Reflexion über Gewalt, Herrschaft, Macht
Zettel 3850-3880 und 3569-3577
übersetzt und kommentiert von Fotis Dimitriou

Kondylis hat, während er Material für die Sozialontologie Band eins sammelte, zugleich auch eine Zettelsammlung für die Bände zwei und drei begonnen. Die Sammlung umfasst insgesamt etwa 4000 Zettel, die gruppiert und geordnet, aber so fragmentarisch sind, dass sie keinen Aufschluss über die Konzeption der beiden geplanten Bände geben können. Es sind einzelne Reflexionen festgehalten, die als fester gedanklicher Grund gelten können, denn anders als bei anderen Begriffen stellt der Verfasser keine Fragen, deren Beantwortung noch aussteht. Diese Reflexionen bilden einen Teil für sich. Außerdem gibt es zusammenhängende Notizen, die auf die Auseinandersetzung mit anderen Autoren bezogen sind. Dabei geht es um die Überprüfung der eigenen Thesen, ihre Komplettierung und Schwächen der Abstraktionen des Beobachteten bei anderen und deren Argumentationsfehler. Besonders intensiv ist die Auseinandersetzung mit Nietzsche beim Themenbereich ›Macht‹.

Die hier ausgewählten Notizen gruppieren sich um die Begriffe ›Gewalt‹, ›Herrschaft‹, ›Macht‹. Mit ihnen sind beobachtete und abstrahierte Phänomene ›auf den Begriff gebracht‹. Es wird ihr innerer Zusammenhang, was sie trennt und verbindet, ihre Interaktion untersucht. So, wenn Gewalt als Mittel zur Erlangung von Macht beschrieben wird. Gewalt bzw. Gewaltandrohung bleiben für Herrschaft notwendig, damit Gesellschaft funktionieren kann. Wenn es als Ziel der Macht gesehen wird, sich zur Herrschaft zu verdichten und Herrschaft einen Rahmen bildet, in dem Macht sich entfalten kann, wenn als Zweck der Gesellschaft die Selbsterhaltung festgestellt wird, dann wird die Anthropologie erkennbar, die den begrifflichen Abgrenzungen und Klärungen zugrunde liegt bzw. die sich aus den Abstraktionen des Beobachteten herausbildet.

Kondylis bezieht dabei auch Ergebnisse der ethnologischen Feldforschung bei archaischen Gemeinschaften ein, wo er bestimme Phänomene besonders deutlich, gleichsam in ›Reinform‹ zu erkennen meint. Nicht zuletzt erinnert diese Vorgehensweise an Clausewitz, der den ›reinen‹ Krieg bei den einfachsten menschlichen Gemeinschaften gegeben sah, nämlich als spontanen, friktionslosen, also ununterbrochenen Kampf zwischen feindlichen Gruppen und Mann gegen Mann. Die Vorgehensweise auf dem Weg von der beobachteten Wirklichkeit zur Theorie bei Clausewitz hielt Kondylis für genial; Clausewitz nahm sie nicht nur praktisch in seiner Abhandlung Vom Kriege vor, sondern beschrieb sie auch theoretisch. Diese Darstellung beschreibt Kondylis in Theorie des Krieges im Kapitel über Clausewitz so, dass sie auch als seine eigene Verfahrensweise verstanden wird. Konstantin Verykios hat die für Kondylis vorbildliche Beschreibung der Theoriebildung in Von der Wirklichkeit zur Theorie bei Kondylis dargelegt.

(3850) Gewalt ist das Mittel, Macht ist der Zweck; wer Gewalt nicht als Mittel zur Macht einsetzt, ist politisch belanglos (so z.B. ein Verbrecher)

(3851) Autorität: Gehört zur Herrschaft, bildet das, was an der Herrschaft Macht ist. Die Autorität gehört wesensgemäß zur Macht, nicht zur Herrschaft

(3852) Macht = die Fähigkeit eines individuellen oder kollektiven Subjekts, das eigene Selbstverständnis als objektiv wahre Schilderung durchzusetzen. (So wird Einfluss gewonnen usw., vorausgesetzt im Selbstverständnis ist der Anspruch enthalten.)

