von Gunter Weißgerber

Der Leipziger ›Aufruf der Sechs‹ sagte es klar und deutlich. Es ging nicht um die Abschaffung des Sozialismus. Der Weiterführung galt die Sorge.

(Wötzel, Pommert, Mayer, Lange, Masur, Zimmermann)


Erster Stolperstein: Der Dialog über den Dritten Weg

Ob hierbei die parteilosen Leipziger Persönlichkeiten insgeheim weiter dachten, vermag ich nicht zu deuten. Auch nicht aus heutiger Perspektive. Die Unterschriften der SED-Mitglieder sind jedenfalls nur in dieser Diktion zu deuten. Erhalten durch Tapezieren und über das Trittbrett des Bremserhäuschens den Zug in Freiheit und Demokratie für die SED zu entern und am Ende im Lokführerstand die Fahrtrichtung zu bestimmen. Ein anderes Ziel stand bei jenen nicht zur Debatte. Das alles war so offensichtlich. Die Ostdeutschen fielen darauf nicht herein. Die Chance, alles abzuräumen, würde nie wieder friedlich kommen. Noch deutlicher wurde der Folgeaufruf vom 16. Oktober 1989:

Für Pommert war mit dem 9. Oktober alles erreicht, es ging nur noch um die Verbesserung des Sozialismus. Und dafür war dem SED-Mann die Straße überhaupt nicht der richtige Ort.

Im Gegensatz dazu die 30 000fach kopierten und verteilten klaren Worte Pfarrer Wonnebergers vom 9. Oktober:

Wonneberger machte Partei und Regierung (Reihenfolge sic!) für die Situation verantwortlich. Das Wort Sozialismus ist bei ihm vergeblich zu suchen. Vor der Unrechtsjustiz der DDR hätte ihm genau dies den höchststrafbewehrten Vorwurf des Hochverrats eingebracht. Im Falle des blutigen Niederschlagens des Volksaufstandes wäre dies mit hoher Wahrscheinlichkeit die Todesstrafe geworden.

Bernd-Lutz Lange ging seitens der sogenannte Leipziger Sechs das größte Risiko ein. Hätten sich die Hardliner in Ostberlin zum Niederschlagen entschlossen, er hätte sich nicht auf die sogenannten Reformer in der SED berufen können, ebenso nicht auf Masurs Weltruf, auch nicht auf das Schutzdach der Kirche wie es für Zimmermann gegolten hätte, der ohnehin wie inzwischen bekannt ist, für das MfS dabei war. Lange gehörte in der Tat zu den sehr Mutigen im Oktober 1989.

 

 

Die sich zum selbstbewussten Gang aufmachende Bevölkerung roch den Braten. Die SED wollte offensichtlich Zeit gewinnen und Dampf raus lassen.

Zeit für die Stabilisierung der bisherigen Ordnung in neuer Tapete, vielleicht sogar so viel Zeit, wie sie bis zum ersehnten Ende des unerhörten Anfalls von Milde in Moskau nötig war. Im Baltikum und in Berg-Karabach bewies doch auch Gorbatschow, dass er wie seine Vorgänger könne.

Die Zeit war für die SED und deren MfS nur über Diskussionsangebote zu gewinnen. Die Leute sollten in die Falle und der Speck darin hieß ›Dritter Weg‹. Was aber war nun dieser Dritte Weg, welche Konsistenz, welche Beschaffenheit hatte dieser Speck?

Mehr als genug zum Anbeißen, wenig genug, um schnell damit fertig zu werden. Das freiheitliche und demokratische System der Bundesrepublik auf den Füßen der sozialen Marktwirtschaft galt als die kapitalistische Variante, das Kasernensystem des Ostblocks als die sozialistische Alternative. Beides sollte nicht wünschenswert sein, was im Umkehrschluss bedeutete, der westdeutsche Kapitalismus müsse gar nicht erst probiert werden. Das was bis dato bestand, solle verändert werden. Und das Verändern sollte langwierig (bis zum Sankt Nimmerleinstag) besprochen werden. Für Ostdeutsche war das als Botschaft deutlich genug. Die SED setzte darauf, dass ihre 40järige Indoktrination die Sinne ihrer Untertanen so vernebelt hatte, dass diese plump die soziale Marktwirtschaft, die so unheimlich erfolgreicher und wohlstandsschaffender war, angsterfüllt wie den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts einschätzten.

Das ging schon im Ansatz schief. Die im Kapitalismus Ausgebeuteten wollten nicht in die von Ausbeutung freie DDR übersiedeln. Das musste gewichtige Gründe haben, zumal diese eigenartig Ausgebeuteten problemlos in die ganze Welt reisen und auswandern konnten. Diese Ausgebeuteten genossen nicht nur die Freiheiten der Menschenrechtskonvention der UN. Sie litten sogar unter einem wesentlich höherem Lebensstandard und älter als die Nichtausgebeuteten wurden sie zu allen Überfluss auch noch.

Den sogenannten Kapitalismus der Bundesrepublik bewunderten die DDR-Insassen. Den Sozialismus, im Grunde ein bis zum Erdrosseln abgeschnürter Kapitalismus, den kannten die Leute. Zu verlassen war er bis vor kurzem nur über den Freikauf aus dem Gefängnis oder durch von Todesstrafe bewehrter Flucht über die Zonengrenze. Ein Staat, der seine Bevölkerung einmauert, hat nie die Spur einer Chance im Wettbewerb mit der Freiheit.

Den ersten und letzten Versuch, dem Sozialismus ein menschliches Antlitz zu verpassen, zerpanzerten die Realsozialisten 1968 in der CSSR. Über diesen Versuch waren 1989 einundzwanzig Jahre ins Land gegangen. Einundzwanzig Jahre, in denen er keine aus Freiheit geborene Renaissance erfuhr. Ein weiteres sozialistisches Experiment hatte keinerlei Chance. Zumal dieses Experiment die weitere Staatlichkeit der DDR bedeutet hätte. Eine selbständige DDR hätte aber niemals die Hilfen bekommen, die innerstaatliche Regionen eines prosperierenden Gemeinwesens jederzeit und dauerhaft bekommen. Die DDR-Insassen wussten um ihren phänomenalen Vorteil gegenüber ihren Ostblockleidensgenossen Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn, Bulgaren, Rumänen, Albanern, Russen, Ukrainern, Georgiern usw. usf. Die alle hatten kein Westpolen, Westtschechien, Westungarn….Westrußland, Westukraine, die ihnen hätten so helfen können wie es Westdeutschland mit der ehemaligen DDR bis heute vollzog.

Der Dritte Weg wäre alles gewesen, nur definitiv kein Weg über das westdeutsche System zu einem weiteren Sozialismusversuch!

Die Gefahr, dass die Ostdeutschen beim westdeutschen System nicht nur Rast auf dem Weg zum nächsten Versuch machen, sondern den Weg nicht weitergehen würden, lag auf der Hand. Wie sagte der SED-Mann Otto Reinhold am 1. September 1989 in der Zeit auf die Frage, welche Existenzberechtigung eine marktwirtschaftlich orientierte DDR neben der Bundesrepublik haben würde: »Natürlich keine!«. Der Dritte Weg sollte ausdrücklich nicht in das freiheitlichen Systems der sozialen Marktwirtschaft Westdeutschlands führen. Unüberwindliche Hindernisse mussten bleiben bzw. geschaffen werden. Der Dritte Weg sollte nicht in die Deutsche Einheit führen und die Ostdeutschen in die nächste Sackgasse locken.

Inhaltlich war ohnehin nicht klar, was freiheitlich, demokratisch, wirtschaftlich, sozial die Theorie des Dritten Weges bedeutet hätte. Hätte es Privateigentum gegeben? Privatwirtschaft? Freizügigkeit der Menschen, Produkte und Dienstleistungen? Banken? Bereits an der Frage, inwiefern Demokratie und Volkseigentum zusammenzuhalten wären, sagten sich Fuchs und Hase ›Gute Nacht‹, weil diese Frage alternativlos das Volkseigentum als nichtverhandelbare Kondition beantwortete. Das sogenannte Volkseigentum kam aber auf verschiedensten Wegen zustande. Das meiste war vordem enteignetes, unrechtmäßiges Eigentum des Staates. Dies aufrechtzuerhalten hätte die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Kommunisten weiterhin am Leben erhalten und mit Staatsknete hätten die staatlichen Kombinate erhalten werden müssen. Konkurrenzfähig wäre diese Wirtschaft auf diese Weise niemals geworden.

