Renate Solbach: Sonnenaufgang

Handlungstheoretische Grundbegriffe: Motiv, Grund, Absicht

Erste Zwischenbetrachtung

Die sozialontologische Bevorzugung der sozialen Beziehung gestattet die Einbeziehung handlungstheoretischer Begrifflichkeit in den theoretischen Korpus der Sozialontologie ohne sie weder grundlegungslogisch unhaltbar zu machen, noch das Fassungsvermögen jener Begrifflichkeit zu beeinträchtigen. Es gibt also über das soziale Handeln und die soziale Beziehung hinaus mentale Akte, die das gesamte Gebiet des Handelns als Handeln kennzeichnen und nicht spezifisch für jene sind. Solche mentalen d.h. inneren Akte sind »Motiv«, »Grund« und »Absicht«. (SO 437f.) Die sozialontologisch relevante Frage ist dann die nach dem Zusammenhang zwischen den mentalen Akten, die die soziale Beziehung spezifisch charakterisieren (Perspektivenübernahme), und diesen Akten, die alle konventionell-analytisch konstituierten Regionen des Handelns durchdringen. Nur die klare analytische Scheidung dieser zwei Typen mentaler Akte ermöglicht ihre gemeinsame, widerspruchslose begriffliche Kooperation beim Verständnis der Motivationsfragen, die sich bei jeder einzelnen Beziehung der Identität zu anderen Identitäten beständig neu gestaltet; und zwar aufgrund des ständigen Strebens dieser Identität zur Bewahrung oder Änderung ihres Platzes im Spektrum der sozialen Beziehung oder, einfacher gesagt, innerhalb der Gesellschaft. (SO 438) Daraus ergeben sich zwei wissenschaftstheoretische Folgen. A) Die Handlungstheorie durch das Prisma der sozialen Beziehung zu untersuchen bedeutet, einen »holistischen« Blick einzunehmen. Man sollte den sozialontologischen Aspekt der Handlungstheorie beachten und damit die Dynamik und Multidimensionalität der Motive. Sie dürfen nicht, wie oft geschehen, von einer Statik verdeckt werden, die durch »Fixierung auf den einzelnen Akteur und die Suche nach Garantien gegen den Einbruch der ›Irrationalität‹ heraufbeschworen« wurden. (SO 462) B) Die Untersuchung wird im Hinblick auf die epistemologische Dyas von Handlungstheorie und Sozialontologie und nicht auf jene von Handlungstheorie und Soziologie betrieben. Somit wird die Soziologie von dieser Aufgabe freigestellt. Denn es ist nicht praktikabel, den Begriff des sozialen Handelns bzw. der sozialen Beziehung – samt der damit verbundenen Apparatur von (subjektivem) Sinn und Verstehen – als spezifische Differenz zur Grundlegung der Soziologie heranzuziehen. »Bei der Definition der Soziologie darf soziale Beziehung [..] gar nicht und in der Praxis des Soziologen erst nach der Markierung und innerhalb der Grenzen seiner Disziplin berücksichtigt werden – d.h. in dieser oder jener ihrer konkreten Formen.« (SO 109)

Vom Standpunkt des methodologischen Individualismus lässt sich keine logisch konsistente Grundlegung erzielen. Obwohl Gesellschaft und jedes soziale Gebilde in ihr nur aus Menschen und deren Handeln besteht, reicht dieser unbezweifelbare Tatbestand dennoch nicht aus, um die Fachdisziplin »Soziologie« zu konstituieren. Hier liegt eine Verwechselung der epistemologischen Ebene mit der Ebene der Wirklichkeit vor. »Der Hinweis auf eine ubiquitäre Wirklichkeit reicht keineswegs zur Begründung einer besonderen Disziplin aus. Denn die ubiquitäre Wirklichkeit ist nur eine, der Disziplinen aber sind viele, und die Wirklichkeitsebene, an der jede Disziplin anzusetzen hat, wird nach epistemologischen Kriterien und nicht unter Berufung auf ›die‹ Wirklichkeit bestimmt.« (SO 114) (So ist etwa die Literaturwissenschaft eine Disziplin, die sich mit dem Handeln von Menschen als Autoren beschäftigt.) Weber z.B. legt nach seinen »methodologischen Pflichtübungen« den »subjektiv gemeinten Sinn« ad acta, d.h. ohne auf seine programmatische Grundlegung der Soziologie Rücksicht zu nehmen. (vgl. SO 109)