(3853) In der Herrschaft ist zu unterscheiden zwischen Führer von Menschen und Besitzer des Landes.

(3854) Die Gewalt ist notwendig für die Funktion der Gesellschaft, aber diese Funktion ist bei ständiger Gewaltausübung schwach. Diese grundlegende Doppelnatur in der sozialen Anwesenheit der Gewalt bestimmt den Charakter der Herrschaft, bei der die Gewalt monopolisiert und beschränkt wird. Auf der Ebene der Macht kann die Einschränkung der Gewalt bis zur ideologischen Ächtung reichen.

(3855) Herrschaft
Dem Befehl wird gehorcht, weil der Gehorsame sich von vornherein verpflichtet fühlt, zu gehorchen (Leviathan, XXVI) (3856) In jeder Herrschaftsform muss das Dass vom Was des gesetzten Rechts unterschieden werden. Das Dass (also die Existenz des gesetzten Rechts überhaupt) bezieht sich auf einige formale Konstanten menschlicher Natur, das Was (also der konkrete Inhalt des gesetzten Rechtes, so wie es der Herrscher bestimmt) ist unendlich plastisch, weil dies auch die menschliche Natur ist: ihre Konstanten haben formal genau die Bedeutung, sich mit den verschiedensten Inhalten vereinigen zu können.

(3857) Die Beweglichkeit der sozialen Systeme lässt sich durch den Unterschied zwischen Macht und Herrschaft erklären, die die Existenz einiger verschiedener Machtpole erlaubt, die sich gegenseitig bekämpfen und den sozialen Körper in dauernder Spannung halten, teils mehr und teils weniger.

(3858) Die Herrschaft verbindet sich, wenigstens wenn ihre Form ziemlich dauert, mit bestimmten äußerlichen Symbolen und Emblemen. Die Macht ist sehr persönlich und hat viele Gesichter, weil jeder Macht hervorbringen und bewahren kann, während er seine eigenen Symbole und Embleme ausarbeitet.

(3859) Die Autorität passt sich sowohl der Macht als auch der Herrschaft an. Doch Autorität, die sich mit Macht verbindet, unterscheidet sich von der, die sich mit Herrschaft verbindet; die, die sich mit Macht verbindet, ist also umfassender und unbestimmter, weniger verbunden mit sichtbaren Symbolen und Emblemen, unabhängig von ihren Trägern.

(3860) Jede Macht versucht sich zur Herrschaft zu verdichten, also sich vom allgemeinen Einfluss des Verhaltens der anderen hin zu verbindlichem Einfluss zu wandeln. Aber es ist nicht möglich, dass alle vorgestellten Macht- bzw. Herrschaftsansprüche dies erreichen, sondern nur einer von ihnen. Doch dieser Erfolg hat einen Gegenwert: der verbindliche Einfluss auf das Verhalten betrifft nur einen Teil von ihm, die anderen Teile bleiben außerhalb. Es ist auch noch kein Herrschaftssystem erfunden worden, das alle möglichen Machtaspekte in einer Gesellschaft umfasst.

(3861) Die Tatsache, dass allgemeine Zwecke der Gemeinschaft – wie die Selbsterhaltung – sich in allgemeinen Prinzipien ausdrücken, vor denen alle ihre Mitglieder von Beginn an gleich sind, gibt den untergeordneten Mitgliedern die Möglichkeit ihre Interessen zu vertreten, indem sie die oben genannten Prinzipien in ihrem Nennwert einfordern (während die übergeordneten Mitglieder eine Teildeutung einfordern.)

(3862) Die gemeinsamen Zwecke der Gemeinschaft oder vielmehr die Tatsache, dass die Gemeinschaft gemeinsame Zwecke hat, erlaubt es, in ihrem Namen, und nur in ihrem, besondere Machtansprüche aufzustellen; diese Tatsache wird geprägt durch jene allgemeinen Prinzipien, die für alle Mitglieder der Gemeinschaft gelten und denen gegenüber alle Mitglieder gleich sind: Das Prinzip des Rechtsstreits, des gemeinsamen Interesses usw. Die Unterscheidung der Mitglieder der Gemeinschaft drückt sich wieder in der Interpretation der allgemeinen Prinzipien aus.