Eine Deutsche Einheit hätte es nicht geben können, wenn ein größerer und leistungsfähigerer westdeutscher marktwirtschaftlicher Teil mit einem kleineren ostdeutschem staatswirtschaftlich organisiertem Teil in einem Hoheitsgebiet gemeinsam hätte liegen sollen. Der kleinere staatswirtschaftliche Teil hätte den gemeinsamen Staatshaushalt ruiniert. Oder die staatliche Konkurrenz hätte den Marktwirtschaftspartnern den Boden entzogen. Oder beides wäre eingetreten und statt der kleineren DDR wäre wenig später die große Bundesrepublik wirtschaftlich denselben Bach heruntergegangen.

In der breiten Bevölkerung, die täglich außer Weiß-, Rotkohl und Äpfeln nicht allzu viel Obst und Gemüse sah und im Betrieb ständige Ersatzteilkrisen umrahmt mit sozialistischer Litanei erlebte, verhungerte das Trojanische Pferd Dritter Weg. Nach dem Nationalsozialismus, dem realen Sozialismus und dem zerpanzerten Sozialismus mit menschlichem Antlitz in der CSSR 1968 wollten die Menschen keine weiteren Sozialismusexperimente am lebenden Bevölkerungskörper. Der Westen Deutschlands funktionierte nachweislich und war höchst attraktiv, auch war er nicht Kapitalismus pur. Die soziale Marktwirtschaft entsprach bereits dem, was viele unter einem sozialgebändigtem Kapitalismus verstanden.

Die Hürden waren für die SED hoch, was den Dritten Weg anging. Langer Atem und weitere Fallen waren nötig. Was dann auch so step by step geschah.


Zweiter Stolperstein: Die SED will die Ostberliner Großdemo okkupieren

Diese Entwicklung fürchtete die SED und suchte ihrerseits den Ausweg in der Mobilisierung der Straße – in Ostberlin. Wer die Bewegung nicht beherrscht, muss sich draufsetzen, so ähnlich lautete eine tschekistische Regel. Und wo draufsetzen, wenn nicht dort, wo die meisten DDR-Bürger mit SED-Mitgliedsbuch, mit Arbeitsplatz im Partei-, Staats- und Sicherheitsapparat, mit akuter Gefährdung ihres wohligen Lebens in der Sonne der SED-DDR lebten? Entgegen kam der SED der Antrag von Theaterfachleuten von Ostberliner Theatern auf eine Demonstration für eine demokratische DDR vom 17. Oktober 1989. Genehmigt wurde dieser Antrag am 26. Oktober sicher unter dem Eindruck der gewaltig ohne die SED anwachsenden Massendemonstrationen in der gesamten DDR. Ostberlin sozusagen als letzte Chance, Geschichte aufzuhalten.

Offizielle Veranstalter waren »die Künstler der Berliner Theater, der Verband der Bildenden Künstler, der Verband der Film- und Fernsehschaffenden und das Komitee für Unterhaltungskunst« (aus Wikipedia).

Während die landesweiten großen Demonstrationen im Stegreif von Montag zu Montag nahezu selbstorganisatorisch unter illegalen Bedingungen abliefen, wurden in Ostberlin von Antragstellung bis zur Aufführung am 4. November rund drei Wochen benötigt. Dieser Umstand und vor allem Teile des Rednerpersonals dieser Kundgebung sollten wie oben dargestellt, zu denken geben. Ob dies alles tatsächlich ohne die Krake MfS ablief? Ohnehin war der offizielle Tenor dieser Veranstaltung eher von DDR-Erhaltungswünschen geprägt, damit in krassem Gegensatz bspw. zu Leipzig zur gleichen Zeit unter illegalen Bedingungen stehend.

Der zwei Wochen später aus allen medialen Rohren gepustete Aufruf »Für unser Land« ist wohl spätestens an diesem Tag konzeptionell entstanden.


Dritter Stolperstein: Grenzfall

Um die DDR für die SED noch erhalten zu können, schien sicher ein Ausweg darin zu bestehen, wenigstens die vielen DDR-Ablehner loszuwerden um dann mit den Sozialismusverbesserern die DDR erhalten zu können. Auf jeden Fall hätte die Grenzöffnung am 9. November dieses Problem lösen können. Wäre dies Absicht gewesen, hätte dies allerdings für eine weitere krasse Fehleinschätzung der eigenen Bevölkerung gestanden. Zu diesem Zeitpunkt sahen die meisten Demonstranten die Chance, ohne Heimatverlust Freiheit und Demokratie erleben zu können. An den Wochenenden fuhren von da an die Ostdeutschen in den Westen, kamen aber auf jeden Fall zu den alles entscheidenden Demonstrationen rechtzeitig retour. Der Konsumwunsch ging eben nicht über den Wunsch nach sicherer Freiheit. Was für die SED eine weitere Enttäuschung sein musste, war für den Erfolg der Friedlichen Revolution von immenser Bedeutung. Dies wusste das Volk, zu unser aller Glück! Auf uns alle war schwer Verlass.

Ein solches Gespräch hatte ich mit Jochen Lässig zu Beginn der Veranstaltung am Reichsgericht am 18. November 1989. Er befürchtete nicht nur für diesen Samstag weniger Teilnehmer wegen des neuen Wochenendreiseverkehrs nach Westdeutschland und Westberlin, er bangte vor allem auch wegen der kommenden weiterhin wichtigen Montage. Die Situation war doch überhaupt noch nicht sicher. Wir brauchten doch die Hunderttausende weiterhin jede Woche in der ganzen DDR! Ich versuchte ihm die Zweifel zu nehmen. Für mich war es sicher, die Leute würden immer und immer wieder kommen – bis zu den ersten freien Wahlen. Zum Glück lag ich mit meiner optimistischen Einschätzung richtig. Auf die Bevölkerung war Verlass. Wir rechneten wieder Mal besser als die SED/MfS-Strategen.

Persönlich tendiere ich dazu, dass Schabowski den vor ihm liegenden Wust an Materialien in der Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 tatsächlich inhaltlich nicht mehr beherrschte und auf Nachfrage des Korrespondenten beim schnellen Querlesen der Information zum neuen Reisegesetz die Mauer faktisch zum Sturm freigab. Vielleicht ging ihm und anderen vorher auch mehrfach der Gedanke durch den Kopf ›wenn die Störenfriede doch nur alle weg wären‹. Aber das ist spekulativ. Wichtig waren allein das Resultat und das erneute Verkalkulieren hinsichtlich einer Druckentlastung für den Apparat. Reisefreiheit war wichtig, musste aber für immer gesichert sein.


Vierter Stolperstein: Aufruf für unser Land

Ostberlins Künstler- und Intellektuellenszene war seit längerem schwer in Sorge um die kleine Republik, die so ein schönes Terrain für die Verbesserung des Sozialismus abgab. Dabei gänzlich übersehend, dass diese Idee schon 1968 endgültig desavouiert und gemordet war. Auch übersehend, dass der weitere Druck des Marxschen Kapitals sinngemäß wegen fehlender Ersatzteile nicht mehr möglich war. Oder anders gesagt, die Idee hatte den materiellen Unterbau restlos aufgefressen. Die Proleten in der Provinz wussten das alles einfach besser.

Dies alles konnte so deutlich in das bemuttelte und aufgepäppelte Ostberlin auch nicht wirklich durchdringen. Trennte die Mauer Ost- von Westberlin brutal, so gab es eine zweite etwas durchlässigere Wand zwischen der Hauptstadt der DDR und dieser DDR. Mir kommt immer wieder das geflügelte Wort von Ostberliner Freunden in den Sinn, die bei Fahrten ins Umland launig von Kurzreisen in die DDR sprachen.

Nicht nur zwischen der weltweiten Reisefreiheit einer Christa Wolf und den anderen 16 Millionen NSW-Nichtreisekadern lagen Welten, auch zwischen jedem Ostberliner und jedem DDR-Betrieb, zwischen den Baukapazitäten für Ostberlin und den verfallenden Städten der Restrepublik.

Die DDR war alles, nur kein Land, für das es sich lohnte zu streiten.