Zweite Zwischenbetrachtung: Gesetz und Kausalität

Alle menschlichen Denkgebilde, Weltbilder, Ideologien, die theoretischen Systeme metaphysischer oder auch wissenschaftlicher Prägung zeichnen sich durch den gleichen formalen strukturellen Aufbau aus, denn sie alle verdanken nach Kondylis ihre Existenz ausnahmslos dem ubiquitären, anthropologischen Mechanismus von Macht und Entscheidung. Der gemeinsame Ursprung bzw. Entstehungskontext ermöglicht folglich eine einheitliche und vereinheitlichende Betrachtung der Grundformen menschlichen Denkens und Wissens auf allen Gebieten der geistigen Produktion, so dass auch Geistes- und Naturwissenschaft auf einen großen gemeinsamen hermeneutischen Nenner gebracht werden können. Die Anwendung der anthropologischen Grundkategorien von Macht und Entscheidung erlaubt es außerdem, – d.h. über die soeben erwähnte bloß phänomenologische Beschreibung hinaus, die Denkinhalte auf Denkstrukturen reduziert – auch die Gründe zu nennen, die zur Herausbildung, Änderung und Auflösung der Grundformen geistiger Produkte führen können. Im Rahmen dieser Besprechung wird allein auf den phänomenologischen Aspekt dieser weitaus umfassenderen Problematik eingegangen. Es wurde zu Beginn erklärt, aus der Anhäufung einzelner empirischer Daten und durch Induktion könne keine allgemeine Theorie entstehen. Man kann begründet behaupten, im natur- und geisteswissenschaftlichen Bereich verfahre das wissenschaftliche Subjekt auf dieselbe Art und Weise: Es bekennt sich zwar zur Induktion, tatsächlich aber entwirft es Hypothesen, die es retrospektiv durch empirische Befunde zu bestätigen, sprich zu rationalisieren trachtet; es arbeitet also deduktiv.

Die vorstehenden Bemerkungen zum Stellenwert von Induktion und Deduktion, nämlich dass man sich der Induktion zwangsläufig als verkappte Deduktion bedienen müsse, könnte eine kritische Frage einer Antwort zuführen: Wie kann bei schwerwiegenden ontologischen Differenzen dennoch ein identisches Erklärungsmuster vorliegen? Die im obigen Sinn formale Betrachtung der Theorieentwicklung erlaubt eine Differenzierung des Gesetzesbegriffes nach einem dreifachen Kriterium: Ebene der Geltung bzw. ontologische Ebene, Reichweite der Geltung und Stringenz der Geltung. (vgl. SO 165f.)

Aus dieser formalen Differenzierung ergibt sich eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Gesetz und Kausalität. Gesetz im eigentlichen Sinn ist Kausalität von unbegrenzter Reichweite und absoluter Stringenz. Gesetz ist daher Kausalität, aber nicht jede Kausalität ist ein Gesetz. So bedeutet Gesetz eine Korrelation zwischen Ereignistypen, aber nicht zwischen einzelnen Ereignissen. Denn ein einziges atypisches Ereignis wird vom Gesetz nicht erfasst, obwohl es infolge der Wirkung einer bestimmten Kausalität entstanden sein muss. Aber die Form der kausalen Wirkung eines Ereignisses auf ein anderes bedeutet nicht die Übertragbarkeit der Form, unter der die kausale Wirkung stand, auf andere kausale Wirkungen, d.h. sie ist nicht generalisierbar. Dagegen ist Gesetz eine universell geltende Wirkungsform von Kausalität.