(3863) In primitiven Stämmen: die Tugend, die Ehre und der Ruhm als Gegenstände des Widerstreits, als Zeichen von Macht, die die entsprechende Macht anderer Personen überschattet. Es soll die frühreife Unterscheidung Herrschaft-Macht in der Form der Trennung des Hegemon vom Priester oder vom ›Weisen‹ untersucht werden.

(3864) In primitiven Gesellschaften bezwecken Riten den Erwerb der Macht über die Natur, also den Erwerb der Möglichkeit von Einfluss des physischen oder biologischen Zyklus. Noch ist diese Macht (die Einbildung bleibt, aber mit handfesten sozialen und psychologischen Folgen) keine Herrschaft, also die Möglichkeit der direkten Anpassung der Natur an die Befehle der Menschen. Der Übergang von der (eingebildeten) Macht über die Natur in Herrschaft über die Natur wird gerade in der Neuzeit vollendet.

(3865) Der Versuch zur Beherrschung der Natur, als des ersten kollektiven Feindes, ist ein kollektiver Machtanspruch. Im Rahmen des kollektiven Machtanspruchs erscheint ein besonderer Machtanspruch in der Form eines Anspruchs einer Gruppe oder eines Individuums, die in der Lage sind, besser als jeder andere dem kollektiven Machtanspruch zu dienen: das Priestertum sagt z.B., dass es die Natur zugunsten der ganzen Gemeinschaft versöhnt – und so erwirbt es Macht über die Gemeinschaft – Macht, die sich in Herrschaft verwandeln kann. Auf die gleiche Weise wandelt sich auch auf anderen Ebenen der Anspruch, einem kollektiven Macht- oder Herrschaftsanspruch zu dienen, in den besonderen Anspruch dieser Art (z.B. wer besser der Nation oder dem Staat im Kampf mit einem anderen dient, wird auch dessen Kopf.)

(3866) Wer Herrschaft oder Macht ausübt, muss sie räumlich festlegen, ein Stück Erde abgrenzen, wo sie erscheint. Das gilt vom Palast des Königs und dem Landsitz des Reichen bis zum besonderen Büro eines Managers. Ebenso gilt das für Zeremonien und Spiel.

(3867) Herrschaft-Macht
Keine Form von Herrschaft kann das ganze Machtpotential, das in einer Gesellschaft existiert, aufsaugen und verbrauchen. Es wurde nie und es wird nie Herrschaft entwickelt, die dies erreichen könnte – obwohl jede Herrschaft es anstrebt. Aber sie kann es nicht erreichen, weil die Macht von ihrer Natur her etwas viel Umfassenderes ist als die Herrschaft.

(3868) Die Gewalt kann niemals völlig abgeschafft werden, aber andererseits kann keine Gesellschaft unter der dauernden Gewaltausübung geschaffen werden und überleben. Herrschaft ist jene Lage, die einer solchen Ausübung ein Ende setzt, ohne jedoch diese Gewalt völlig abzuschaffen: sie versucht sie zu monopolisieren und auch legitim zu machen, also in einer Art zu benutzen, die durch bestimmte Institutionen berechenbar ist: dann ist bekannt, wann jemand die Gewaltausübung zu erwarten hat (wann also dies oder jenes geschieht.)

(3869) Gewalt
Hierher gehört die Untersuchung:
a)der verschiedenen Verfügungsformen über den Körper des anderen
b)der Motive und Zwecke, die nicht eingeschränkt sein können – weder im Umfang noch in der Zeit.
c)Unterscheidung zwischen ungeregelter und institutionalisierter Gewalt. Nur die zweite ist ein Mittel der Herrschaftsausübung (diese beendet die willkürliche Gewaltausübung.)

(3870) Macht
= Macht kann auch die Gewalt bekämpfen, während es nicht notwendig ist, Herrschaft auszuüben (doch kann sie auch mit der Anpassung an Befehle enden, dann bildet sie ein Herrschaftselement, sei es institutionalisierter oder diffuser Herrschaft.)
= In den Bereich der Macht gehört die Untersuchung sowohl der umfassend-ideologischen Gebilde als auch die alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungen (Bildung von individueller und kollektiver Identität.)

