von Ulrich Schödlbauer

 KAI ROGUSCH, THILO SPAHL, SABINE BEPPLER-SPAHL, JOHANNES RICHARDT, KOLJA ZYDATISS, ERIK LINDHORST, ALEXANDER HORN: Experimente statt Experten. Plädoyer für eine Wiederbelebung der Demokratie, Frankfurt (novo Argumente Verlag) 2019, 229 Seiten

Ein Riss geht durch die westliche Welt und es sieht nicht danach aus, als ließe er sich so bald schließen. Folgt man seinen leidenschaftlichen Deutern, dann stehen sich Freiheit und Unfreiheit gegenüber, und zwar in doppelter Symmetrie: In diesem Konflikt gibt es nur Verteidiger der Freiheit. Wirft man einen Blick auf die subjektive Verfassung der Kontrahenten, so gilt das keineswegs bloß verbal. Die Mehrzahl derer, die sich am Kampf beteiligen, scheint von der eigenen Sache völlig überzeugt zu sein – ›Wir sind die Guten‹. Natürlich lässt sich so ein Satz nicht ohne eine Prise Zynismus äußern. Kein Wunder also, dass als Verräter gilt, wer ihn in den Mund nimmt, und unverzüglich in den Verdacht der Zugehörigkeit zu einem der beiden Lager gerät. Distanz zum Gutsein, auch analytische, scheint nicht länger erlaubt, weder verbal noch in der Sache. Die einzige angesichts der Weltlage erlaubte Distanz ist die zum Bösen. Und erneut scheint, wer so denkt, sich zu einem der beiden Lager zu bekennen und bekennen zu müssen.

Soviel Rechtgläubigkeit in Gesellschaften, die, nicht ohne Grund, sich einst im Spiegel der Kritik der zynischen Vernunft (Sloterdijk) zu erkennen glaubten, rückt zwangsläufig die Weltlage ins Gesichtsfeld, soll heißen den Globalismus der one-world-economy, ermöglicht und flankiert durch die one-world-communication der Netze und ihre halb spielerischen, halb quasi- und semi-militärischen Antagonismen. Der Krieg zwischen Globalisten und Populisten besitzt, was nicht vergessen werden sollte, mehrere Vorläufer: Der Antiglobalismus der Vor-Trump-Ära verstand sich weitgehend als links (und auf seine Weise universalistisch) und mindestens eine der Wurzeln des heutigen Antipopulismus liegt im inzwischen weitgehend vergessenen, teils staatlich-administrativen, teils allgemein-kulturellen Widerstand gegen die heraufziehende Netzgesellschaft und die in ihr herrschende globale Echtzeit-Kommunikation für jedermann.

Besonders den politischen Parteien fiel in jenem Übergang die Rolle der fast rührend hilflosen alten Mächte zu, die zusehen mussten, wie alte, mentalitätsgegründete Loyalitäten fast über Nacht den informellen Netzen der rasend schnell sich organisierenden und erst mentale, dann operative Macht gewinnenden zivilgesellschaftlichen Operateure, allgemein NGOs genannt, zum Opfer fielen. Nicht erst Donald Trump, der Twitter-Hemingway von New York, sondern bereits sein Vorgänger Obama, in dessen Ära der netzgesteuerte arabische Frühling fällt, gelangte als ›Populist‹ ins Präsidentenamt der Vereinigten Staaten: Sein Facebook-Wahlkampf überrollte den politischen Gegner ebenso gnadenlos wie zwei Amtszeiten später Trumps bis heute erbitterten Hass auf sich ziehende Twitter-Dauerkampagne. Der Unterschied zwischen beiden liegt darin, dass, vorbereitet durch die Angriffe des elften September 2001 und ihre Folgen, mit und unter Obama sich die historische Fusion von bislang als ›rechts‹ konnotiertem ökonomisch-militärischem Global-Liberalismus und ›linkem‹ Universalpopulismus vollzog, auf die dann – im Namen der Freiheits‑ und Arbeitsrechte des amerikanischen Durchschnittsbürgers – Trumps ›rechter‹ Populismus der ›Menschen im Lande‹ die erwartbare Antwort gab.

