Sich zu erinnern
ist die Sendung
des Menschen
auf Erden
Gerard de Nerval
Bewußtseins-Welt A MEER
Zweite Stufe der Entstehung
Unterbringungen
Gliederung der zweiten Stufe
I Laubegast
II Plauen
III Sächsische Schweiz
IV Coswig
V Radebeul
Meer |
Unterbringungen |
I LaubegastI |
I/1 Haus Nr. 1 |
Tafel A II / 1 - 7
L A U B E G A S T
1 9 4 7
Haus Nr. 1
das rote linoleum
glänzt wie speck
das bohnerwachs trocknet nicht
die nackten füße kleben
auf der treppe fest
ihr abdruck verrät uns
wir mißachten die rutschgefahr
übertreten das übertretungsverbot
und überspringen die stufen
Klix
der hauswirt umschleicht uns
lauert uns auf
er schlägt nach uns
mit dem springseil
zersticht den ball
wir hassen ihn
schreiben seinen namen
auf hauswand und fußweg
er verflucht uns
wir lachen ihn aus
o wie wundervoll
ihm zu entkommen
er hat ein holzbein
Kronstädter Platz
ein springbrunnen
schmückte einst
die mitte des platzes
geblieben ist
eine mit sand
gefüllte rotunde
hinter der brüstung
verbergen wir uns
vor den menschenfressern
Endhaltestelle
ein kleiner junge
steht an der haltestelle
und weint
er wartet seit tagen
auf seine mutter
vergeblich
die leere straßenbahn
kehrt an der endstation um
und fährt zurück
Elbe
der fluß fließt nicht
er schiebt seine unflüssigkeit
vor sich her
schwarze wollhandkrabben
überkriechen die böschung
zwischen brackwasser und schlick
leichte zillen treiben stromab
schwere zillen ziehen stromauf
auf einem schleppkahn wär ich gern
Christine
sie ist zwei jahre älter als ich
trägt ihr haar zu einer rolle gedreht
die ein kamm zusammenhält
mir kommt sie vor wie ihre puppe
ich verspüre lust sie auseinander zu nehmen
sie gehört zum haushalt ich nicht
wer ich bin ist ihr egal
bis sie in die schule kommt
so lernen wir schreiben und lesen
irmchen schöneiß
die fotos an der wand
über dem küchensofa
zeigen ihre beim bombenangriff
umgekommenen angehörigen
ihr teil ist das leid
sie ist eine schmerzensfrau
des stummen kummers
bleich und gut
grabsteinern aufgerichtet
in ihre qual
ragt das mahnmal
verklärten hinterbliebenenseins
Meer |
Unterbringungen (Tausend TantenKinderheim) |
II Plauen |
II/1 Verbrüht |
Tafel A II / II / 1 - 5
P L A U E N
1 9 4 8
Verbrüht
übereinander
stuhl fußbank kocher
im topf das wasser brodelt
ich turne auf dem sessel
stoße topf und kocher um
verbrühe mir die hand
so groß der schmerz
so laut mein schrei
kurzschluß der seele
Vaterlos
dein vater war im krieg
dein vater ist vermißt
dein vater wird für tot erklärt
erklär das einem kind
sein bruder ist wie er
sein bruder gleicht ihm sehr
sein bruder ein guter vater wär
erklär ihm was ein vater ist
Werkstelle
ineinander gestürzte häuser
zusammengesackte stockwerke
aufgesprengte keller
dazwischen freigeschaufelt
von trümmern und schutt
der weg zur werkstelle
in sägemehl und hobelspäne
der tischlermeister
ich bring ihm sein mittagessen
er repariert meinen holzroller
Weißeritz
bystrica sorbisch
schnelles wildes wasser
deutsch weißeritz
die rote entsteht
nähe rabenauer grund
die wilde bei tharandt
ab hainsberg vereint
sie durchfließt
das döhlener becken
tritt in den
plauenschen grund ein
am ende des engtals
hinter cotta
mündend in die
dresdner elbe
_______
oben im erzgebirge
sprengt sie mit wucht
steine
später im grund
noch munter
schäumendes gewässer
schließlich unten
völlig verausgabt
im größeren flußlauf
sich verlierend
_______
gemalt hat sie dahl
„ Ballonjux “
als bei einem
der obligaten freundschaftstreffen
junger pioniere
mangels richtiger luftballons
hunderte mit gas
prall aufgeblasener präservative
in den halstuchblauen
sozialistischen zukunftshimmel