(3871) Herrschaft

  • Für die Herrschaft ist die Gewalt notwendig, doch kommt Herrschaft nicht allein mit von Gewalt aus. Bzw. die Herrschaft braucht außer Gewalt auch Macht.
  • Die Herrschaft, im Gegensatz zu Gewalt und Macht, braucht Institutionen, die sie entwickelt oder vorfindet und auf die sie sich stützt.
  • Die Herrschaft zeigt die grundsätzliche Zweideutigkeit sozialen Lebens: Zwar kann sie sich von der Gewalt abkoppeln, aber sie kann auch nicht unter ständiger Gewaltausübung leben.
  • (3872) Die Gewalt kann sich nicht als nackte Gewalt zeigen – und genauso wenig kann die Herrschaft sich selbst verneinen; das Höchste, was sie machen kann, ist, die Tatsache zu verdecken oder abzustreiten, dass sie sich auf die Drohung von Gewaltausübung stützt.
    Nur die Macht kann als Verneinung von sich selbst erscheinen, als Bekenntnis zur Abschaffung der Macht usw.

    (3873) Es gibt nur eine Möglichkeit der Gewalt auszuweichen: dass Herrschaft so mächtig ist, dass niemand daran denkt, Gewalt auf eigene Rechnung anzuwenden, außerhalb jener also, die der Herrschaft zukommt. Ebenfalls kann Gewalt von der Macht verneint werden, wenn sie tatsächlich allmächtig und verinnerlicht ist.

    (3874) Für die Prediger der Gewaltlosigkeit à la Gandhi: der Verzicht auf Gewalt kann nur Erfolg haben, wenn sie von Machtdemonstration begleitet wird. Erscheinen zwei Menschen und erklären, sie würden auf Gewalt verzichten, rufen sie Gelächter hervor, wenn auf der Straße eine Million mit der gleichen Parole erscheint, ist die Sache grundlegend anders. Nur das Durcheinanderbringen von Macht und Gewalt usw. erlaubt es, dass die Prediger der Gewaltlosigkeit als Engel erscheinen usw.

    (3875) Es sollen die Kämpfe der Herrschaft notiert werden, bei denen es um Monopolisierung der Gewalt geht. Tatsächlich kann Herrschaft als eine solche Monopolisierung verstanden werden, die jedoch niemals völlig erreicht wird.

    (3876) Der äußerste Punkt der Macht ist, gegen den anderen deine persönliche Auffassung durchzusetzen. Wenn du König bist und alle glauben dir, dann bist du es tatsächlich.

    (3877) Unterschied zwischen Macht und Herrschaft: Bei der zweiten kannst du die Unterordnung unter deine Befehle beanspruchen, bei der ersten nicht – weil sie viel umfassender und deswegen auch indirekt ist. Herrschaft beinhaltet Macht, das ist aber umgekehrt nicht zwingend.

    (3878) Im Gegensatz zur Macht hat die Herrschaft das Recht, körperliche Gewalt zu gebrauchen, welche die direkteste Form von Herrschaft ist. Während jedoch die Gewalt ausgeschöpft wird, indem sie körperliche Gewalt gebraucht, ist Herrschaft etwas mehr als das: das Anfassen des anderen kann als Möglichkeit gesehen werden, aber auch als Möglichkeit direkt und konstitutiv, während umgekehrt für die Macht diese Möglichkeit nicht existiert.

    (3879) Macht, Herrschaft und Gewalt können als drei homozentrische Kreise gesehen werden, von denen Gewalt der engste ist und Macht der weiteste. Der Unterschied Macht und Gewalt ist sichtbar. Die Unterscheidung Macht und Herrschaft liegt wieder darin, dass Herrschaft immer Herrschaft über Personen ist, während Macht auch das Machtgefühl eines Einsiedlers sein kann.