 

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Am 26. November 1989 wurde der Aufruf »Für unser Land« bekannt. Am 27. November, ein Montag, war in Leipzig Demonstration angesagt und damit eine wunderbare Gelegenheit gegeben, sozusagen sofort in überregionale Kommunikation zu Frau Wolf und der sich am Aufruf mitfreuenden SED zu treten. Ich nutzte die Gelegenheit, mit dem Satz »Es gibt kein Volk der DDR« die Existenz eines solchen staatsrechtlichen Separatanspruchs abzustreiten. Der Jubel war gewaltig – auf dem Karl-Marx-Platz.

Abends in den DDR-Nachrichten wurde ein kurzer Bericht vom Leipziger Dokfilmfestival gebracht, in dem eine Ostberliner Regisseurin fassungslos von einem Sozialdemokraten sprach, für den es kein Volk der DDR zu geben schien. Das war lustig – für mich.

Jetzt lief die Kampagne auf vollen Touren. Die CDU-DDR, noch immer Blockpartei, ließ sich nicht zum letzten Male vor den Karren spannen. Lothar de Maiziere sprach einem »warmen Sozialismus« das diensteifrige Wort und er sollte noch Claqueur der antifaschistischen Plänterwaldorgie Ende Dezember werden.

Für die Blockflöten war es halt ein sehr mühsames Sich-Aufrichten in den erhobenen Gang. Das diesbezügliche Knacken in den lange verbogenen Wirbelsäulen und Gelenken würde die ostdeutschen Landtage noch auf Jahrzehnte lähmen. In die Blockparteien konnte nämlich nur eintreten, auf den die SED verzichtete oder den sie dort benötigte. Die Blockparteien mussten bei der SED-Kreisdienststelle anfragen, ob und wen sie aufnehmen durften.

 

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Leipziger Volkszeitung 1.12.1989

 

Am 4. Dezember 1989 verfasste Johannes Wenzel seinen Leipziger Aufruf, der den Gedanken einer Konföderation mit dem Ziel der staatlichen Einheit zum Inhalt hatte. Ähnlich dachten zunehmend mehr Menschen und der Zug in die Deutsche Einheit gewann an Fahrt, zum abermaligen Verdruss der SED. Denselben Wunsch rief an diesem Tag auch Elke Urban den Leipziger Montagsdemonstranten unter großem Beifall zu.
Der Aufruf Johannes Wenzels erreichte ohne die Unterstützung der SED-Medien beachtliche 16000 Unterschriften binnen weniger Tage. Mit großen Medien im Rücken wäre er zum DDR-weiten Schlager geworden.

 

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Einmal Blockflöte, immer Blockflöte? Der Leitantrag der DDR-CDU zu ihrem Parteitag stand pflichtgemäß für eine Nationale-Front-Partei deutlich gegen eine Wiedervereinigung. Kohl hatte halt noch nicht in Dresden gesprochen. Bis dahin galt eben das, was gelernt war: das Kuschen:

 

Im ursprünglichen Entwurf stand sogar noch das Ziel eines »warmen Sozialismus«. Der Chef in spe de Maiziere hatte dies noch Höchstselbst medial verkündet, was ihm »unterwegs« bis zur Endfassung des Leitantrages offensichtlich abhanden gekommen war - wie der obige Antragstext zeigt.


Fünfter Stolperstein: Die SED im SPD-Schafspelz

Die Gerüchteküche brodelte nach dem 9. Oktober 1989 gewaltig. Bezeichnete sich die SED in ihrer Binnen- und in ihrer Außenwahrnehmung seit 1948 als kommunistische Partei neuen Typus, so nahmen plötzlich Stimmen der Häutung zu. Aus der Tarnung ›Sozialistische Einheitspartei‹ wurde quasi über Nacht die Verbalinjurie ›Sozialistische Einheitspartei‹. Gerade unseren westdeutschen Brüdern und Schwestern fiel das gar nicht auf. Für die hieß das Monstrum schon immer SED und niemand im Westen erfuhr jemals körperlich, dass das ›Sozialistisch‹ nur der Fangbegriff war und die Partei selbst eine pur kommunistische blieb. Unseren Freunden fiel ja nicht einmal auf, dass Einheitspartei im Sinne Lenins als kommunistischer Partei mit innerparteilichem Fraktionierungsverbot bereits im Ansatz mit Sozialdemokratie außer dem Buchstaben ›S‹ im Wort überhaupt nichts gemeinsam hatte.

Falls die deutschen Kommunisten je irgendetwas genial drehten, dann war es der Name ›Sozialistische Einheitspartei‹, der bis 1989 nur Staffage und ab 1989 plötzlich wie ›schon immer sozialistisch, sprich sozialdemokratisch‹ beeindruckte. Ganz nach Ulbrichts Devise: »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand behalten!«

Konkret für die Bedingungen der offenen kommunistischen Diktatur zwischen 1945 und 1989 hieß das, die Partei muss sozialistisch angestrichen sein und kommunistisch herrschen. Seit dem Herbst 1989 gilt das effizient abgewandelte Prinzip, die Partei muss sozialistisch getüncht sein und kommunistisch wirken, weitere fantasievolle Etikettierungen wie SED-PDS, PDS, WASG, WASG/Linke, Die Linke sind die lebenden Beweise aus der kommunistischen Gruft!

Entlang dieser Linie hieß es dann seit dem 3. Oktober 1990 auch folgerichtig: »Montagsdemonstrationen 1991 und Kohl muss weg!« – »Komitees für Gerechtigkeit« – »Tolerierungsmodell Sachsen-Anhalt 1994« – »Erfurter Erklärung 1997« – »SPD-PDS-Koalitionen 1999 Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt« – »SPD-PDS-Koalition Berlin 2001« – »SPD-Parteitagsbeschluss 2013 Leipzig« – »SudelRotGrün 2014 Thüringen« – »Europäische Linke zur Zerstörung der EU«. Doch dies ist späteren Kapiteln dieses Buches vorbehalten.

Zurück zur Gerüchteküche um die KommSozialisten der größten DDR der Welt. Uns Neu- und Wiedergründern der Sozialdemokratie in der DDR wurde im Herbst 1989 schlagartig klar, dass da zwischen der SPD-West und der SED spätestens seit 1987 ganz offiziell was im Gange war, was der neuen freiheitlichen Sozialdemokratie der DDR schwer zu schaffen machen könnte. Da könnte etwas zusammen wachsen, was wir nie so gesehen hatten. Wir DDR-Insassen waren ja zwangsläufig keine Zeugen der Verbrüderung der Bahr-Lafontainschen SPD mit unseren Gefängnisdirektoren gewesen. Jetzt nannten diese Ganoven sich sogar »Sozialisten«!

Bisher ausschließlich »Kommunisten«, wie auch dieser Artikel mit den 10000 Kommunisten in der Überschrift beweist:

 

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Wie selbstverständlich zum SED-Drehbuch passend, gab auch IM Manfred »Ibrahim« Böhme brunnenvergiftend seinen zersetzerischen Senf hinzu. Als SDP-Hoffnungsträger äußerte der alternative Marxist (Selbstbeschreibung Böhme) am 2. November 1989 in der TAZ: »Dennoch muss gesagt werden, dass wir zum Beispiel vielen Positionen der Grünen näher stehen als etwa denen der Sozialdemokratie der 70er Jahre.« Es schien sein Versuch zu sein, der SED ihren Stammplatz an der Seite der SPD-West zu sichern und gleichzeitig den ostdeutschen Brandt- und Schmidt-Anhängern die Adresse DDR-Sozialdemokratie zu verleiden. Womit er jedoch keinerlei Chance haben sollte. Ob dies alles so geplant oder Herrn Böhmes Geisteskraft allein zuzuschreiben war, vermag ich nicht zu klären. Korrekt wahrzunehmen an dieser Stelle waren nur die zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhänge. Auch die in sportlicher Hinsicht zu zollende Achtung vor der Meisterleistung des MfS, in beinahe jeder Partei zur Volkskammerwahl 1990 eigenes Personal jeweils an der Spitze zu platzieren, fügt sich sozusagen ›harmonisch‹ in diese skurrilen Zusammenhänge ein.

