Ulrich Schödlbauer

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»Die einschneidenden Erlebnisse der Kindheit sind in den seltensten Fällen die lauten. In der Regel bewahrt sogar die unmittelbare Umgebung keine Erinnerung daran und ist sehr überrascht, wenn man einmal etwas davon zum Besten gibt. Ich erinnere mich an eine Sportstunde, in der ich buchstäblich aus allen Wolken auf den harten Boden der Turnhalle fiel, weil ich mein Gewicht an den Ringen zur Unzeit verlagert hatte. Das trug mir eine Gehirnerschütterung sowie die Ermahnung des Arztes ein, vierzehn Tage lang das Bett zu hüten und den Kopf ruhig zu halten. Vierzehn Tage sind eine lange Zeit. Nach drei Tagen war die Geduld der Frau restlos am Ende. Sie befahl mir aufzustehen und ›an die Arbeit zu gehen‹ (was genau sie damit meinte, ist mir nicht erinnerlich). Von diesem Tag datiert ein anderer lebenslanger Begleiter: der Kopfschmerz. Auf mysteriösen Wegen verband sich mein kindlicher Kopfschmerz mit dem in jener Weltecke häufigen Regenwetter, das mich daran hinderte, meinen verhassten gärtnerischen Pflichten nachzukommen. Eine willkommene Kombination, sollte man meinen, wäre der Kopfschmerz nicht echt gewesen, nur eben vergeblich, solange die Sonne schien und die Welt trocken blieb. Von heute aus betrachtet, lernte mein notorisch unterbewerteter Kopfschmerz, auf jedes am Himmel erscheinende Wölkchen zu lauern, um loszupreschen. ›Migräne‹ lautete dann auch das Zauberwort meiner Jugend, für eine diffuse Sache Schonung verlangend, die manchmal gewährt wurde, manchmal hingegen nicht.«

»Damit wir uns richtig verstehen: die Migräne erlöste Sie von der ungeliebten Pflicht, Ihre Nachmittage mit Unkrautjäten und Obstpflücken zuzubringen? Sie besaß demnach eine Art Schutzfunktion für Sie?«

»Wenn man davon absieht, dass ich nicht zu knapp unter ihr litt, ist das richtig. Aber was bedeutet das? Es bedeutet, dass mir, wie so vielen Mitmenschen, als Kind eine Art Liebe zum Leid eingepflanzt wurde. Sie hat sich im Laufe meines Lebens facettenreich bewährt. Zum Beispiel auf jener Insel: Die Feuchtigkeit der Höhle verband sich mit dem allgemeinen Inselklima, um mich davon abzuhalten, die kaum, jedenfalls auf friedliche Weise, aufzulösende Friktion allzu intensiv zu durchleben. Ich war, wenngleich auf wenig angenehme Weise, mit mir selbst beschäftigt.«

»Und das ist der Grund…?«

»Gründe, mein Lieber, sind Schall und Rauch. Was gerade noch Grund war, ist auf einmal Folge und umgekehrt. Irgendwann ist auch die längste Kindheit zu Ende und das Gefängnis steht offen. Erst später realisieren Sie den Klotz am Bein, den Sie in die Freiheit mitgenommen haben. Wenn Sie nicht aufpassen, bewegt er Sie dazu, neue Gefängniskonstellationen herzustellen, die verblüffend der kindlichen ähneln, nur dass Sie es jetzt sind, der im Hintergrund die Fäden zieht und dafür sorgt, dass alles wieder so aussieht wie damals, nur eben erwachsen. Nicht dass Sie damit allein wären. Ihr ganzes Verhalten ist seinem Wesen nach reaktiv, geprägt von einem feinen Sensorium für Spannungen, die andere gern ›subkutan‹ nennen, weil sie nicht allzu viel davon mitbekommen. Sie hingegen, Sie bekommen alles mit, Sie hören das Gras wachsen…«

»Eine gefährliche Metapher…«

»Oh ja. Aber ich will hier nicht die Geschichte meiner verflossenen Beziehungen vor Ihnen ausbreiten. Es wäre auch ungerecht, denn in dem Zustand, in dem Sie mich vor sich sehen, fände ich jedes erwähnenswerte Detail daran zum Kotzen. Ich will diesen Zustand auflösen, ganz recht, und aus irgendeinem Grund neige ich zu der Überzeugung, dass der wahrhaft üble Geschmack in meinem Mund, wie schon einmal, mich auf die richtige Fährte bringt. Und diese Fährte führt, wie Sie sahen, geradewegs zurück in die Kindheit. Ich werde also, wenn es Ihnen recht ist, die Zahl der Elemente vergrößern, die mit von der Partie sind. Dieses Ufer, an dem wir gerade entlang wandern, liebe ich, seit ich es für mich entdeckt habe. Und wissen Sie, was geschah? Eines Tages hatte ich jenen Geschmack im Mund und musste mich fragen, ob ich nicht den feinen Wasserdampf, der über diesem Fluss steht, in seinen Auswirkungen auf meine Lunge und mein Wohlbefinden sträflich unterschätzt hatte. Da war sie wieder, die Umkehr – die Verwandlung eines Glücksortes in einen Ort der Qual.«

»Eine Frage müssen Sie mir gestatten. Wenn Sie wissen, dass dieses Amalgam aus Höhlenfeuchtigkeit und Seeluft, das Ihren Gaumen, wie Sie sagen, okkupiert und Ihnen das Atmen schwer macht, in Wahrheit eine Erinnerung ist und keineswegs das, was dieser Fluss, dürfte er in seiner natürlichen Sprache zu Ihnen sprechen, Ihren Sinnen darböte, wenn Sie das wirklich wissen, wie kann dann dieses Wissen zusammen mit der Sinnestäuschung bestehen, der Sie unterliegen? Das habe ich nicht verstanden.«

»Der Gedanke ist mir fast zur gleichen Zeit gekommen. Zuerst einmal: Warum bin ich mir auf einmal so sicher, dass es sich um eine Täuschung handelt? Offenbar deswegen, weil dieser ›Geschmack‹, um ihn so zu nennen, obwohl es sich eher um einen Geruch handeln müsste, ginge alles mit rechten Dingen zu, wann immer er auftritt, mit der gleichen Intensität und vor allem in der gleichen Zusammensetzung auftritt, so dass mein Körpergedächtnis bereits Bescheid weiß und gewissermaßen voreilend die Haltung demütiger Beklommenheit einfordert, in der die einfachsten Körperfunktionen plötzlich zur Dysfunktionalität neigen, so dass ich mich nicht mehr auf sie verlassen kann.«

»Was Sie da sagen, klingt verrückt, komplett verrückt. Wollen Sie nicht doch einen Arzt aufsuchen?«

»Sie meinen, wenn es sich um eine Form der Besessenheit handelt, dann soll man auch nach den entsprechenden Mitteln greifen?«

»Ich kann es auch so sagen: Wenn Sie den Teufel im Leibe haben, wie es mir langsam vorkommt, dann wäre eine kleine Teufelsaustreibung doch das Gegebene.«

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