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Das vorliegende Buch entfaltet sein Thema nicht angesichts der Verhältnisse in den USA, sondern vor der Kulisse des fest in EU-Strukturen eingebundenen Herrschaftsgefüges Deutschlands während der Merkel-Ära. Im weltweiten Krieg der ›Globalisten‹ und ›Populisten‹ schlagen sich seine Autoren entschieden auf die Seite der Populisten, allerdings ohne dem schwer kontrollierbaren Nationalismus mit seinen unappetitlichen Anhängseln, soweit er in dessen Reihen Einzug gehalten hat, Zucker zu geben. Man mag die ›Gefahr von rechts‹ im politischen Leben für aufgebauscht halten. Immerhin erleichtert es der stete Druck der Verdächtigungen, die liberale Linie in völliger Klarheit auszuziehen, ohne die auch der Populismus Trumpscher Couleur, so schillernd er auftreten mag, nicht wirklich verstanden werden kann. Zwei fundamental konträre Konzepte von Freiheit sind in einen historischen Wettkampf eingetreten, in dem es – vorerst – nur um Sieg oder Niederlage zu gehen scheint. Darin zeigt sich, immerhin, der Liberalismus als strahlender Sieger der Geschichte – womöglich ein letztes Mal, wie die Untergangspropheten der westlichen Welt seit längerem unken.

Eine liberale Gesellschaftsordnung beruht primär nicht auf der Freiheit des Einzelnen (sie wäre der Grund, nicht die Basis einer solchen Ordnung), sondern auf dem freien, zwischen richtig und falsch, gut und schlecht, nützlich und unnütz bzw. schädlich entscheidenden Urteil des Einzelnen und der dadurch ermöglichten Freiheit der Wahl – eine Binsenweisheit, sollte man meinen, gäbe es da nicht die EU mit ihren sonderbaren Prozeduren – etwa die Wahl Ursula von der Leyens als einziger Kandidatin zur Präsidentin der Europäischen Kommission:

»Wenn einem die Frage gestellt wird: ›Welches Schweinderl hätten S’ denn gern?«, müssen verschiedene da sein, von denen man eines, seinen Vorlieben entsprechend, aussucht. Sonst erübrigt sich die Frage. In der EU scheinen andere Regeln zu gelten. Und doch sieht man sich in Brüssel selbst als demokratisch, ja gar als Bollwerk der Demokratie.

›In der Demokratie ist die Mehrheit die Mehrheit‹, sagte von der Leyen angesichts des knappen Ergebnisses nach der Wahl und fügte hinzu, es sei gelungen, eine pro-europäische Mehrheit zu formieren. Wie sollen wir das interpretieren? In der Wahl zwischen ihr und ihr hat das Parlament sich für Europa entschieden?« (7f.)

»Experimente statt Experten« (so der Titel des Buches) bedeutet: Nicht Expertentum soll – letzten Endes – entscheiden, ›wohin es in Europa geht‹, sondern die Vielstimmigkeit des europäischen Wahlvolks, dessen Urteilsfähigkeit, gleichgültig, was jene Experten davon halten, über dem einer speziellen Klasse oder Elite rangiert, weil der demokratische Gedanke es so will. Der Tenor dieses Buches ist insofern nicht antieuropäisch, er ist ›anti-Brüssel‹. Das heißt er richtet sich gegen ein Gefüge von Institutionen, von denen, einzeln betrachtet, keine Gefahr für die einigende Regierungsform Demokratie ausgehen sollte, während ihr faktisches Ineinandergreifen Entscheidungsprozeduren und damit Entscheidungen produziert, deren demokratische Legitimation für den Laien, das heißt den europäischen Wahlbürger, kaum oder nicht mehr erkennbar sind. Das ›Monstrum‹ EU ist nicht gewollt, sondern geworden: das delegitimiert zwar nicht seine Ankläger, aber es weckt Fragen nach den speziellen Interessen derer, die seine Ist-Form um jeden Preis verteidigen wollen und dabei vor keiner Denunziation des politischen Gegners zurückschrecken.