Der Warnschuss war unüberhörbar und ihm musste begegnet werden. Wenn es der SED gelänge, sich von der SED-West statt unserer faktisch als natürlicher Partner anerkennen zu lassen, dann wären wir fehl am Platze und würden nichts bewirken können. Der kommende Machtblock würde SPD-BRD in Kooperation mit der SED heißen. Aus der SED würde mit Sicherheit SPD-DDR werden und die Teilung würde bleiben. Wir wären schon am Ende, ehe es für die ostdeutsche Sozialdemokratie hätte richtig anfangen können. Aus der Deutschen Einheit wäre in dem Fall auch nichts geworden. Ein furchtbarer Gedanke.

Den Wettlauf mit der SED um die Partnerschaft zur SPD-West gab es und er dauerte an bis zum 13.Januar 1990 (https://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/stichwort/sdp.htm). Auch hier gab es interessanterweise die üblichen Unterschiede zwischen Ostberlin (69 Prozent) und den Provinzen (Leipzig 97 Prozent) ansteigende Zustimmungen. So wie viele Ostberliner zu DDR-Zeiten scherzhaft auf den alliierten Besatzungsstatus abhoben und bei Fahrten innerhalb der DDR davon sprachen, »in die DDR zu fahren«, so anders nahmen sich viele Ostberliner Anwohner Westberlins privilegierter wahr. Später bemerkten wir, es gab eine ähnliche Westberliner Mentalität. Beides hing womöglich mit der jahrzehntelangen Päppelung durch die Bundesrepublik (Westberlin) und die DDR (Ostberlin) zusammen. Besonders die Ostberliner Oppositionsszene wusste sich durch die starke Anwesenheit der Westmedien in größerer Sicherheit als die kritischen Geister in der Restzone. Wie hieß es aus dem Barte des Propheten Marx ausnahmsweise mal ganz passend: »Das Sein bestimmt das Bewusstsein!« Für uns waren die Ostberliner pauschal in Gänze in jeder Hinsicht Opfer ihres besonderen Berliner Daseins. Diese wiederum sahen sich viele Jahre mit einer fünften Besatzungsmacht konfrontiert: den ulbrichtschen Sachsen.

Wichtige Daten auf dem Weg von SDP zur SPD gab es viele. In meiner Wahrnehmung war Steffen Reiches Auftritt am 18.Oktober 1989 im WDR-Brennpunkt ein gelungener Auftakt. Eloquent griff er den Machtanspruch der SED an und gab eine gute Figur sozialdemokratischen Selbstbewusstseins ab. Für einen Kaltstart schien mir das sehr gelungen.

Die teilweise beschämenden Diskussionen innerhalb der West-SPD drangen damals nicht nach draußen. Wir bekamen zu unserem Glück nicht viel davon mit. Dadurch erfuhren wir aber leider auch nichts von Norbert Gansels, Hans-Jürgen Wischnewskis, Hans-Ulrich Kloses, Klaus von Dohnanyis, Freimut Duves, Florian Gersters und Hans Büchlers Vorstößen Richtung Deutscher Einheit (siehe unbedingt Uneinig in die Einheit von Daniel Friedrich, Sturm Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH 2006).

Herausragend war Willy Brandts Jahrhundertsatz »Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört« am 10. November vor dem Schöneberger Rathaus. Auch Anke Fuchs’ öffentliche Anerkennung der SDP als der Partner der SPD gab uns viel Vertrauen für den Wettlauf mit der SED um die Partnerschaft mit der deutschen Sozialdemokratie. Wir mussten weiter drücken und der SED deren diesbezüglicher Hoffnungen aus der Zeit des »Gemeinsamen Papieres von SPD und SED« den endgültigen Garaus machen.

Den Startschuss in den neusozialistischen Olymp gab die SED in Leipzig am 13. November 1989 in der Leipziger Volkszeitung ab:

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Am 16. November setzte ein Artikel, auf den ich am 18.11. in meiner Rede am Reichsgericht einging, von Professor Arndt nahtlos an:

 

So wie wir in uns in Leipzig bei der SDP-Gründung mit dem Namen SDP schwer taten, so lief das überall in der DDR ab. Die Plauener Sozialdemokraten gründeten sich sofort unter dem gesamtdeutschen Label SPD und sie waren nicht die einzigen. Die Cottbusser nannten sich am 3.12.1989 um und auf Willy Brandts Hinweis reagierten die Rostocker Sozialdemokraten am 7.12.1989 mit sofortiger Umbenennung. Die Greifswalder zogen am 13.12.1989 gleich.

Im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung steht hierzu (https://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/stichwort/sdp.htm):

Spätestens seit Anfang Dezember 1989 wurde die Frage einer Umbenennung der SDP in SPD in der Partei und in der Öffentlichkeit virulent. Schließlich gab es keine ernsthaften Gründe für Sozialdemokraten, sich des traditionsreichen Kürzels SPD zu schämen. Darauf hatte auch Willy Brandt hingewiesen, als er am Rande einer Kundgebung in Rostock am 6. Dezember 1989 fragte: »Warum versteckt Ihr Euch eigentlich, warum nennt Ihr Euch SDP und nicht SPD?« Diese Begebenheit nahm die Rostocker SDP prompt zum Anlass, sich sofort in SPD umzubenennen. Dies war jedoch nicht nur ein von Brandt inspirierter spontaner Akt. Es spiegelt sich darin ebenfalls das innerparteiliche Erstarken des Teils der SDP-Mitgliedschaft, der nicht nur einen engeren Schulterschluss der ostdeutschen Sozialdemokraten mit der SPD wünschte, sondern dessen Blick sich zunehmend auf die deutsche Einheit richtete. In diesem Sinne hatte es seit Ende November/Anfang Dezember 1989 immer wieder Initiativen auch aus anderen Bezirken gegeben. Hinzu kam, dass in diesem Zeitraum Gerüchte im Umlauf waren, dass die im Umbruch befindliche SED vorhabe, sich in ›Sozialistische Partei Deutschlands‹ umzubenennen, um damit nicht zuletzt auch das Kürzel ›SPD‹ zu usurpieren. Auf diese Gefahr hatte die westdeutsche SPD nachdrücklich hingewiesen. Der SDP-Vorstand reagierte am 12. Dezember 1989 mit folgender Erklärung: »Der geschäftsführende Ausschuß der Sozialdemokratischen Partei in der DDR hat der Parteibasis am 7. Dezember den Vorschlag gemacht, den Namen der Sozialdemokratischen Partei in der DDR beim 1. Parteitag in SPD umzuändern.
Hintergrund war die Information über Absichten in der SED, beim Außerordentlichen Parteitag den Namen SED in ›Sozialistische Partei Deutschlands‹ (SPD) zu ändern. Das aber wäre nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD im Jahre 1946 und der folgenden Unterdrückung sozialdemokratischer Prinzipien von Politik und der Kriminalisierung von Sozialdemokraten auch noch der Diebstahl der Abkürzung des Namens der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Wenn eine Partei in der DDR das Recht hat, diese Abkürzung zu benutzen, dann diejenige, die erklärtermaßen in dieser Tradition steht.

Den Coup »aus SED werde SPD« konnten die Geisterfahrer nun nicht mehr gewinnen. Am 13. Januar wurde aus der DDR-SDP die langersehnte gesamtdeutsch fokussierte SPD. Die sogenannten SED-Reformer verfielen auf einen neuen und bis heute wirkenden Coup. Am 16. Dezember wurde aus der SED die SED-PDS, aus der wiederum am 14. Februar 1990 die PDS wetterleuchtete. Namen waren und sind für Kommunisten Schall und Rauch, die Kontinuität von Idee und Vermögen allein ist für die religiös anmutende Erlöserbewegung, die immer wieder in Lager führen wird, wichtig.

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Sechster Stolperstein: Der Lafontainsche Doppelschlag – Anstacheln des westdeutschen Egoismus in Verbindung mit Klappe zu für die Ostdeutschen

<p/b>Just am 27. November 1989 (sic!) begann Lafontaines Mobilmachung gegen jegliche Einheitsbestrebungen der Deutschen im allgemeinen und der ostdeutschen Sozialdemokraten im speziellen. Zum gleichzeitigen Bekanntmachen der »Aufrufs für unser Land« passte dies wie ein Gullydeckel auf die dazu gehörige Kloake. Ein Schelm, wer Böses dabei dachte!