    (3880) Würde der Autorität (= eine überlegene Kraft, die zum Wohle des Untergebenen oder seinem Willen gemäß ausgeübt, daher durch diese bejaht wird). Drei Arten: a) des Alters b) der Stärke c) der Weisheit
    Tönnies, Oem. u. Ges., 11

    Die Zettel (3569-3577) beziehen für die Fragestellung relevante Gedanken von Nietzsche ein, an denen Kondylis seine eigenen Reflexionen überprüft – so wie es jeder Denker machen muss und wie es Aristoteles für die Metaphysik beispielhaft begründete: »wir müssen zuerst die Ansichten der anderen Denker betrachten, damit wir, falls sie etwas nicht richtig sagen, wir nicht in denselben Ansichten befangen bleiben, und, falls eine Auffassung uns und ihnen gemeinsam ist, wir uns nicht für uns allein mit der Sache abmühen. Denn man muss zufrieden sein, wenn man einiges besser, anderes nicht schlechter darlegt.« (Met. XIII 1,1076a 15-17)

    (3569) In die Anthropologie der Macht muss auch eine Theorie über die Struktur des Willens eingefügt werden, in dem Machtstreben und Intellekt sich vereinigen. (s. Analyse über das Verhältnis ›Denken und Wollen‹ in Macht und Entscheidung.)

    (3570) Wenn wir die Umfänge finden, die sich zwischen der absolut amorphen und der institutionell kristallisierten Macht (Herrschaft) befinden, dann bewegt sich die Klassifizierung oder Kategorisierung auf einer logischen Ebene. In Wirklichkeit koexistieren diese Größen sozial mit der Herrschaft- und die Umfänge der Macht müssen thematisiert werden, weil sie direkt mit der Ausübung von Herrschaft verknüpft sind. Solche Größen sind:
    a) Erfolg
    b) Einfluss
    c) Zugang zum Machthaber

    (3571) Eine Organisation sichert die Erhaltung durch den gegenseitigen Antagonismus ihrer Teile, das jedes für sich um Wachstum kämpft. Dies erkennt man besonders in der Phase des expliziten Wachstums. Auch wenn ein Teil etwas für das Ganze beiträgt, macht es dies für sein eigenes Machtstreben. Erhaltung ist Folge von Übermächtigungs- und Steigerungsbestreben. Wenn der Antagonismus erlischt, haben wir keine mechanische Erhaltung sondern Absturz. Wenn die Erhaltung nicht Machtstreben wäre, dann hätten wir nicht einmal interne Verschiebungen noch Minderung bzw. Wachstum. Was ein Organismus nach außen anstrebt, wird vom Ausgang der inneren Auseinandersetzung bestimmt. Das, was letztlich erhalten bleibt, ist nicht der Organismus als starres Subjekt, sondern das Kampfgeschehen, das ihn schafft. Sich im Leben erhalten bedeutet sich »im Willen zur Macht, zum Wachstum der Macht erhalten«, VIII 1,36,112, VII 2,121f.
    Nietzsche spricht über»Erhaltungs-Steigerungs-Bedingungen« (VIII2, 278) d.h. er identifiziert Erhaltung und Steigerung.

    (3572) Er unterscheidet richtig zwischen zwei Kategorien Lust-Unlust
    1) Unlust als Reiz zur Machtsteigerung, Unlust nach einer Vergeudung von Macht
    2) Lust als Sieg, Lust im Sinne des Einschlafens nach der Erschöpfung. (KGW VIII 3, 153)

    (3573) Nietzsche sagt, das Wollen sei ein Befehlen (KGW VIII 2, 296,123; VII 3,226). Richtiger wäre es zu sagen, das Wollen ist nicht der Wunsch nach direktem Befehlen, sondern der Wunsch, die Dinge so zu gestalten, als wären sie ausschließlich aufgrund unserer Befehle geregelt. Bzw. wenn ich will, mache ich nichts anderes, als dass ich mir eine Situation vorstelle, die gemäß meiner Befehle gestaltet ist. Bzw.: Das Wollen beinhaltet die Erwartung, dass die anderen (die sich zufällig zwischen meinen Wunsch und seine Realisierung stellen) sich so verhielten, als hätte ich ihnen befohlen.