aufstiegen
mit den heißesten kampfesgrüßen
an alle friedliebenden kinder
der welt
da war erster juni kindertag
auf der zwickauer straße
Meer |
Unterbringungen |
III Sächsische |
III/1 Kinderheim |
Tafel A II / III/ 1 - 5
S Ä C H S I S C H E S C H W E I Z
1 9 4 9
Kinderheim
aber auch gar nichts mehr
weiß ich von pirna
ich erinnere mich nicht
es war ein kinderheim
vielleicht das frühere
katholische kinderhaus
gut zu sehen über der stadt
die ehemalige tötungsanstalt
pirna – sonnenstein
Dienstabteil
das wochenende verbringe ich
bei der mama in bad schandau
ich werde zum bahnhof gebracht
beim fahrdienstleiter abgegeben
im dienstabteil eingeschlossen
nach ankunft abgeholt
_______
einmal gehe ich
verloren
zug und gleise und der bahnhof
werden nach mir abgesucht
noch so ein wort
kindertransport
Dampfschiffhotel
der balkon
zur elbseite
ist kurz und schmal
das zimmer
sehe ich
nicht vor mir
einen kaffeelöffel
aus dem hotel
besitze ich noch
Weiße Flotte
an und ablegen
den stemmbaum hieven
in den flußgrund bohren
das seil ums querholz schlingen
jünglinge schwimmen heran
sitzen auf dem gestänge
vor den schaufelrädern
der dampfer wendet
vor pillnitz eine insel
eine vor gauernitz
unter den dresdner brücken
wird die esse umgeklappt
wir wähnen uns auf dem mississippi
der stemmbaum hieß bundstake
das manöver bundstaken setzen
Barbarine
der sage von der versteinerten
jungfrau entgegen steht
der fels zu männlich da
mahnend erhobener zeigefinger
der mit einem globus balanciert
trifft es schon eher
schwindel befällt mich
sehe ich die kletterer
freihändig auf der kuppel stehen
Meer |
Unterbringungen |
IV Coswig |
IV/1 Gebiß |
Tafel A II / IV / 1 - 9
C O S W I G
1 9 5 0 - 1 9 5 2
Gebiß
als der alten frau seiler
beim reinigen der örtlichkeit
ihr zahnersatz in dieselbe plumpste
da kam der nachbar herr gründel
und schöpfte die senkgrube aus
drei tage und nächte
stromsperre mitgerechnet
wurde die prothese ausgekocht
und die alte frau seiler
hatte ihr gebiß wieder
Fremdenheim
sie kamen abends
sie gingen morgens
woher wohin
erfuhren wir nicht
sie wärmten das zimmer
mit ihren geschichten
wir hörten zu
bis alles erzählt war
es gab weder abschied
noch wiedersehen
sie kamen zu gast
sie gingen ins fremdsein
R
nach krieg und gefangenschaft
heimgekehrt
denunziert verurteilt
und wieder eingesperrt
anwesend im abwesendsein
richtete sich seine ganze familie
im denken und handeln
nach seiner person
die regulierende
entscheidungsgrundlage
dieser herrschaftsbeziehung
war seine autoritäre staatsliebedienerei
straferlaß auf bewährung
eine anstellung auf probe
und siehe aus ihm wurde
ein neuer mensch
Wir
wie lebten wir
kein orden
keine bruderschaft
keine gemeinde
von allem etwas
preußisch
schlesisch
sächsisch
biblisch
christlich
sozialistisch
herrnhuthisch
vor allem
_______
uns trennten keine
unterschiede
kein erwachsener
trat uns zu nahe
wir waren hochwohlgeborene
unserer selbst
teilten notgedrungen
unser aufeinander angewiesensein
verbaten uns jede einmischung
in die von uns herausgenommene freiheit
und verteidigten den anspruch
auf ein himmelreich der kindheit
Spiele
und wie wir spielten
zeitlose spiele
von langer hand vorbereitet
brachen wild
und ungebärdig hervor
wir wetteiferten
alle wollten siegen
ungerecht ging es zu
falschspieler unter uns
im spiel nahm uns
das leben vorweg
gab uns im nachhinein
als echo zurück
ich wußte nie
in welcher welt ich spielte
weil ich spielend
es vergaß
unerspieltes weltenspiel
Gartenfest
„Die Idee der Menschheit,
die Idee einer vollkommenen Republik,
eines glückseligen Lebens u. dgl. m.