Die DDR-Erhalter wollten uns ein weiteres Sozialismusexperiment aufdrängen, Lafontaine wollte die kommende Bundestagwahl ohne Zonendödels erreichen. Machbar war beides nur, wenn es in der DDR keine parlamentarischen Mehrheiten für die Einheit geben würde und die Westdeutschen stärker auf ihren Egoismus als auf ihr Zusammengehörigkeitsgefühl hören würden. Zum Glück fielen die DDR-Erneuerer und Lafontaine gleichermaßen auf die Nase. Am 18. März 1990 erreichten die DDR-Erneuer nicht die Sperrminorität in der Volkskammer und eine riesige Mehrheit der Westdeutschen ließ sich nicht vor des Saarländers egoistischen Karren spannen.

Was ließ der Mann am 27. November 1989 ins gesamtdeutsche All ab? Er stellte ausgerechnet an dem Tage die gesamtdeutsche Staatsbürgerschaft erneut infrage und wollte damit die DDR-Deutschen zu Ausländern machen, thematisierte die Sozial- und Eingliederungsleistungen für die Ostdeutschen, kritisierte das Weggehen der DDR-Bürger in die Bundesrepublik im Sinne der DDR-Aufrufer als ein im-Stich-Lassen. Kurz, er zeigte den Ostdeutschen seine verschränkten Arme und sagte ihnen damit, lasst von der Einheit lieber ab, denn wir wollen euch nicht, es macht für euch überhaupt keine Sinn, in diese Richtung zu denken!

Den nächsten Axtschlag der Lafontainisten gegen die Deutsche Einheit im Gleichklang der DDR-Aufruf-Dramaturgie (?) hielt der Berliner Programmparteitag Ende Dezember 1989 bereit. Wieder lohnt ein Blick in Uneinig in die Einheit von Daniel Friedrich Sturm. Hier der Umgang mit Ollenhauers Rede von 1959 (S.243):

Zu Beginn des Parteitages wollte Anke Fuchs den Videoausschnitt einer Rede Erich Ollenhauers auf dem Godesberger Parteitag von 1959 zeigen. Darin hieß es: »Genossinnen und Genossen, ich möchte, ehe ich zum Programm selbst komme, noch eine weitere wesentliche Feststellung treffen. Das neue Grundsatzprogramm der Sozialdemokratie ist das Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in der Bundesrepublik. Wir sind uns dieser tragischen Unzulänglichkeit bewusst, und wir möchten unseren Genossen und Freunden in die Zone die selbstverständliche und undiskutierbare Gewissheit geben, dass wir mit ihnen gemeinsam die programmatischen Grundlagen der deutschen Sozialdemokratie neu diskutieren werden, wenn die Stunde gekommen ist, in der wir alle als freie Menschen in einem freien und wiedervereinigten Deutschland die Positionen und die Aufgaben des demokratischen Sozialismus neu bestimmen können.« Dem Parteitag 1989 aber wurde dieser Redeausschnitt vorenthalten. Wieczorek-Zeul verhinderte als Tagungspräsidentin ein Abspielen der Rede Ollenhauers: »Das wird nicht gezeigt, das bedeutet dann ja, wir sind für die Wiedervereinigung. Das aber sind falsche Signale, das wollen wir nicht«, habe Wieczorek-Zeul ihr bedeutet, berichtet Fuchs. Zwar hätte sich Fuchs als ›Hausherrin‹ an diese Ansage nicht halten müssen. Fuchs und Vogel aber vermieden eine Auseinandersetzung, zumal Wieczorek-Zeul die Mehrheitsmeinung des Präsidiums verkörperte.

Und hier zu Lafontaines Rede auf dem Parteitag (S. 251-253):

Wie weit Lafontaine mit seiner Rede und seinem Denken von der Wirklichkeit des Lebens der Menschen in der DDR entfernt war, zeigte ein Radiointerview, das er am 21. Dezember im Rückblick auf den Parteitag gab. Ausgerechnet in der »Stimme der DDR« nannte er »die stärkere Betonung des Internationalismus« als wichtigste Botschaft und warnte davor, sich »allzu sehr nationalistischer Übersteigerung … hinzugeben«. Die ökologische Zerstörung nannte er die »Hauptherausforderung unserer Zeit«. Zudem schwärmte Lafontaine, im neuen Programm der SPD finde sich ein »Arbeitsbegriff, der über Marx und Hegel hinausgeht«; Mit den Menschen in der DDR ›fremdelte‹ Lafontaine. Treffend analysierte Richard Schröder später: »Merkwürdig, dass diejenigen, die sich für besonders weltoffen hielten, von dem bisschen Fremdheit der Ostdeutschen schon überfordert waren.« Brandt zeigte sich von Lafontaines Rede entsetzt. Auf der Rückfahrt von dem Parteitag, berichtet seine Frau, habe er gescherzt: »Ach was, diese Saarländer sind ja gar keine richtigen Deutschen.« Lafontaines Realitätsverweigerung wurde von Günter Grass übertroffen. Grass wandte sich in seiner Rede mit einer harten Rhetorik gegen die staatliche Einheit. Er geißelte »den rücksichtslos herbeigeredeten Einheitswillen der Deutschen« und sprach vom »Volk der DDR«. Grass erinnerte an Skandale in der Geschichte der Bundesrepublik, verwies auf die Affären um die Parteispenden des Großindustriellen Flick, die Vorgänge um die Baugesellschaft »Neue Heimat« und die Barschel-Affäre. Mit einer »Vereinigung als Einverleibung der DDR«, prognostizierte Grass, gehe Identität verloren. Und: Nach dem Bankrott des Kommunismus sei erkennbar, »dass der demokratische Sozialismus weltweit Zukunft hat«. Der Beifall zeigte, wie Grass die Stimmung unter den Delegierten getroffen hatte. Das Ausmaß der Widersprüche innerhalb der SPD zeigten drei weitere Wortmeldungen. Ganz wie Lafontaine äußerte sich einmal mehr Momper. Die SPD dürfe sich nicht an einer Wiedervereinigungskampagne beteiligen, warnte er. Diese mobilisiere allein nationalistische Gefühle, aber widme sich nicht dem, was den Menschen wichtig sei. Die deutsche Frage sei europäisch zu lösen… Kohl jedoch dominierte zum Ärger Lafontaines die Fernsehbilder am Abend und die Schlagzeilen des nächsten Tages. Das Medieninteresse an der SPD war begrenzt.
Kurzum: Der Parteitag erwies sich als Höhepunkt deutschlandpolitischer Verwirrungen. Brandt sprach euphorisch für die Einheit, Lafontaine wandte sich kämpferisch dagegen.Vogel schwieg.

Nachzutragen ist an dieser Stelle das Engagement meines Freundes Hans Büchler MdB 1972 – 1994 und deutschlandpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Er wollte dem SPD-Bundesparteitag im Gegensatz zu Lafontaine den Weg zur Einheit über den Artikel 23 des Grundgesetzes vorschlagen. Dieser Beitrag aus dem Munde des Fraktionssprechers für die Deutschlandfragen hätte diese SPD-Versammlung historisch werden lassen. Die Parteitagsregie wusste es zu verhindern. Noch im Februar 1990 machte Hans-Ulrich Klose denselben Vorschlag im Parteivorstand-West. Auch er fiel unter den entscheidenden Tisch und die SPD-Ost zog mit der Looserbotschaft GG 146 in den Volkskammerwahlkampf. Wir machten das Beste daraus und garantierten mit unseren Stimmen am 23. August 1990 den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland.

 

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Siebenter Stolperstein: Demonstrationspause über Weihnachten und Neujahr 1989/90

1989 war das erste Jahr der SED-Herrschaft, in dem diese sehnlichst auf das christliche Weihnachtsfest der Ruhe und Besinnung wartete. Endlich Ruhe vor den Demonstranten und deren unablässigem Druck auf den Partei- und Staatsapparat. Endlich eine Verschnaufpause, die zum Aufholen wie ein Geschenk des Himmels daher kam. Endlich Lufthoheit für den medialen Gegenschlag! Der mittels der Gespenster des westdeutschen Faschismus, Militarismus und Revanchismus mit dem vorläufigen Einschlafen der DDR-weiten Demonstrationen aus der Stasi-Trickkiste gezaubert wurde. Mehr dazu in der achten Falle dieser SED/MfS-Perlenkette.