Die formale Betrachtung der Beziehung von Gesetz und Kausalität liefert gewisse praktische Anhaltspunkte. (SO 166f.) Im Interesse der gebotenen deutlichen Trennung zwischen Gesetz und Kausalität darf also bei der historischen Betrachtung nicht der kausale mit dem idiografischen Standpunkt vermengt und die Untersuchung von Regelmäßigkeiten diskreditiert werden. Ebenfalls erscheint es wenig sinnvoll, die Absage an die teleologisch verstandene Gesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung mit der Absage an den Kausalitätsgedanken im hier erklärten Sinn in Verbindung zu bringen, genauso wenig wie die Verteidigung der Kausalität logisch keineswegs die Annahme von Gesetzen naturwissenschaftlichen Typs impliziert. Ebenso unzulässig ist es, den Unterschied zwischen Gesetz und Kausalität dem Unterschied zwischen Natur und Geschichte oder Gesellschaft gleichzusetzen, eine gesetzhafte Kausalität nur in der Natur, eine gesetzlose Kausalität nur in der geschichtlich-sozialen Welt finden zu wollen. Gesetzlose Kausalität ist auch in der Natur denkbar, während statistisch-probabilistische Gesetze auf beiden ontologischen Ebenen möglich sind. Die formale Gemeinsamkeit beider ontologisch heterogener Gebiete gestattet eine genaue Verortung der methodologisch/formalen Differenz:

Die Differenz besteht darin, dass das eine Ende des Spektrums der Kausalitäten, d.h. das Gesetz im strengen Sinn, »nur in der Natur, nicht in Geschichte und Gesellschaft anzutreffen ist; alles andere kommt, mindestens heuristisch, für beide ontologischen Bereiche in Betracht, wenn auch der Forscher im voraus schätzen kann, wie häufig der eine oder andere Kausalitätstyp in jedem von ihnen vorkommt. Gesetz einerseits und Kausalität des einen Falls andererseits bleiben somit als methodische und ontologische Orientierungspunkte unentbehrlich – aber nur als solche.« (SO 167 m. Herv.)

Lässt man also das eine Ende des Spektrums, nämlich das naturwissenschaftliche Gesetz, beiseite, so kann folgende Einordnung in Richtung abnehmender Reichweite und Stringenz der Kausalitäten versucht werden:

  • a) Gesetze, die die Totalität des geschichtlichen Ablaufs betreffen und auf der Annahme gründen, Geschichte habe Sinn, denn sie verlaufe nach einem teleologischen Prinzip.
  • b) Gesetze, die innerhalb des historischen Entwicklungsprozesses ohne teleologische Annahmen wirken. Hier kann man zwei Kausalitätsklassen unterscheiden, nämlich die mit ubiquitärer Geltung von solchen, die eine stabile Beziehung zwischen zwei besonderen Aspekten der Gesellschaft erfassen. So bezog die enge Verzahnung von Soziologie und Geschichtsphilosophie im 19. Jh. das statische Problem der Stabilität jeder individuellen Entwicklungsstufe in die dynamische entwicklungsgeschichtliche Perspektive ein; es sollten die Mechanismen innerhalb jeder Entwicklungsstufe ermittelt werden, die zur Herstellung von funktionalen Gleichgewichten dienen. Die Entwicklungsstufen der Geschichtsphilosophie wurden in soziologische Strukturbegriffe umgeformt, die funktional auf selbstgenügsame Gesellschaftsformationen bezogen und ohne teleologische Implikationen verwendet wurden; auf dieser geistesgeschichtlichen Linie steht der Webersche Idealtyp. – So betrachtet auch der historische Materialismus die kapitalistische Gesellschaftsformation in der entwicklungsgeschichtlichen und der strukturbegrifflichen Perspektive, also als einen Idealtypus. Wenn man von der geschichtsphilosophisch-eschatologischen Komponente absieht, dann stellt die Marxsche Strukturanalyse der kapitalistischen Gesellschaft ein Theoriekonzept auf, das historische und soziologische Aspekte in einer Weise verbindet, die mindestens zum Teil empirische Aussagen über die Funktionsweise von Gesellschaften und den kausalen Zusammenhang sozialer Faktoren abgeben und unabhängig vom teleologischen Hintergrund bestehen können. (vgl. SO 133f.)
  • c) Kausalität des einen Falles. Die durchgängige Offenheit der geschichtlich-sozialen Entwicklungen bedeutet nicht, dass die Wirkung der Kausalitäten über kürzere oder längere Zeitabschnitte aussetzen würde. Offenheit bedeutet einfach, dass die ständige Verknüpfung vielfacher Kausalitäten miteinander eine zielgerichtete oder geradlinige Entfaltung einer einzigen von ihnen verhindert und unvorhersehbare Wenden erzwingt. Das ständige Kombinationsspiel der Kausalitäten macht jedes Gesetz unmöglich, das den gesamten Geschichtsablauf oder auch einzelne Aspekte desselben erklären wollte. Diese Einsicht ist nur auf der Grundlage der klaren Trennung von Gesetz und Kausalität zu gewinnen. Andererseits darf ein einzelnes Ereignis nicht als Zufall aufgefasst werden, so als ob historische Kausalitäten durch historische Zufälle ersetzt werden sollten, wie dies übrigens der fließende Übergang innerhalb des Kausalitätsspektrums sichtbar macht. Da die menschliche, notgedrungen auf Relevantes ausgerichtete Betrachtungsweise etwas außerhalb der jeweiligen, von einem bestimmten Standpunkt bzw. Forschungsinteresse eingenommenen Perspektive nicht wahrnimmt, so wird es immer Zufälle geben. Demnach ist der Zufall das Eindringen einer für uns irrelevanten Kausalität in eine für uns relevante. (vgl. SO 167f.)