Dass die EU in einer Legimitätsfalle steckt, ist allgemein bekannt. Die Autoren können es daher beim Hinweis auf bekannte und aktuelle Fälle, etwa die Umweltgesetzgebung oder die Finanzpolitik der EU, belassen, um die Grenzen der ideologischen Feldschlacht abzustecken. Ihre selbstgestellte Aufgabe besteht darin, den Populismus als neue Demokratiebewegung praktisch und theoretisch zu legitimieren: Praktisch durch eine Kritik der Mehrheitsgesellschaft und der sie – aber eben nicht den Typus des um das Gemeinwesen besorgten Staatsbürgers – repräsentierenden Institutionen, theoretisch durch etwas, was man früher als ›Rückbesinnung‹ auf klassische Demokratiemodelle bezeichnet hätte: Wie funktionierte die griechische Polis? Worin besteht das Prinzip der Volkssouveränität und wer waren seine historischen Feinde? Was gehört in einen kurzen Abriss der Demokratiegeschichte Europas und des Westens insgesamt? Wo beginnt der Niedergang? Und schließlich: wieviel direkte Demokratie ist machbar?

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Der Populismus hat ein Problem: Überall dort, wo es ihm nicht, wie in Trumps Amerika, in einem Anlauf gelingt, die Macht zu erobern, muss sich seine Parole ›Wir sind das Volk!‹ die nüchterne Tatsachenfeststellung gefallen lassen: Nein, ihr seid es nicht! Jedenfalls dann nicht, wenn man das Abstimmungs- und Auszählungsverfahren zu Grunde legt, bei dem sich seine Anhängerschaft als Minderheit dem Votum der Mehrheit geschlagen geben muss. Gerade das bringt ihm den Vorwurf latenter Demokratiefeindlichkeit ein: Die Anmaßung, die volontée generale à la Rousseau zu verkörpern, trägt totalitäre Züge, weil sie einen durchgehenden Herrschaftsanspruch durchschimmern lässt, der nicht davor zurückschreckt, zwischen richtigen und falschen Volksteilen zu unterscheiden.

Mit Bedacht berufen sich die Autoren daher nicht auf die Konzeption Rousseaus, sondern auf Machiavelli und Hobbes als Begründer des Konzepts der Volkssouveränität avant la lettre. Im Falle Machiavellis mag das den einen oder anderen erstaunen. Doch es ist der Fürsten-Ratgeber Macchiavelli, der dem ›Volk‹ größere Kompetenz in Sachen Gemeinwohl einräumt als seinen regierenden Häuptern.

»Da ›Städte, in denen sich die Regierung in den Händen des Volkes befindet, in sehr kurzer Zeit wunderbare Fortschritte machen, weit über dem hinaus, was die Städte erzielt haben, die schon immer von Fürsten regiert wurden […]‹, sei ›die Herrschaft eines Volkes […] besser als die Herrschaft eines Fürsten«. (152f.)

Angesichts der Geschichte der italienischen Stadtrepubliken war das nicht nur so dahingesagt. Im Falle Hobbes’ verleiht der Souveränitätsvertrag zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen der Herrschaft ein rationales Fundament und macht sie durchsichtig: Solange der Herrscher sich an seine Vertragsverpflichtungen hält, hält das gegründete Urteil der Bürger, gegenüber dem Naturstand das bessere Los gezogen zu haben, den Leviathan am Laufen. Das ist zwar noch weit von Demokratie entfernt, aber es nimmt den Herrscher in die Pflicht seiner Untertanen anstelle jedem Gemeininteresse entrückter ›Werte‹.