Kaum installiert, versagte dann der Leipziger Runde Tisch auf ganzer Linie. Unter dem Druck des Moderators des Runden Tisches, der für den Fall der Weiterführung der Demonstrationen und der Kundgebungen seine weitere Mitwirkung aufkündigte, beschloss der Runde Tisch Leipzig am 18.12. 1989 eine zweiwöchige Weihnachtspause der Demonstrationen mit dem gleichzeitigen völligen Ende der Kundgebungen

Friedrich Magirius beklagte bereits geraume Zeit eine angebliche Radikalisierung und starke aufkommende rechte Tendenzen im Klima der wöchentlichen Demonstrationen. Besonders kritisch sah er die inzwischen obligatorischen tendenziell pro-Einheit gehenden Kundgebungen vor den Demonstrationen um den Leipziger Ring. Die Kundgebungsredner sollten das dämpfen, aber nicht noch den Drang zur Wiedervereinigung ankurbeln! Er überzeugte sogar nochmals am 2. Januar 1990 den Runden Tisch in Leipzig, auf die Kundgebungen künftig zu verzichten. Was die Demonstrationen zum Erliegen gebracht hätte. Spätestens mit diesem Beschluss stand der Runde Tisch in Leipzig im falschen Film und verlor entscheidend an Achtung.

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Sächsisches Tageblatt, 5. Januar 1990

 

Gelang die SED-Strategie mit dem Aufruf zur Besonnenheit und die Verlockungen mit den Dialogen bisher nicht, so fielen jetzt die Vertreter der Bürgerrechtsbewegung am Runden Tisch Leipzig selbst auf die SED rein. Die ab Januar 1990 wieder auflebenden Demonstrationen wären nämlich ohne die gewohnten Kundgebungen regelrecht verhungert. Die Leute wären nicht mehr gekommen, hätten keinen Druck mehr gemacht. Dabei war es doch so, dass die Demonstrationen unbedingt bis zu den Volkskammerwahlen weitergehen mussten. Erst die Wahlen würden Sicherheit über den nächsten Weg bringen. Um die Demonstrationen am Leben zu erhalten, mussten die Kundgebungen deshalb unbedingt wieder aufgenommen werden.

Am 10. Januar 1990 versuchte Magirius die Koordinatoren und ständigen Redner vom Beschluss des Runden Tisches Leipzig zu überzeugen. Natürlich völlig chancenlos! Geladen hatte er den Polizeichef, Jochen Lässig/NF, Thomas Rudolph/IFM, Gunter Weißgerber/SDP und Gudrun Neumann als Koordinatorin der Kundgebungen.

Die Argumentation Magirius’ war so schlicht wie fadenscheinig. Die Demonstrationen entglitten zu nationalistischen Randalen und würden die öffentliche Sicherheit (drei Monate nach derselben Argumentation seitens der SED gegenüber den Montagsdemonstrationen!) und die Reformierung der DDR gefährden. Auf Seiten seiner demonstrationsfreudigen Gäste wurde dies alles als irrelevant und maßlos überzogen abgelehnt. Stattdessen wurde mit dem massiv vorhandenen Bevölkerungswillen zu weiteren Demonstrationen, weiteren Veränderungen und der freien Entscheidung in den kommenden freien Wahlen über den weiteren Weg argumentiert. Würden die Demonstrationen nicht weitergehen, würden noch viel mehr Menschen den Weg nach Westdeutschland wählen. Das Volk in seiner Mehrheit saß innerlich auf gepackten Koffern. Die Demonstrationen würden aber mit absoluter Sicherheit nur weitergehen, wenn weiterhin politische Kundgebungen vorgeschaltet blieben. Die Menschen wollten frei wählen und wollten wissen, wer die neuen Kräfte repräsentiert und vor allem, was deren politische Vorstellungen sind. Magirius musste unseren Willen zu Kundgebungen und Demonstrationen zur Kenntnis nehmen. Wir lehnten Magirius’ Ansinnen höflich aber deutlich ab. Im Anschluss entstand diese Pressemitteilung:

 

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Es gelang und die vielen Menschen kamen bis zum letzten Montag vor der Wahl immer wieder. Die SED und ihr Apparat hatten erneut Pech. Die montägliche Schlafpause auf den Straßen und Plätzen der DDR wurde beendet und die Demonstrationen gegen die SED-Restaurationsanstrengungen, zur Unterstützung des demokratischen Kräfte an den Runden Tischen und für ein Wahlergebnis, welches den Freiheitsgewinn unumkehrbar machen würde, nahmen ihren Gang.


Achter Stolperstein: Faschisten aus dem Westen. Deshalb MfS und AfNS!

Die DDR-Gewaltigen verstanden die DDR als antifaschistischen Hort, der mit dem Faschismus gründlich aufgeräumt hatte und dessen Wiederkommen keine Chance geben würde. Die wichtigsten Machtsäulen waren dabei das gefürchtete Ministerium für Staatssicherheit (MfS), welches am 17. November 1989 in Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) umdekoriert wurde.

MfS/AfNS waren Schild und Schwert der staatsterroristischen Partei SED. Die DDR war in diesem Sinne faktisch so etwas wie eine von terroristischen Extremisten usurpierte Staatsmacht. Brauchen Terroristen die Straßengewalt, geheime Flugblatt- und Mordaktionen um an die Macht zu gelangen, so beherrschen sie im Erfolgsfall später die Straße ausschließlich in ihrem Sinne und bestimmen, wer da drauf darf.

 

 

1989 entrangen wir diesen Staatsterroristen zuerst das Demonstrationsrecht. Wir werden es auch als erstes wieder verlieren, falls es Links- oder Rechtsradikale jemals wieder an die Hebel der Macht schaffen werden. Hütet das Demonstrationsrecht! Es ist universal und nicht Herrschaftsinstrument einer politischen Richtung.

 

 

Die SED und ihre Geisteskinder nutzen seit Stalin den Faschismusbegriff in Bezug auf den Nationalsozialismus. Einerseits geht es um das Reinwaschen des Wörtchens Sozialismus, andererseits soll dies die Mehrheitssozialdemokratie der Weimarer Republik und deren politische Nachfahren in der SPD unserer Zeit treffen. SPD gleich Demokratie gleich Herrschaft des Kapitals gleich Faschismus. Komplizierter läuft das bis heute nicht.

Die Sozialdemokraten als letzte Hüter der Weimarer Demokratie waren in dieser Lesart angeblich Sozialfaschisten, die Bonner Ultras und die mit ihnen parlamentarisch arbeitenden Sozialdemokraten waren Faschisten, die 53er Freiheitsdemonstranten waren Faschisten, die 56er in Ungarn und Polen waren Faschisten, die Mauer war ein Antifa-Schutzwall, der Prager Frühling war ein faschistischer Umsturzversuch, die Solidarnost war eine faschistische Organisation, die 89er im Ostblock waren Faschisten, der Maidan war faschistisch, alles was gegen Putin ist, ist faschistisch. Die zweite Phase der DDR-weiten Demonstrationen 1989/90 war faschistisch, weil sie für die Wiedervereinigung eintrat, die Volkskammerwahl 1990 war mit ihrem klaren Ergebnis für die Einheit ebenso faschistisch.

Für Kommunisten ist die Demokratie eine faschistische Veranstaltung. Sie sind wie Nationalsozialisten gleichermaßen Todfeinde der Demokratie.

 

 

Wer sich unreflektiert oder bequemerweise des Faschismusbegriffs bedient ist schon das erste Stockholmsyndromopfer der Kommunisten. Die sind viel stärker in die Hirne eingedrungen als wir selbst es uns wahrmachen. Man denke sogar an linke Sozialdemokraten, die statt des für Deutschland und seine Geschichte zutreffenden Nationalsozialismusbegriffes selbst den auch die SPD diffamierenden Faschismusbegriff verwenden. Nicht achtend, dass viele ihrer sozialdemokratischen Vorfahren mit dem Vorwurf Sozialfaschisten in die kommunistischen Lager kamen. Auch der Vorwurf des Sozialdemokratismus späterer Jahre fällt unter diese Logik.

Die SED wollte ihre Bürger vor dem Faschismus der Bundesrepublik schützen und baute deshalb den Antifaschistischen Schutzwall, den die eigene Bevölkerung nicht überwinden konnte. Darauf stand die Todesstrafe. Faktisch befand sich die DDR-Bevölkerung bis 1989 in Schutzhaft von SED und MfS. Genau diese Schutzhaft für die eingesperrte Bevölkerung stand jetzt unabwendbar vor dem Stoß in den Orkus der Geschichte.