Es wurde bereits die Frage gestellt, wie die Identität des Erklärungsmusters bei gravierenden ontologischen Differenzen möglich sei. Die vorangehende Darstellung der formalen Ähnlichkeit der Kausalitätstypen macht ihre Beantwortung verständlicher. Die Beachtung der ontologischen Differenz zwischen Natur und Geschichte verbietet die Anwendung des formalen Kausalitätsbegriffes als universell gültige Gesetzmäßigkeit. Man kann also nicht zugleich ontologischer Dualist und methodologischer Monist sein. Geht man von der ontologischen Differenz zwischen Natur und Geschichte bzw. Gesellschaft aus, muss man die für das jeweilige Gebiet geeigneten Methodologien anwenden.

Kausalität und Gesetz bzw. kausale Erklärung durch Gesetz wären identisch, wenn das Gesetz alle potentiellen kausalen Faktoren erfassen würde, die ein Phänomen verursachen. Doch ein Gesetz gilt nicht für einzelne Phänomene, sondern für einen Phänomentyp. Jedes Geschehen hat außer den typischen auch spezifische Aspekte, die in der besonderen Perspektive des Gesetzes außer Betracht bleiben: Der Apfel fällt vom Baum kraft Gravitationsgesetz, aber auch, weil der Baum geschüttelt wird. Das Schütteln stellt eine vom Gesetz unabhängige Ursache dar, welche die Unterordnung des Phänomens »Fall eines Apfels« unter das Gravitationsgesetz vermittelt.

Wenn man zur Erklärung von Handlungen Gesetze des Handelns heranzieht, wie z.B. das Gesetz einer stabilen psychischen Disposition, dann kann das Gesetz z.B. nicht jene Fälle erfassen, bei denen der Handelnde ungeachtet äußerer oder innerer Zwänge »gegen jede Vernunft« handelt. (SO 174) Die Abweichung vom dispositionellen Gesetz wird durch das Dazwischentreten einer besonderen Kausalität bedingt, ebenso wie in anderen Fällen eben eine andere besondere Kausalität die Wirkung des Gesetzes ermöglicht. »Dies geschieht aber in konkreten Fällen, nicht immer und überall; Disposition ist daher Ursache dieser oder jener Handlung, nicht Gesetz des Handelns überhaupt.« (SO 174; m. Herv.) Das nomologische Erklärungsmodell kann höchstens manche notwendigen Bedingungen beschreiben, die allerdings für die Erklärung historisch-sozialer Phänomene nicht ausschlaggebend sind.

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