Die theoretische Linie, der die Verfasser folgen, verläuft also zwischen Autoren, deren Staatskonstruktionen die Urteilslosigkeit des Volkes bzw. der ›Masse‹ eingeschrieben ist ( Bodin: »Wie kann eine Menschenmasse, das heißt ein Biest mit vielen Köpfen, ohne Urteilsvermögen oder Vernunft, ein guten Rat geben? Den Rat einer Menschenmasse zu befolgen […], ist, nach der Weisheit eines verrückten Mannes zu suchen« 158) und solchen, denen das Urteil aller der sicherste Garant eines geordneten und dem Wohl aller dienenden Gemeinwesens ist. Zu ihnen gehört Spinoza, in dessen Tractatus Theologico-Politicus es ausdrücklich heißt:

»In Ihm (dem demokratischen Staat) überträgt Niemand sein natürliches Recht auf einen Anderen so, dass er niemals später gefragt zu werden braucht« – Gawlick: »daß er selbst fortan nicht mehr zu Rate gezogen wird« –; »sondern die Übertragung geschieht an die Mehrheit der ganzen Gemeinschaft, von der er einen Theil bildet. So bleiben Alle sich gleich, wie in dem natürlichen Zustande.« (159)

Als Voraussetzung dafür, dass ein solches Gemeinwesen funktioniert, gilt Spinoza, dass »in einem Freistaate Jedem erlaubt ist, zu denken, was er will, und zu sagen, was er denkt.«

Hier läge also eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem Volk, als dessen Sprecher – oder Anwalt – der Populismus sich in Positur bringt: Zum Volk gehört, wer sich einzubringen weiß (oder vergeblich einzubringen wünscht).

Von Meinungs- und Gesinnungskorridoren, vor allem sich verengenden, ist eher die Rede, sobald die Darstellung sich rousseauistisch geprägten Gefilden nähert. Robbespierre, auf dem ›linken‹ Flügel der französischen Revolutionäre zu Hause, begründet den Kult des Obersten Wesens damit, dass dem Volk, aus Mangel an natürlichem Denkvermögen, »die Idee der Bestätigung moralischer Prinzipien durch eine dem Menschen übergeordnete Macht« aufgeprägt werden müsse. (173) Das läuft durch bis zum marxistischen Diktaturmodell und seiner ›Vorhut der Arbeiterklasse‹, die der herrschenden Klasse das Denken abnimmt und seine Widersacher der ›Vernichtung‹ preisgibt – ganz zu schweigen von der faschistischen Massenvergötzung und -verachtung, zu der sich immer ein passendes Hitler‑ und Goebbels‑Zitat findet. Doch die Diktion des Buches bleibt wohltemperiert. Ein wenig verwundert es höchstens, dass der erklärte Gegner der Französischen Revolution und Stammvater des europäischen Konservatismus, Edmund Burke, zum Vertreter des – ihn zweifellos beseelenden – antidemokratischen Ressentiments schrumpft, während ein kühl-faszinierter Beobachter wie Tocqueville fast als Programmatiker der amerikanischen und aller folgenden Demokratie gehandelt wird.

Auf der Waage des Heute lassen sich die Gewichte fast nach Belieben verschieben. Entscheidend bleibt, was gewogen und eventuell für leicht befunden wird. Der Zentralgedanke der historischen Recherche wäre wie folgt zusammenzufassen:

Es sind die kultivierte Verachtung der Massen und die Angst der Eliten vor dem artikulierten Willen der Vielen, die in der Vergangenheit reaktionäre Regime begünstigten, für den Sturz in diktatorische Verhältnisse verantwortlich zeichneten und Machtgebilde wie die heutige EU erneut in Gefahr bringen, in undemokratische und rational unkontrollierbare Verhältnisse abzugleiten.

