Renate Solbach: Zeichen

Um ein naheliegendes Missverständnis abzuwehren: Bei diesem Jahresthema geht es nicht um Rassismus, sondern um legitime und illegitime Optionen in der Wissenschaft oder, um den Begriff weiter zu fassen, auf den tradierten Feldern des Wissens. Dass in den Wissenschaften, wie überall in der Gesellschaft, ›schwarze Schafe‹, soll heißen, Betrüger anzutreffen sind, ist eher geeignet, die Fülle an Zusammenhängen zu verdecken, die sich auftun, sobald man damit beginnt, das ›Feld der Wissenschaft‹ als Schachbrett zu verstehen. So wie das Muster aus schwarzen und weißen Feldern erst die klar definierten Züge des königlichen Spiels ermöglicht, ermöglicht die Differenz erlaubt / nicht erlaubt die unübersehbare Fülle wissenschaftlicher Operationen. Insofern haftete Paul Feyerabends Schlagwort ›Anything goes‹ immer die Aura eines Missverständnisses an. Wo buchstäblich alles geht, existiert keine Wissenschaft, existiert kein Wissen, existiert nicht einmal eine Ahnung davon, was gehen könnte. Andererseits ist nichts umkämpfter als das, ›was gehen könnte‹: Hier finden, das lässt sich ohne Übertreibung konstatieren, die spannenderen Kämpfe der Wissenschaft statt, sofern es in den Wissenschaften immer auch um ›die Wissenschaft‹ geht, also um eine Differenz, die in den philosophischen Anfängen Platon mit den Worten ›episteme‹ und ›doxa‹ umschrieb: gesichertes vs. ungesichertes Wissen, sprich Meinung.

Wie es um die Mechanismen zur Legitimierung und Delegitimierung von Positionen samt den dazugehörigen Strategien in der zeitgenössischen Szene steht, dafür bietet die Klimawissenschaft seit Jahren die anschaulichsten – und populärsten – Beispiele. Dabei steht sie keineswegs allein, wie selbst vergleichsweise harmlos erscheinende Disziplinen, etwa die unter die Räder der Gender-Debatte geratene Altphilologie, gelegentlich unter Beweis stellen. Einer der bestechendsten Züge von Wissenschaft besteht darin, dass es ihr immer wieder gelingt, die in der Gesellschaft aufbrechenden Konflikte um sie und ihre ›Ergebnisse‹ in sich aufzunehmen und zu reflektieren. Wissenschaft kennt keine Feindschaft, jedenfalls nicht im üblichen (oder Schmittschen) Sinne des Wortes. Das könnte Erstaunen hervorrufen, da ihr Verfahren, allgemein gesprochen, gerade der Ausschluss ist – Exklusion statt Inklusion.

Genau diese Information erwartet die Gesellschaft von ihr: Womit können wir rechnen? Was können wir definitiv ausschließen? Im Ernstfall: wenig. Doch selbst das per definitionem Ausgeschlossene lebt in ihr auf labyrinthische Weise fort, wie – neben anderen – das Stichwort ›Pansophie‹ beweist: Modelle des Weltwissens, die immer wieder neue Nutzanwendungen hervorbringen, oder auch ›nur‹ kulturelle Traditionen, die im Hintergrund aktueller Forschungen ihr Wesen (und Unwesen) treiben und auf keine Weise aus ihr zu verbannen sind. Warum auch? Wissenschaft konstituiert keine zweite Welt, sie teilt sich die vorhandene mit denen, die schon eine Weile das Areal bevölkern. Wer sagt Wissenschaftlern im Zweifel, dass die berühmten ›Reste älterer Überlieferungen‹ nur Reste sind, im Einzelfall leicht zu beseitigen, und nicht Bauplätze künftiger Überlegungen? Niemand. Wer ist niemand? Einen Fingerzeig liefert Faust an der Stelle, an der ›die vollendeteren Engel‹ singen:

Uns bleibt ein Erdenrest
Zu tragen peinlich,
Und wär’ er von Asbest
Er ist nicht reinlich.

Apropos: Man kann Dissidenz seriös nicht zum Thema machen, ohne sie zu Wort kommen zu lassen.

Januar 2020
Die Herausgeber

 

Abb.: ©Renate Solbach

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