 

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Ein klarer Fall für die Spitzenschüler des KGB: das MfS und seine Gläubigen. Die faschistische Gefahr drohte fortan hell wetterleuchtend am DDR-Abendhimmel. Plötzlich erschienen die Meldungen über faschistische Aktionen und Gefahren beinahe im Tagestakt. Die faschistische Gefahr wurde mit Händen greifbar inszeniert, die bekannte sozialistische Lösung lag auf dem medialen Tablett: Die Notwendigkeit eines erneuerten MfS als Amt für Nationale Sicherheit (AfNS)! Modrow scheiterte bereits nach knapp vier Wochen mit seinem AfNS und thematisierte stattdessen das freundlichere Wort Verfassungsschutz. Natürlich mit den bewährten Zersetzern des MfS/AfNS bestückt. Diese Zielsetzung brauchte selbstverständlich viel ideologische Nahrung. Ein großer Teil dieser Nahrung kam aus der überall gewitterten Faschismusgefahr. Für uns Zeitgenossen war das Bild eindeutig.

Einer besonderen Häufung faschistischer Umtrieb gab es dann in der weihnachtlichen Demonstrationsruhepause 1989/90 (sic!). Eine Pause, wie geschaffen für die Dramaturgen von SED/MfS/AfNS und zukünftigem Verfassungsschutz:

Die Schändung des Sowjetischen Ehrenmales im Plänterwald am 28. Dezember 1989 schien wie nach Stasidrehbuch über uns zu kommen. Die Faschismuskampagne der letzten Wochen lief auf einen klassischen Höhepunkt zu. Das was kommen würde, ahnten wir. Welche Geheimpolizeisuppe wir konkret vorgesetzt bekommen würden, wussten wir nicht. Klar war nur der Wille der SED, die Angst der Bevölkerung vor dem was die Kommunisten unter (westdeutschem) Faschismus verstanden, zu schüren und die sowjetische Besatzungsmacht, die für die SED die bisherige Schutzmachtmacht schlechthin war, aufzurütteln. Seit Wochen ahnten wir, dass Gorbatschows Position in Moskau und in der Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland/DDR zunehmend schwieriger wurde. Der wochenlange Wink mit dem faschistischem Zaunpfahl war ein letzter großer Hoffungsschimmer der DDR-Nomenklatura, Gorbatschow gegen die (faschistische) Einheit einzustimmen. Zum Glück war die beginnende Männerfreundschaft Kohl-Gorbatschow stärker und zum außerordentlichen Glück verzichtete Georg Bush auf jedwede Triumphiererei von jenseits des Atlantiks.

War die Schändung des Sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park schon eine sehr eigenartige Sache, weil die Demonstranten der Friedlichen Revolution sämtlich darauf achteten, die Sowjetunion freundlich gesonnen zu halten und die Aktion nur aus der Geheimpolizeitrickkiste kommen konnte (25 Jahre später schossen auf dem Maidan in Kiew auch Geheimdienstleute in die Menge und Putin schob das den Demonstranten in die Schuhe), so unheimlich kommunistisch-sektiererisch lief die »Fackelorgie unter Leitung der ganz neuen Sozialisten« (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13496938.html) ab.

Folgsam wie eh und je stand auch Lothar de Maiziere neben dem antifaschistischem Klassenkämpfer Gysi, seinem Rechtsanwaltsbüronachbarn und verhalf den alten Kameraden auf diese Weise zu scheinbarer Glaubwürdigkeit in Sachen beste Hüter des Antifaschistischen Mythos der DDR.

Die Bevölkerung war aber nicht blöd, kannte die Kampagnemechanismen, sah diese manchmal auch voraus und lachte darüber. Ausgelacht werden schmerzt Diktatoren besonders, entwaffnet diese sozusagen:

 

Die Plänterwaldorgie gegen den (westdeutschen) Faschismus war kein peinlicher Einzelfall. DDR-weit wurde der Gassenhauer von drohenden Faschismus und Revanchismus gesungen. Hier das Beispiel vom 7. Januar in Neubrandenburg:

 

 

Genützt hatte dies den alten Kameraden nichts. Der DDR-Ministerrat beschloss am 13. Januar 1990 den Verzicht auf ein MfS im Kleide eines Verfassungsschutzes.

 


Neunter Stolperstein: Verfassungsentwurf der Runden Tisches und das »Lied vom Dritten Weg«

Lange ersehnt und im Moment seiner Konstituierung wie eine Botschaft aus ferner Zeit wirkend: der Runde Tisch in Ostberlin. Eben noch Herzenswunsch vieler Menschen und so kurz nach dem Mauerfall bereits hinter seinem Verfallsdatum liegend, so ähnlich meine damaligen Gefühlslage.

Es war schon eigenartig. Der Runde Tisch war doch gleichbedeutend mit einem triumphalen Sieg über die SED, die mit diesem konstitutionellem Schritt ihren unumstößlichen Machtanspruch offensichtlich teilen musste. Ob dies unumkehrbar blieb, das war allerdings noch lange nicht raus! Da mussten täglich weiterhin noch viele hunderttausend Menschen zeigen, dass des Volkes unumstößlicher Wille die SED/MfS-Abkehr von der Macht war.

Von Stund’ an konnte die SED nur noch mit der Opposition regieren. Das war wirklich ein Triumph. Aber wie schmeckte der jetzt, nach dem Mauerfall in der mächtigen Ahnung, dass plötzlich noch weit mehr drin war? Wie guter und schal gewordener Wein, den keiner mehr wirklich brauchte.

Im Gegenteil, durch diese der SED abgerungenen Teilhabe war die Opposition von nun an vielleicht sogar nur der nützliche Idiot der DDR auf ihrem Weg zu einem neuerlichen Sozialismusversuch, dem Dritten Weg? Freude und Misstrauen waren fortan wie Geschwister die Beobachter der Aktivitäten des Runden Tisches. Kurz gesagt, viele Demonstranten hatten das Gefühl, nun zum Druck auf die SED zusätzlich Druck auf den Runden Tisch ausüben zu müssen. Der Druck der Straße musste bis zu den ersten freien Wahlen die SED weiterhin gefügig halten, ihr die Notwendigkeit des Runden Tisches weiterhin vor Augen führen und den Oppositionsteilnehmern am Runden Tisch Unterstützung geben und jenen gleichzeitig zeigen, dass es um den restlosen Abriss der SED-DDR bis in die Deutsche Einheit gehen musste. »Keine Experimente!« hieß die Parole.

Die Protokolle des Runden Tisches geben das auch alle so her. Die SED mit ihrer machtpolitischen Erfahrung und der scheinbaren Fachkompetenz ihrer Minister suchte von Anfang an zu zeigen, wer Koch und wer Kellner und bei wem die Sicherheit der Bevölkerung in besten Händen sei. Die beinahe alte mediale Präsenz der SED in der Demonstrationsweihnachtspause im Rücken nutzend, suchte sie zwischen dem 8. und 15. Januar 1990 die Machtprobe mit dem Runden Tisch und mit der Bevölkerung. Möglicherweise war die SED damit wieder Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden und glaubte selbst an das von ihr erneut geschaffene potemkinsche mediale Dorf der vorangegangenen Wochen. Die SED glaubte sich wieder stark und wurde von der Straße wieder einmal eines besseren gelehrt. Was ihr die Oppositionsteilnehmer am Runden Tisch dann auch zeigen konnten.

Die SED wollte Zeit schinden, die linksalternative Opposition einfangen, die Demonstrationslust einschläfern, mittels Unsicherheits- und Faschismuskampagnen als Garant von Sicherheit erscheinen sowie Gorbatschow zum Eingreifen locken, das MfS als Verfassungsschutz erhalten und die Deutsche Einheit mit einem Verfassungsentwurf des Dritten Weges der als imperatives Mandat an die noch zu wählende Volkskammer gehen sollten, faktisch konstitutionell verhindern. Letzteres war überhaupt nicht machbar. Weder waren die DDR-Regierung noch bei aller Wertschätzung die Oppositionsgruppen am Runden Tisch in Wahlen demokratisch legitimiert. Ein solcherart nicht legitimiertes Gremium hatte nur eine angemessene Kernaufgabe: Den ersten freien Wahlen den Weg ebnen. Eine konditionierte Verfassungsdiskussion konnte nur das kommende erste freie Parlament der DDR in seinen demokratisch ermittelten Mehrheiten führen. Kein Übergangsgremium hatte das Mandat, dem kommenden Parlament Aufträge zu geben. Gewissermaßen war der Runde Tisch von seiner Anlage her ein Rat selbsternannter Revolutionäre (Opposition) und Konterrevolutionäre (alte Garde).