In der Abteilung ›Weimarer Verhältnisse‹ – nach wie vor Prüfstein jeder aktuellen Malaise – kommt dann auch der britische Journalist Mick Hume zu Wort:

»Die Furcht und der Abscheu der europäischen Eliten gegenüber den Massen in den Zwischenkriegsjahren offenbarte, wie wenig Glauben sie an das demokratische System hatten, für welches sie sich nach ihrer Behauptung doch einsetzten.« (189)

Das mag so stimmen oder nicht. Die Nutzanwendung auf das heutige Personal (und heutige Techniken der Massenbeeinflussung und ‑lenkung zum Zweck der Herstellung von Konsens) ist überdeutlich:

»Wie sagte der ehemalige Bundespräsident und evangelische Pastor Joachim Gauck vor ein paar Jahren doch so schön: ›Die Eliten sind gar nicht das Problem, die Bevölkerungen sind im Moment das Problem.‹ {...] Echte Demokratie bleibt bis heute vor allem ein unerfülltes Versprechen.« (193)

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Zu den symmetrischen, zwischen den Parteien des imaginierten Bürgerkriegs hin- und herflitzenden Vorwürfen gehört der des ›illiberalen Liberalismus‹. Allerdings kommt hier eine Asymmetrie ins Spiel, weil auf der Seite der Populisten eine gewisse Neigung besteht, sich die Schmähworte der anderen Seite als Ehrentitel anzuheften. Der ungarische Ministerpräsident und Vorsitzende der Partei Fidesz, Viktor Orbán, ist da mit seinem Konzept der ›illiberalen Demokratie‹ wohl einen entscheidenden Schritt zu weit gegangen. Weder haben die Brüsseler Organe den Liberalismus für sich gepachtet noch taugt das Bekenntnis zum Illiberalismus, den Gedanken der Volkssouveränität in Europa mit neuer Attraktivität auszustatten oder gar neu zu begründen. Auch Trumps neuerliches Bekenntnis, Nationalist zu sein, erweist sich da als wenig hilfreich. Wer in wirklicher Teilhabe Aller sowohl am gesellschaftlichen Prozess als auch an der politischen Entscheidungsfindung den Kern demokratischer Herrschaft ortet, der kommt nicht umhin, dem liberalen Grundgedanken Tribut zu zollen, dass die Belange des Einzelnen kein gesellschaftlich oder staatlich vorgeschaltetes Interesse vertragen und dass es dem Urteil der vielen Einzelnen überlassen bleibt, aus Gefährdungsszenarien und vorgestellten Notwendigkeiten die richtigen Schlüsse zu ziehen. Je unmündiger die vielen Einzelnen gehalten werden, desto unmündiger wird auch ihr Urteil ausfallen – eine Regressfigur, die gesteigertes Sektierertum in öffentlichen Belangen nicht ausschließt, sondern befördert.

Den Autoren ist dieser Zusammenhang wohl bewusst. Sie schreiben: »Wenn wir Verantwortung für Entscheidungen übernehmen, deren Konsequenzen wir individuell oder als Gesellschaft selbst tragen müssen, sind wir gezwungen, uns je nach Tragweite der Entscheidung sehr genau mit den möglichen Konsequenzen auseinanderzusetzen.« (203) Leichtsinnig darf sein, wer nichts zu entscheiden hat. Der Schwätzer hat frei, weil er die Folgen seines Tuns nicht fürchten muss – er hat ohnehin nichts zu sagen. Der Aktivist schließlich darf über alle Grenzen gehen, weil seine Phantasie nicht ausreicht, sich andere Siege als die im Kleinklein seiner Aktionen errungenen vorzustellen.