    (3574) Die Kausalität des Handelns kann als Kraftauslösung verstanden werden (wie Nietzsche meint), weil die mangelhafte Differenzierung des Triebpotenzials beim Menschen nicht Ziele anspricht, sondern sie ist frei verfügbar und wartet auf den Auslöser (so wie das Pulver auf das Streichholz wartet).

    (3575) Für Nietzsche ist das Wollen nur eine augenblickliche und besondere Kristallisierung oder Ausdruck der »Explosion von Kraft«, wo sich »das eigentliche Geschehen alles Fühlens und Erkennens« befindet (KGW VII 2,60). Wenn es Begleiterscheinung des Ausströmens von Kraft ist (VII 1,320), dann hat die »Mächtigkeit« der Explosion und nicht die Richtung ursprüngliche Bedeutung (VII 1, 532). Wir müssen also Handlungsmotive und Richtungsmotive unterscheiden. Wenn ich etwas mache, dann zuerst nicht, um das konkrete Ziel zu erreichen, sondern um die Energie, die sich in mir versammelt hat, loszuwerden. Diese Auffassung passt zu der Theorie über den Triebüberschuss und den gegenseitigen Übergang von einem Trieb in den anderen.

    (3576) Nietzsche verbindet (fälschlich) die metaphysische Denkweise mit der statischen Selbsterhaltung, dagegen umgekehrt den dynamischen Willen zur Macht mit dem Werden. Vorausgesetzt, es gibt keine Substanz, dann gibt es auch nicht etwas Beharrendes, es existiert nur »Etwas, was an sich nach Verstärkung strebt; und das sich nur indirekt ›erhalten‹ will (es will sich überbieten.)« KGW VIII 2, 55f.

    (3577) Der Erhaltungstrieb ist für Nietzsche etwas Abgeleitetes, z.B. der Hunger als einfacher Verlustersatz existiert als Trieb zwischen anderen, nachdem schon die Arbeitsteilung innerhalb des Organismus erfolgte und nachdem der Wille zur Macht sich auf andere Weise zu befriedigen beginnt.
    KGW, VIII 3, 153, 300

    Kondylis las bei der Arbeit an der Sozialontologie u.a. auch wieder Aristoteles, er schätzte ihn wegen seiner hohen Beobachtungs- und Abstraktionsgabe. So wie er Einzelbeobachtungen zu einem zeitübergreifend gültigen Bild verband, so sollten auch die notierten Punkte sich einmal zu einem anthropologischen Modell fügen. Aristoteles findet in der Politik die charakteristischen Züge der Tyrannei bzw. Diktatur:
    »Die Erniedrigung überragender und die Beseitigung selbstbewusster Menschen; keine Tischgenossenschaften, keinerlei politische Gruppierung, keine Bildung oder anderes Derartiges zu dulden, sondern alles zu verhindern, wodurch Selbstbewusstsein und Vertrauen entstehen könnte, ferner keine Zusammenkünfte zu erlauben, die der Bildung oder der Geselligkeit dienen, vielmehr alles zu tun, dass die Menschen sich möglichst nicht näher kennenlernen; denn Bekanntschaft bewirkt, dass sie eher zueinander Zutrauen fassen; auch, dass sie sich stets in der Öffentlichkeit und vor den Türen aufhalten. So können sie ihr Tun am wenigsten verheimlichen und gewöhnen sich langsam daran, stets unterwürfig zu sein (...) Auch gehört es hierher, dafür zu sorgen, dass nichts verborgen bleibt, was ein Untertan sagt oder tut, sondern dass es Spitzel und Lauscher gibt, wo immer eine Versammlung stattfindet. Denn aus Angst vor ihnen reden die Menschen weniger frei, und wenn sie es tun, dann bleibt es weniger verborgen (...) Es ist auch typisch für einen Tyrannen, dass er keinen Gefallen finden kann an Männern, die Würde und Freiheit bewahren; denn der Tyrann beansprucht diese Qualität allein für sich. Wer aber ihm gegenüber Würde und Freiheit zeigt, der mindert den überlegenen Rang und den absoluten Anspruch der Tyrannis. Solche Leute werden von Tyrannen mit Hass verfolgt, als wollten sie ein Regime stürzen.«
    (Aristoteles, Politik VII, 1313 a 40-1314 a 10 gekürzt)