An diesem Punkt lohnt die Lektüre von Uwe Thaysen »Der Runde Tisch oder wo blieb das Volk? (Westdeutscher Verlag, Opladen 1990).

 

(S. 57)

 

Im Hintergrund wirkte zudem die Stasi. Ihr es ging um ihre Existenz und ihren Staat. Wenn schon nicht mehr »Staatssicherheit« oder »Amt für Nationale Sicherheit« dann wenigstens »Verfassungsschutz«. An Putsch wurde auch gedacht:

Fernschreiben vom 9. 12., 11.00 Uhr


Ministerpräsident
Amt. Staatsratsvorsitzender
Präsidium der Volkskammer
Minister für Innere Angelegenheiten / alle BDVP
Minister für Verteidigung
Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit / alle Bezirksämter für Nationale Sicherheit
Vorsitzender der in der Volkskammer vertretenen Parteien, Fernsehen und Rundfunk der DDR und ADN

Als Anlage erhalten Sie einen Aufruf zum Handeln.

Heute wir – morgen Ihr

Genossen, Kampfgefährten, Patrioten im In- und Ausland, Bürger der DDR

Von tiefer Besorgnis getragen über die gegenwärtige und sich weiter abzeichnende innenpolitische Situation in unserer sozialistischen Heimat, DDR, wenden wir uns an euch und an die, für die auch ihr Verantwortung tragt, mit einem Aufruf zum noch möglichen gemeinsamen Handeln für die Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und damit der Existenzgrundlage für den weiteren Bestand der DDR.
Unser Land befindet sich gegenwärtig in einer Phase der revolutionären Veränderungen, das Ziel soll und muss ein neuer, wahrer Sozialismus sein, mit dem wir uns eindeutig identifizieren. Diesen können wir jedoch nicht erreichen, wenn wir zulassen, dass unserem Staat Stück für Stück alle Machtinstrumente aus der Hand genommen (gegeben?) werden.
Beherzigen wir die Erkenntnis von Lenin über die Fragen der Macht.
Genossen, Bürger und Patrioten der unsichtbaren Front im In- und Ausland, wer mit Macht spielt, sie sich aus der Hand nehmen lässt – besonders während einer Revolution – in der wir uns zur Zeit befinden, der wird scheitern.
Der nutzt nicht uns, der dient der Reaktion.
Genossen, Bürger, heute richtet sich der Hass eines Teiles unseres Volkes, geführt durch eine Minderheit unserer Bevölkerung, gegen das ehemalige MfS und jetzige Amt für Nationale Sicherheit. In unserem Bezirksamt gibt es Erkenntnisse, dass Bestrebungen existieren, den ›Volkszorn‹, nachdem das Amt für Nationale Sicherheit zerschlagen ist, schnell auf die Strukturen und Kräfte der anderen bewaffneten Organe zu lenken, um diese ebenfalls zu zerschlagen. Sollte es uns allen gemeinsam nicht kurzfristig gelingen, die Anstifter, Anschürer und Organisatoren dieser hasserfüllten Machenschaften gegen die Machtorgane des Staates zu entlarven und zu paralysieren, werden diese Kräfte durch ihre Aktivitäten einen weiteren Teil unserer Bevölkerung gegen Staat, Regierung und alle gesellschaftlichen Kräfte aufbringen. Was kommt dann?
Sorgen wir also gemeinsam für diese unverzügliche Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit - und dies ist unsere Forderung gegenüber jedermann.
Genossen, Bürger, damit keine Zweifel aufkommen, auch wir sind für die Aufklärung und notwendige Bestrafung bei Fällen von Amtsmissbrauch, Korruption und ähnlichen Delikten.
Täglich erhalten wir zahlreiche Anrufe aus dem In- und Ausland, die zum Ausdruck bringen, dass wir alles in unseren Kräften stehende tun müssen, um unseren sozialistischen Staat im Interesse aller zu schützen und zu erhalten.
Diese berechtigte Forderung kann jedoch nur erfüllt werden, wenn die bewaffneten Organe unserer gemeinsamen Heimat DDR weiter bestehen und aktiv handeln können.
Dies schließt nach unserem Verständnis und den Praktiken und Notwendigkeiten aller entwickelten Staaten dieser Welt die Existenz eines Organs, welches mit spezifischen Mitteln und Methoden arbeitet, ein.

Das Kollektiv des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit Gera und die Kreisämter.

Wieder Thaysen auf S. 58:

 

 

Die Machtprobe bis zum 15. Januar 1990. Zuerst Thaysen (Seite 59 bis 62):

 

 

Wer am 15. Januar 1990 (siehe Uwe Thaysen letzter Absatz) nicht kommen wollte, war der im naiven Westen als Reformer angesehene Modrow. Mit dem anmaßendem Hinweis, er sei schließlich nicht durch eine Machtergreifung Ministerpräsident geworden und er außerdem keine Zeit habe, wollte er den Runden Tisch schwänzen. Gerade die freche Behauptung, ohne Machtergreifung sein Amt innezuhaben, brachte das Fass auf den Straßen wieder zum Überlaufen (siehe auch meine Rede vom 15. Januar 1990). Die SED hatte sich nie wählen lassen und der Kasper behauptete, er sei anständig ins Amt gekommen. Das war frech, so frech wie die SED immer war. Sein Amt war das Ergebnis 40jähriger Machtusurpation seiner Partei. Nicht mehr und nicht weniger. Die Straße machte es ihm wieder klar. Überall wurde wieder demonstriert, besonders in Ostberlin und Leipzig. Ein Transparent in Ostberlin lautete »Opposition am Runden Tisch – wir Bauarbeiter unterstützen dich.« Und es stand für alle Demonstranten dieser Tage und Wochen.

Am Ende kam Modrow doch und verkündete das Ende von Verfassungsschutzvorbereitungen bis zur Wahl am 6. Mai 1990.

Ob dies der Speck für die oppositionellen Drittwegler war, dafür den Verfassungsentwurf manifest mit auf den Weg zu bringen? Die SED/MfS-Hoffnungen lagen mit Sicherheit auf einen ihr genehmeren Wahlausgang, um dann mit Hilfe der Drittwegler in der Opposition einer gemeinsamen Sperrminorität gegen die Einheit in der neuen Volkskammer zu schmieden. Die Kampagne für einen Verfassungsentwurf des Runden Tisches war jedenfalls darauf ausgelegt. Viel erreichte die SED auch damit nicht. Am 18. März 1990 votierten 16,4 Prozent der Ostdeutschen für die Partei Der Stasi.

Zu Uwe Thaysens Verdiensten um die Beschreibung des Zentralen Runden Tisches in Ostberlin gehört u.a. eine sehr schöne schematische Darstellung der Kräfteverhältnisse und Machtproben am Tisch. Auf den Seiten 152/153 ist dies anschaulich dargestellt:

Der Runde Tisch war eindeutig ein Symbol des Sieges der Friedlichen Revolution 1989. Die SED suchte diese Niederlage über Monate in klingende Münze für die kommenden Volkskammerwahlen umzurubeln. Die beiden letzten Sitzungen des Runden Tisches mit den Punkten Sozialcharta und Verfassung waren wohlgesetzte Kernpunkte der DDR-Erhalter und Drittwegler. Die Wählerinnen und Wähler entschieden dessen ungeachtet: Keine Experimente und wir wollen die Einheit.

Die Bilanz muss gemischt bleiben. Der geordnete Weg zur Volkskammerwahl, zur Teil-Entmachtung der alten Garde, zur Überwindung der Kräfteverhältnisse am Tisch selbst, dies alles sind gewaltige Meilensteine der Freiheitsgeschichte der DDR. Der Beschluss zur Selbstauflösung des MfS/der HVA und der Ritt auf dem Dritten Weg der SED beschädigen den Gesamteindruck.

 

 

Stolpersteine eins bis drei erschienen in Globkult: Die SED setzte Stolpersteine, 22. 4. 2017