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›Echte Demokratie‹ – wer von den Wohlmeinenden westlicher Prägung wollte sie nicht? Leider bleibt Echtheit, wie immer man sie dreht, ein hölzernes Eisen: Sie fügt der Sache etwas hinzu, ohne etwas hinzuzufügen. Leben wir in einer Demokratie, wenn sie nicht die echte ist? Oder durchleben wir eher die Höhen und Tiefen eines historischen Prozesses, der alle, die echten wie die unechten Demokraten, mit sich fortzieht? Natürlich bleibt es einer Diktatur benommen, ein Schild mit der Aufschrift ›Hase‹ an die Haustür zu nageln. Sie wird dadurch doch kein falscher – oder unechter – Hase, sondern bleibt eine Diktatur. Sie wird auch nicht dadurch hasiger, dass sie sich lange Ohren zulegt. Das gleiche gilt von der Demokratie.

Demokratie lebt davon, praktiziert zu werden. Wenn es eine Lektion der vergangenen Jahre gibt, dann die: Demokratie ist kein Garant für Meinungsfreiheit. Meinungsfreiheit, ohne die keine Demokratie denkbar ist, kann nicht dekretiert, sie muss in Anspruch genommen werden, sonst ist sie rascher verschwunden, als die Hüter der politischen Korrektheit ihr nachsetzen können. Die Gegner der Meinungsfreiheit erklären sich nicht gegen die Meinungsfreiheit. Im Gegenteil: Sie lieben und verehren sie, sie möchten, dass sie in sicheren Verhältnissen erblüht, unversehrt von den Drohungen derer, die anderer Meinung sind. Die Verfechter der Meinungsfreiheit hingegen fühlen sich bedroht von denen, die nicht anderer Meinung sind, soll heißen den Nicht-Abweichlern, den Vertretern der Generallinie, den Freunden der Meinungsfreiheit: »Was soll die Aufregung? Was soll die Erbitterung? Es muss doch möglich sein, vernünftig miteinander zu reden!«

Institutionen oder institutionelle Prozesse, die geeignet sind, die Bürger von der Kommunikation über gesellschaftliche Fragen auszuschließen oder diese Kommunikation auf ›gewünschte‹, sprich normativ geregelte Spielarten zu beschränken, schwächen die Urteilsfähigkeit der Bürger und ihre Fähigkeit, an politischen Entscheidungsprozessen zu partizipieren. Darin ist den Autoren dieses Buches Recht zu geben. Noch bedenklicher wird es, wenn der Grund der Einschränkung darin zu finden ist, dass die Entscheidungsprozesse selbst sich den vom Souverän gewählten Instanzen soweit entziehen, dass diese zu bloß oder weitgehend akklamierenden (›abnickenden‹) Organen absinken, die ihre Hauptaufgabe in eigentümlicher Verkehrung ihrer Verfassungsfunktion plötzlich darin entdecken, dem Wahlvolk mit Anleitungen zum richtigen Denken behilflich zu sein – nach dem Motto: Unsere Demokratie soll schöner werden.

Wenn dem Populismus ein – ich sage nicht basisdemokratischer –, ein realdemokratischer Impuls innewohnt, dann ist den Autoren gelungen, was vielen öffentlichen Kommentatoren nach wie vor unmöglich erscheint: ihn herauszuarbeiten, ohne die Verbindung zu anderen Seite, sprich, zur anhaltenden systemkonformen Demokratiedebatte abreißen zu lassen. Wem es schwerfällt, sich in Grundsatzfragen der Gegenwart zu einigen, der ist gut beraten, die Diskussion über die einschlägigen Wegmarken der gemeinsamen Vorgeschichte zu erneuern. Es sind nicht immer Beiträge zur historischen Forschung, die neue Schlaglichter auf die alten Texte werfen. Fast ebenso oft sind es die neuen Gegebenheiten, die Anlass geben, Genealogien neu zu zeichnen und neu zu gewichten. Und nicht immer sind es Fachwissenschaftler, die sich dieser Aufgabe mit der nötigen Leidenschaft annehmen. Da kommt ein Buch, das nach dem Willen seiner Autoren ein Stück Gegenwartsorientierung geben soll, gelegentlich ganz recht.

Die Figur des mündigen Bürgers wird den Westen und Europa noch eine Weile begleiten.