenisierung wäre das Ziel einer auf diese Weise lebendigen Kultur, sondern die »Harmonisierung« im Sinne Heraklits, wenn er die »gegenspännige Verbindung wie bei Bogen und Leier« (Fragment 51) als Beispiel für eine »nichtoffensichtliche Harmonie« anführt, die »stärker ist als offensichtliche« (Fragment 54). Es wäre dies die Integration der Abweichungen, die Vereinigung der Individualitäten, die zugleich die Individualitäten bestärkt und die Abweichungen ernst nehmen kann. Für die Lebendigkeit einer Kultur sind die persönlichen Individuen wichtig, aber auch die anderen Impulse und Momente anderer Kulturen oder Teilkulturen.

3. Das Fremde im Eigenen

These 13:

Sich einer anderen Kultur gegenüber zu öffnen, bedeutet – und verlangt – nicht, die eigene Kultur aufzugeben. Kulturen sind, wie man im Anschluss an Max Weber sagen kann, »historische Individuen« (Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 31968, S.178.). Sie wachsen aus vielen Elementen zusammen, bilden aber eine organische Einheit, in der die verschiedenen Elemente durch ihr Wirken miteinander verschränkt sind. In jedem Teil, so kann man sagen, ist über diese Wirkverhältnisse das Ganze dieser Einheit präsent. Daher kann man keinen Teil wegnehmen oder hinzufügen, ohne diese Einheit zu verändern. Zugleich ist diese Einheit aber auch eine dynamische Einheit, die sich selbst in den Prozessen ihrer Realisierung – wie die Sprache im Reden und Schreiben, die Kunst in der Schaffung und Erfassung von Kunstwerken usw. – ständig entwickelt. Und schließlich ist zu sehen, dass diese Einheit in ihrer Dynamik auf Fixierung aus ist, dass es eine Dynamik ist, die die jeweilige kulturelle ›Realität‹ – mit ihren Formeln und Kodizes – erzeugt: in immer neuen ›Definitionsversuchen‹ ihrer eigenen Identität. Ein historisches Individuum kann sich einem anderen Individuum nur öffnen, wenn es seine Individualität bewahrt. Nicht dadurch werden wir anderen verständlich, dass wir im unbestimmten Allgemeinen bleiben, sondern alleine dadurch, dass wir uns – und d. h. unsere Äußerungen – zu einer bestimmten Besonderheit bringen, in eine individuelle Form, die nicht bloß der Fall einer allgemeinen Formel ist.

These 14:

Wie die Entwicklung der Sprache in ihrem Gebrauch, so vollzieht sich die Entwicklung einer Kultur in ihrer individuellen Aneignung und Nutzung, vor allem dann, wenn diese Aneignung und Nutzung nicht nur die Wiederholung von Formen und Formeln, sondern ein Akt der schöpferischen Gestaltung ist. Die Kultur lebt in den Äußerungen und Handlungen der Individuen, die ihr angehören. Und in diesen Äußerungen und Handlungen muss auch die Öffnung gegenüber einer anderen Kultur geschehen, wenn sie denn überhaupt geschehen soll. Diese Öffnung ist selbst Teil eines Individuationsprozesses, in dem die Individuen ihre geistige Individualität gewinnen. In diesem Prozess werden die Elemente der fremden Kultur zu Momenten und Impulsen der eigenen Individuation – und nur wenn sie das werden, können sie in die Geschichte einer anderen Kultur, eines anderen historischen Individuums hineinwachsen.

These 15:

Die Aufnahme fremder Kulturelemente in die eigene Kultur ist daher nicht die bloße Übernahme dieser Elemente, so wie sie sich in dieser fremden Kultur ausgebildet haben. Sie ist die Integration eines Fremden durch dessen Umwandlung zu einem Impuls im Eigenen. Und nur in dieser Umwandlung können das Fremde im Eigenen und das Eigene mit dem Fremden lebendig bleiben. Aneignung heißt hier schöpferische Verformung, heißt produktives Missverständnis und darf nichts anderes heißen. Die Integration in die anderen Kontexte einer anderen Kultur ist noch sensibler als die Transplantation eines Organs in einen anderen Körper. Denn das Organ bleibt in seiner physischen und funktionellen Identität erhalten. Das kulturelle Moment aber kann in den neuen Kontexten neue Funktionen übernehmen und – z. B. durch die Umgewichtung seiner Bedeutungsakzente – eine andere Struktur gewinnen.

These 16:

Die Integration des Fremden im Eigenen ist nicht mehr nur eine Frage der Lebendigkeit, sondern sie ist inzwischen auch eine Frage des Überlebens, und zwar einer jeden Kultur, geworden. Denn das internationale Geflecht politischer, rechtlicher, kommerzieller, militärischer, technischer, wissenschaftlicher und anderer Beziehungen setzt immer mehr und inzwischen fast alle Kulturen einander aus – und dies nicht nur in einem Wettstreit der Ideen und Werke, sondern auch in einem Kampf um Einflusssphären und Märkte. Wo dieser Kampf verloren zu gehen droht, scheint nur das ureigenste Moment der kollektiven Identität, die eigene Kultur, noch Rückhalt und Macht zu versprechen. Aus dem Kampf um Macht und Märkte kann dann in der Tat ein Kampf der Kulturen werden. Aber auch die andere Möglichkeit zeigt sich: die Einebnung der Kulturen unter der Dominanz einer minimalisierten Kultur mit maximaler Verbreitungsmöglichkeit oder auch das direkte Versinken in eine allgemeine Kulturlosigkeit. Mir scheint es kein abwegiger Gedanke zu sein, dass die Weltgesellschaft in einem immer stärkeren Maße das tun muss und auch tun wird, was innerhalb einzelner größerer Gesellschaften und in der Beziehung kleinerer zu größeren Gesellschaften schon immer getan wurde: Elemente fremder Kulturen in die eigene Kultur aufnehmen, ohne dadurch die Individualität dieser historischen Individuen zu zerstören.

