Ulrich Schödlbauer

Ein anderes Beispiel. Angenommen, die Regierung des Landes, in dem Sie zur Wahl gehen und Ihre Steuern entrichten, leistet sich einen Aussetzer – so etwas soll vorkommen. Regierungen kommen und gehen, die Konkurrenz schläft nicht, jeder Präsident setzt neue Schwerpunkte… Da kann einer schon einmal die Binsenweisheit entfallen, dass die oberste Aufgabe eines Staates darin besteht, das Leben und die Interessen seiner Bürger effektiv zu schützen. Wie gesagt, es ist nur ein Beispiel. Die Regierung vergisst diese Aufgabe einfach. Vielleicht finden ihre Planungsstäbe, die Ausgaben für Polizei und öffentliche Dienste seien nicht gerechtfertigt, das Geld gehöre zurück in die Taschen der Bürger, die damit besser umgehen könnten, vielleicht führt die Administration lieber kostspielige Kriege und lässt darüber die zivile Infrastruktur des Landes verfallen… Wie auch immer. Was geschieht? Es dauert nicht lange und ihre Organe sehen sich einer Riege von juristisch hochgerüstetem Personal der, sagen wir, zwielichtigen Art gegenüber, das normalerweise für der Halb- und Unterwelt zugerechnete Interessen streitet, darunter Menschenschmuggel, Menschenhandel, Drogenhandel, Prostitution, Autodiebstahl, illegale Beschäftigung, Kleinkriminalität, Auftragsmorde und, wenn es schon auf der Linie liegt, den von Zeit zu Zeit hervorbrechenden Terror religiös übermotivierter Kleingruppen oder Einzeltäter. Nehmen Sie, was Sie wollen: Mir geht es hier bloß ums Prinzip. Es entsteht eine seltsame Situation. Während die unteren Behörden ihre Pappenheimer zu kennen meinen, fällt es der legal eingesetzten, von den Bürgern gewählten Regierung unendlich schwer, das sich breitmachende Verbrechen unter der in Anspruch genommenen Maskerade von Menschen- und Bürgerrechten zu erkennen – nicht zuletzt deshalb, weil besagte Interessenvertreter bereits aller Welt weisgemacht haben, sie verteidigten bloß jene Rechte und die oberste Aufgabe des Staates bestehe praktisch in nichts anderem als ihrer Wahrung weit über den bisher gezogenen Rahmen hinaus. Aber es sind auch andere, weniger offensichtliche Gründe im Spiel.

Angenommen also, der Staat weicht vor diesen Leuten zurück: Er beginnt seine Statistiken zu fälschen oder zu ›bereinigen‹ oder so lange umzustellen, bis sie jedem, der es wissen will, unwiderleglich zeigen, dass die Ganoven die wahrhaft gesetzestreuen Bürger des Landes stellen und die Unbescholtenen im Grunde nichts weiter sind als ein Haufen potenzieller Brandstifter, Sexualmörder und Steuerbetrüger… Dann bekommen Sie eine Situation, in der die Hälfte der unbescholtenen Brandstifter, Sexualmörder und Steuerbetrüger es mit der Regierung und ihren Statistiken hält, während die zweite Hälfte sich ausklinkt – sie hält die Regierung für verrückt.

Ein Teil vergräbt sich ins Privatleben, während der andere Teil zu protestieren beginnt… Ich will mich über Mittel und Wege dieses Protests nicht auslassen. Auffällig, wenngleich nicht unverständlich, ist, dass alsbald – sagte ich ›alsbald‹? – besagte Regierung, Hand in Hand mit besagten Interessenvertretern, alles daransetzt, den Protestierern zu beweisen, sie hätten keinerlei Recht zu protestieren, denn das, was im Lande vorgeht, gehe sie überhaupt nichts an. Schließlich sei keiner der Protestierer selbst Verbrechensopfer geworden. Falls doch, handle es sich um einen bedauerlichen Einzelfall und aus der Statistik gehe eindeutig hervor, dass die Aussicht der anderen, bald Opfer zu werden, verglichen damit, auf der Straße vor ein Auto zu laufen oder sich beim Anbringen der neuen Gardinenstange im Wohnzimmer ein Bein zu brechen, außerordentlich gering sei. Ich habe den Vorgang in vielen Ländern beobachtet. Nichts zerstört leichter den Gemeinsinn als die behördlich abgesicherte Frage: ›Und was geht dich das an?‹ Dabei ist es die Frage aller Fragen.

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