fehlt den meisten Menschen -
Viele Menschen haben keine Idee
von dem was sie wollen...“
Kant
wir wußten was wir wollten
und wir verfuhren nach instinkt und talent
wir banden stangen zusammen
errichteten einen turm aus leitern
hingen schaukeln in die äste
spannten seile zwischen den bäumen
deuteten mit tüchern und planen eine arena an
und schlugen lärm
tuteten durch papptrichter
paukten auf leeren eimern
klapperten mit topfdeckeln
veranstalteten ein riesentamtam
und begannen mit der vorstellung
wie im rausch
turnten und tanzten
kletterten und sprangen wir
jonglierten mit äpfeln
balancierten aufeinander
liefen auf händen
standen kopf
schlugen das rad
„Will man auf einmal
und vollkommen den Eindruck
menschlicher Möglichkeit haben,
man gehe in den Zirkus.
Zirkus ist etwas aus Kunst
und kindlicher Demokratie.
Man muß es lieben.
An Zirkus zu denken
erfüllt schon mit ungebundener Sehnsucht.
Der Zirkus ist die Organisationsform
menschlichen Spielens.“
sagte der ehrbare ohm
in seinem dankwort
wir feierten des würdigen
alten achtzigsten
Kino
Sonntag Zehn Uhr
Kindervorstellung
Einheitspreis
Auf allen Plätzen
Fünfundzwanzig Pfennige
_____
Am Einlaß
Riesenandrang
Dreifache
Schulklassenstärke
Rempelt Rammelt
Sperrsitz oder Rasiersitz
Dreifacher Gong
Licht aus
Vorhang auf
Schwarzweiß
Wildost
Russenfilm
am ufer des don
tränken kosaken
ihre pferde
in der steppe
lagern kasachen
das feuer ist aus
am horizont
ein grauer streifen
budjonnys reiterei
über der wolga
geht die sonne auf
ein trompetensignal
eröffnet die schlacht
protiv vraga
gegen die feinde
ein hinterhalt
tatschiken
verkleidet
als tataren
metzeln meucheln massakrieren
turkmenen
verkleidet
als kalmücken
aus den dünen
tauchen tscherkessen auf
ihre zottigen
fellturbane
hat der rotgardist
längst entdeckt
er eröffnet
das feuer
der kommissar
mit seiner mauser
reißt den ataman
vom sattel
beide erschießen sich
gleichzeitig
_____
gekämpft wird mit säbel
revolver gewehr
zu pferd zu wagen
zu fuß
von dreizehn soldaten
der letzte
sieht sterbend
die siegreiche
verstärkung nahn
und tränkt
mit seinem blut
die fahne
Restlos erschöpft
Doch überglücklich
Verließen wir Sonntag
Für Sonntag das Kino
Im Abspann sang
Die Eskadron
Das Lied der
Partisanen vom Amur
Kopatz
editha
die nonne
ihre lebenspraxis
war entleibung
ihre seele
war leer
das loch
in ihrem herzen
verstopfte sie
mit gott
irmi
die magd
was sie anpackte
gelang ihr
ihre geschicklichkeit
war mit händen zu greifen
sie genoss ihre lust
am tätigsein
sie war eine
„sonnenverbrannte
tochter der arbeit“
abutha
die dirne
sie war stets mütterlich
um sich besorgt
an ihrem wohlbehagen
schien ihr sehr gelegen
ihre natur verlangte
nach bequemlichkeit
sie verstand sich
aufs zufriedensein
und
sie verströmte glück
Fotograf
bücher türmen sich
die regale hinauf
negative bedecken
tische und fußboden
der samowar
geht nicht
vor mitternacht aus
_____
in morschem mobiliar
harren sie aus
beim kleinsten fehler
wird verdacht geschöpft
entdeckt zu werden
die angst wiegt schwer
_____
sie blenden aus
was nicht ins bild passt
die wahrheit verschwindet
hinter dem passpartout
sie retouchieren
ihre existenz nach bedarf
_____
vergangenheit
was sie fotografierten
zukunft
was unbelichtet blieb
gegenwart
leben
in der dunkelkammer
_____
Meer |
Unterbringungen |
V Radebeul |
V/1 Theater |
Tafel A II / V / 1 – 4
15.OKT – 29. NOV 2021
UNTERSCHÜPF