Ich habe meine Bemerkungen damit begonnen, über kulturelle und nationale Identität auf der einen, über persönliche und individuelle Identität auf der anderen Seite zu reden. In meinen Thesen habe ich von nationaler Identität nicht mehr gesprochen. Gleichwohl bieten die Thesen einige Gründe an, auch die nationale Identität in einer Weise zu verstehen, die die Integration des Fremden im Eigenen nicht ausschließt. Denn auch hier kommt es darauf an, dass die nationale Einheit nicht zur Präsentation von Emblemen und Parolen und womöglich von Uniformen und Waffen erstarrt und darin verkommt. Das ist aber nur dann möglich, wenn die Nation sich nicht nur – und jedenfalls nicht aus ihrem obersten Prinzip bzw. ihrer bestimmenden Idee – aus einer territorialen oder biologischen Einheit definiert. Auch sie muss sich geistig und kulturell verstehen, wenn sie eine überindividuelle Einheit sein will, die das Leben in ihrem Rahmen oder unter ihrem Anspruch lebendig, nämlich verstehend und tätig gestaltend, hält und macht.

Der Begriff der Nation ist ein heikler Begriff. Er ist in der Geschichte immer wieder zu einem Begriff der Machtdarstellung und Kampfbereitschaft, vor allem aber zu einem Begriff gemacht worden, der das Fremde abwehrt, bekämpft und vernichtet. Mit einem solchen Begriff der Nation würde man womöglich eine nationale Identität erreichen, die kulturelle Identität aber als eine lebendige Einheit vernichten. Gerade in Deutschland gibt es hier eine wechselvolle und im letzten Jahrhundert eine im wahren Sinne des Wortes mörderische Geschichte. Wo im 19. Jahrhundert die Berufung auf die Nation die Willkürherrschaft der Kleinstaaterei überwinden sollte, hat sich im 20. Jahrhundert die Berufung auf dieselbe Nation mit Großmannssucht und dann mit einem staatlich geschürten Hass auf das Fremde vermischt. Wir haben es heute mit den Scherben aus beiden Traditionen zu tun.

Ernst Cassirer, der in seiner Philosophie die Vielfalt der symbolischen Formen hervorhebt und für den eine kulturelle Einheit immer nur als eine offene Einheit gegenüber anderen Kulturen und symbolischen Welten existieren kann, hat 1916 gegen die Angriffe Bruno Bauchs auf jüdische Philosophen für die Kant-Studien einen Aufsatz Zum Begriff der Nation geschrieben, der im Begriff der Nation und des Volkes die entscheidende geistige Perspektive ausmacht, in der sich diese Angriffe ergeben konnten. Er spricht dort von der »Grenze«, die »zwischen dem echten geistigen Selbstbewusstsein eines Volkes und zwischen dem, was an seiner Selbstschätzung zufällig und willkürlich bleibt«, liegt. Und er fügt hinzu: »Dieser Unterschied wird verwischt, wenn man den echten Begriff des Volkes nicht in seiner ideellen Aufgabe und Leistung sucht, sondern ihn schon in der Bluts- und Rassengemeinschaft erfüllt sieht. Die Sonne der Rassengemeinschaft leuchtet über Weisen und Toren, über Gerechte und Ungerechte. Eine Norm aber gewinnen wir erst, wenn wir das, was die einzelnen Völker in ihrer Geschichte für sich erstrebt, was sie als Gebot und Forderung vor sich hingestellt haben, vergleichen und wenn wir das Maß der tatsächlichen Erfüllung dieser Forderung abschätzen. Auf solchen Momenten beruht die ideale Continuität und der ideale Zusammenhang jeder nationalen Geschichte.« Der Aufsatz wurde damals übrigens nicht zum Druck angenommen. Er ist erst 1991 im Bulletin des Leo Baeck Instituts veröffentlicht worden.

Und gerade dieses Faktum zeigt noch etwas. Ohne die Achtung von Grundrechten und einer darauf aufgebauten Rechtsgemeinschaft haben auch weiterführende oder visionäre Gedanken keine Chance, zur allgemeinen Kultur einer Gesellschaft zu gehören. Eine kulturelle Identität im Sinne einer geistig lebendigen Einheit kann sich nur entwickeln, wo eine Rechtsgemeinschaft ihr den Raum für diese Entwicklung freihält. Recht und Kultur sind nicht zu trennen. Und auch hier mag – aus seinem Aufsatz Vom Wesen und Werden des Naturrechts – ein Zitat des Kulturphilosophen Ernst Cassirers angeführt werden: »[D]as Neue, das Eigentümliche des Menschen besteht darin, dass er diesem Leben eine feste und dauernde Form gibt, dass es in der Idee des Rechts, als einer bindenden und verpflichtenden Norm, sich selbst objektiv und sich selbst bewusst macht.« (Zeitschrift für Rechtsphilosophie in Lehre und Praxis. Leipzig 1932, Band 6, S. 22) Und weiter: »Die Fähigkeit, sich zum reinen Gedanken des Rechts und der rechtlichen Verbindlichkeit zu erheben, und die Fähigkeit, eine einmal eingegangene Verpflichtung um jeden Preis innezuhalten, bildet also den eigentlichen Ursprung und das Fundament jeder spezifisch-menschlichen Gemeinschaft.« (Ebd., S. 23) Diese Worte sind 1932 geschrieben worden. Sie gelten heute nicht weniger – und nicht weniger dringlich – als damals.